τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 30. Januar 2022

In der Metaphysik lesen (1077a 1 – 14)

26. Jänner  2022

 

Wenn Aristoteles jetzt versucht, die Seinsweise der mathematischen Entitäten zu bestimmen, so wendet er sich einer Wissenschaft zu, von der er weiß, daß sie älter ist als die Griechen, folglich auch älter als die Philosophie, und daß sie geographisch anderswo ihre Anfänge hatte. In seiner eigenen Wissenschaftsklassifikation gehört sie zu den theoretischen Wissenschaften, unter denen sie jeweils an zweiter Stelle gereiht wird, nach der Physik und vor der sogenannten Theologie. Der Ehrentitel der Philosophie bleibt ihr versagt, der Grund dafür kommt in den momentanen Überlegungen zur Sprache: es feht ihr an Realitätsgehalt, genauer gesagt: an Existenzvermögen. Dem gegenüber bekommt die Physik den Titel einer „Zweiten Philosophie“. Während die drittgereihte Theologie zur „Ersten Philosophie“ ernannt wird.

Aristoteles operiert also mit Nummerierungen, die nicht unbedingt als Benennungen taugen.

 

„Erste Philosophie“ scheint dennoch als Benennung geeignet zu sein, weil die Titulierung als „Theologie“ nicht ganz ernstgenommen werden kann: nicht einmal zehn Seiten von über dreihundert sind der theologischen Thematik gewidmet.

 

Fast alle anderen lassen sich eindeutig einer Thematik zuordnen, für die Aristoteles keine Benennung, wohl aber die Umschreibung „Wissenschaft vom Seienden als seienden“, einführt. Aber er kann sich kaum dazu durchringen, die theologische und die ontologische Thematik deutlich zu unterscheiden – am ehesten noch im neulich erwähnten Buch XI.

Die von Aristoteles hinterlassene Textmasse, welche diese Titelnot sowie auch andere Zeichen der Nicht-Vollendung trägt, ist dann 300 Jahre nach seinem Tod notdürftig geordnet sowie mit einem Titel versehen worden: Metaphysik, welcher nun seit 2000 Jahren sein wechselhaftes Eigenleben führt und den ohnehin schwierigen Text in Geiselhaft genommen hat.

 

Derjenige, der das mit größerer Deutlichkeit als die professionellen Aristotelesexegeten gesehen und gesagt (also gedacht) hat, ist der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, den in ich in meinem Buch zitiere.[1] Er verweist auf das übermäßige Mißverhältnis zwischen Bezeichnen und Bedeuten, welches die Metaphysik mehr und mehr zu einem Monstrum hat werden lassen, das als solches gesehen werden muß, um überhaupt noch etwas zu zeigen.

 

Die erwähnte Hauptthematik des Werkes hat dann noch einmal ein paar Jahrhunderte später, um 1600 nach Christus, von einigen deutschen Gelehrten den Titel „Ontologie“ bekommen – sodaß sich in diesem Buch zwei unbescheidene Thematiken und sogar zwei postaristotelische Titel den Textraum streitig machen.

 

Sie überspannen auch den Charakter des Theoretischen beziehungsweise sie können nicht verheimlichen, daß Theorie notwendigerweise auch nicht-theoretische Voraussetzungen hat – nämlich praktische und poietische Dimensionen, die Aristoteles anderen Wissenschaftsgattungen zuweist. Die minimale praktische Voraussetzung der Theorie heißt schlicht gesagt Neugierde, die poietische ist die Formulierung – und diese beiden drängen in der sogenannten Metaphysik zum Erscheinen, obwohl sie vom Text offiziell unter Verschluß gehalten werden. (Anregungen in dieser Richtung habe ich bei Rainer Marten: Denkkunst. Kritik der Ontologie gefunden)

Wenn unsere Lektüre sowohl für die Neugierde wie auch für die Formulierung ein Gespür entwickelt, könnte sie in der langwierigen Geschichte der Metaphysik einen Ruck ermöglichen.

 

Weiter lesend sehen wir, daß Aristoteles auf die 5. Aporie im Buch III zurückgreifend (dieses Buch hat das gesamte Werk im Aporien-Modus entworfen und es ist immer noch die Frage, ob das Werk aus diesem Modus herauskommt), daß er also von der Seinsweise der mathematischen Entitäten zu den Entitäten der Astronomie übergeht, das sind die Himmelserscheinungen, die mathematisch behandelt werden, aber dennoch tatsächlich existierende Gegenstände sind – allerdings hält Aristoteles sie für ewig und göttlich, weil sie von der Erde so weit entfernt seien.

 

Die mathematischen Entitäten, denen Aristoteles die Existenz abspricht, setzen andere Entitäten voraus, denen sie nicht abgesprochen werden kann.

 

Ähnlich steht es mit den Wissenschaften Optik und Harmonik, die mathematische Gesetzmäßigkeiten darstellen, welche selber nicht im vollen Sinn existieren und die wiederum andere Entitäten voraussetzen, die ebenfalls nicht im vollen Sinn existieren, nämlich das Sehen und die Stimme – die allerdings sehr wohl existierende Dinge voraussetzen: zum einen die gesehenen Dinge und die sehenden Dinge, zum anderen die gehörten Dinge und die hörenden.

Die anderen Wahrnehmungsformen erwähnt Aristoteles nur pauschal, aber es ist klar, daß er von der Ebene der mathematischen Gesetzmäßigkeiten aus den Raum der Wahrnehmungswelt aufspannt und als deren subjektiven Pol die Wahrnehmer nennt, die er pauschal als die „Lebewesen“ bezeichnet, weil der angebliche Metaphysiker in Wahrheit eher ein Physiker (im antiken Sinn) ist, der die Tiere nicht ausschließt, wenn sie nach naiver antiker Auffassung einfach dazu gehören.

 

Dann ein Satz, den ich eigens wörtlich zitiere, d. h. wiederhole, damit der Leser die Chance wahrnimmt, ihn in seiner Prägnanz – und Kargheit – anzuschaun: „Weiter werden von den Mathematikern noch einige allgemeine Sätze über diese Wesen hinaus graphiert, geschrieben, aufgestellt.“ (1077a 9) Die Mathematiker schreiben alle möglichen Dinge an die Tafel, wobei sie über die Ziffern, die Zahlwörter und die Begriffe der Umgangssprachen hinaus alle möglichen lateinischen, griechischen und so weiter Buchstaben einsetzen, sogar neuartige Grapheme erfinden, weil die Wissenschaft so ein Zeichenvulkan ist, der noch länger als andere Vulkane explodiert und die Welt mit ihren Auswürfen überschwemmt.

 

Aristoteles akzeptiert selbstverständlich diese Vorgangsweise der Mathematiker. Er selber praktiziert eine ähnliche Begriffsvermehrung auf seinen ähnlich gearteten Fachgