τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Sonntag, 16. Januar 2022

In der Metaphysik lesen (1076b 19 – 38)

12. Jänner 2022

 

Aufgrund meiner Milieukenntnis sage ich, daß sich Wolfgang Koch mit seiner regelmäßigen Ersetzung des Namens „Aristoteles“ durch „den Stagiriten“ selber markiert: als Kenner seit jeher und Inhaber des totalen Überblicks.

 

Zu den drei ironisch so genannten Gestirnen des aristotelischen Denkens bemerke ich, daß diese Charakterisierung des aristotelischen Habitus eine diskutierbare Annäherung an die Sache ist.

 

Subjektive Beobachtungen: jedwede Beobachtung ist notwendigerweise „subjektiv“, gleichzeitig immer auch schon objekthaltig, sofern die äußeren Sinne ein „etwas“ erfassen; sie kann aber verglichen, kritisiert bzw. erweitert werden in Richtung intersubjektiv und objektiv.

Leser: eben durch Lesen können „subjektive“ Beschränktheiten aufgehoben werden.

 

Gemeinplätze: gehen ebenfalls in diese Richtung, verbleiben aber mehr oder weniger im Heimischen. Lesen hilft da heraus.

 

Kritische Beobachtungen an Aristoteles sind natürlich nützlich, müssen aber nicht von einer eingebildeten Souveränität aus durchgeführt werden.

Man kann die drei Feststellungen auch in die Richtung deuten, daß Aristoteles sich nicht für den Weltgeist gehalten hat, sondern seine Position als eine endliche formuliert. Daß er sich nicht für einen Avantgardisten und auch nicht für den Endpunkt der Geschichte gehalten hat.

 

Wolfgang Koch wendet gegen die einigermaßen tautologisch klingende  Aussage, die einfachen Bestandteile gehen den Zusammensetzungen voraus, zwei Beispiele von „Zusammensetzungen“ ein, die sich einer solchen Zerlegung nicht fügen würden: nämlich die der Familie sowie die des landschaftlichen Himmels, bei denen die aristotelische Behauptung ins Absurde gehen würde. Doch jene Behauptung, wie apodiktisch sie auch auftritt, bezieht sich nicht auf alles und jedes – obwohl sie im  Buch namens Metaphysik auftritt. Sondern auf den Gegenstandsbereich der mathematischen Entitäten (bei Aristoteles eher ein seltenes Thema).

Und nur für diesen Gegenstandsbereich macht er hier seine Aussagen, welche – nach Aristoteles – wahr sein sollen. (Übrigens können und sollen in erster Linie Aussagen wahr sein – und nicht etwa Begriffe. Wenn in der europäischen Tradition die Wahrheitsforderung an Begriffe gestellt worden ist, dann liegt genau darin der Fehler sowie die Quelle des von Wolfgang Koch monierten „Wortaberglaubens“. Auf den wiederum hat Fritz Mauthner mit seiner nominalistischen „Kritik der Sprache“ reagiert, die so etwas wie „Begriffe“ strikt leugnet.)

 

Das heißt, es handelt sich um eine Fehllektüre, womit die Frage aufgeworfen ist, ob auch das Lesen, in diesem Fall das Aristoteles-Lesen, unter einem Anspruch von Wahrheit, jedenfalls von hermeneutischer Richtigkeit steht.

Wolfgang Koch stellt in seiner Lektüre den Aristoteles sehr wohl unter einen Anspruch, wenn schon nicht unter den der philosophischen Wahrheit, so doch unter den der intellektuellen Redlichkeit – und bescheinigt ihm mehrere Arten von „Schlampigkeit“.

Andererseits formuliert er eine extrem „liberale“ Auffassung von Textlektüre und bekennt, er halte eine Aristoteles-Lektüre schon dann für gelungen, wenn sie – für ihn - „anregend“ ist, ihn also zum Denken bewegt. Das mag als Erfolgserlebnis durchaus interessant sein und zum Denken gehört tatsächlich auch eine wilde mentale, begriffliche oder bilderreiche Bewegtheit.

Aber genau genommen schließt sich Wolfgang Koch mit seinem freimütigen Bekenntnis aus dem Kreis der wissenschaftlichen Aristoteles-Leser aus, die das Geschriebene, vermutlich Gedachte, erkennen wollen, „so wie es ist“ – denn das heißt „erkennen“.

 

Auch das Lesen, Verstehenwollen und Nachformulierenkönnen gehört zum Denken, daher fragen wir uns, wie wir sagen können, was Denken ist.

Denken als Tätigkeit, als Leistung, als Vorgang – aristotelisch oder bei uns, für uns hier und heute. Wir finden Denkaspekte im Aufnehmen, Ergriffenwerden, Reflektieren, Spekulieren, Kombinieren, Problemlösen, Bestimmen, Urteilen – was wohl alles in Richtung „Erkennen“ gehen kann, zumindest kann. Das setzt zum einen so etwas wie Subjekte des Denkens voraus, wie Wolfgang Koch postuliert, zum andern auch Objekte, die erkannt werden oder werden sollen.

 

Dies aber ist genau das, was Fritz Mauthner mit seiner nominalistisch-kritizistischen „Erkenntnistheorie“ für unmöglich  erklärt. Und über den „berühmten Realismus“ des Aristoteles macht er sich lustig (überhaupt macht er sich hauptsächlich lustig). Wobei er sich gelegentlich auch über die vielleicht abstruseste Aristoteles-Divinisierung im Berlin des 17. Jahrhunderts lustig macht.

 

Nicht so einen Lustgewinn sollten wir durch das Aristoteles-Lesen anstreben, sondern den ernsthafteren, den kognitiven, der darin besteht, dieses schwierige, oftmals in sich selber unklare Buch mitsamt seinen Inkonsequenzen und Brüchen verstehen zu können.

Wenn sich jedoch unser Aristoteles-Lesen zusätzlich in Richtung künstlerischer Produktion entwickeln, entfalten würde und dafür auch bestimmte prägnante Formulierungen finden würde, wenn es in künstlerische Formfindungen explodieren und auskristallisieren würde, dann würde uns das wohl gefallen dürfen – aber ich rede von „würde“, weil dieses „würde“, das meines Erachtens am ehesten in bezug auf das „Unbewegt-Bewegende“, das gedachte, das begehrte, das geliebte, in Betracht kommen würde, wohl noch ferner aussteht als eine hermeneutische Weiterschreibung des etwas wirren Textes, der in der Tat, wie auch Mauthner gespürt haben könnte, und viel präziser und konstruktiver Lacan, eine eher schwache und noch wirrere Nachgeschichte erduldet.

 

Nach dem angeblichen oder wirklichen Höhepunkt, der Theologie im Buch XII, begibt sich die Metaphysik auf ein anderes Themenniveau; sie kommt nämlich auf die Frage, ob die mathematischen Entitäten überhaupt sind und wenn ja, wie sie sind. Tieferes Themenniveau? Die mathematischen Entitäten, arithmetische und geometrische, sind für Aristoteles Ausfaltungen eines einzigen der neun Akzidenzien, nämlich der Quantität – die allerdings von Pythagoras als die wichtigsten Wirklichkeitsaspekte gefeiert worden waren.

Einen ähnlich harten Übergang vom vollkommensten Wesen zum Akzidenziellen kann man im Buch XI zwischen dem 7. und dem 8. Abschnitt beobachten – aber nur wenn man bereit ist, das Buch XI zu lesen, welches nach Ansicht der deutschen Aristoteles-Koryphäen nur aus Wiederholungen besteht (doch Aristoteles fabriziert Wiederholungen, um irgend etwas Neues vorsichtig sichtbar zu machen).

 

Und was jetzt die Seinsweise der einzelnen geometrischen Bestandteile betrifft, so kann sie nur eine einfache, eine nur gedachte und nicht selbständige sein, nicht selbständig – aber früher im Sinne von vorausliegend, vorausgesetzt, eben gedacht und denknotwendig.

 

Würde man diese mathematischen Bestandteile als existierend annehmen, so würden sie eine unaufhörliche Selbstvermehrung in Gang setzen, denn sie müßten ja jeweils neben einander, außerhalb von einander existieren - das lateinische Wort faßt dieses partes extra partes, das im Griechischen mit symbainein=akzidieren und para=neben ausgedrückt wird, in ein Wort zusammen.

 

Zum Schluß liest Karl Bruckschwaiger aus dem Aristoteles-Handbuch das Kapitel von Dominik Perler über Anti-Aristotelismus als treibende Kraft in der frühneuzeitlichen Transformation der Naturwissenschaften vor. Damals wurden speziell „Stoff“ und „Form“ als überflüssige Begriffe, die die Konzeption der Körper behinderten, ausgeschieden (S. 443-445).

Allerdings ist auch bei Aristoteles klar, daß diese beiden hylomorphischen Bestandteile genau so wenig „existieren“ wie die geometrischen Bestandteile des Quadrats, die ebenso vier Dreiecke wie auch vier Quadrate sein können. Doch gilt die Existenz von Stoff und Form bei Aristoteles-Lesern bis heute als aristotelisch (wie Sophia Panteliadou bezeugt).

 

Walter Seitter

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen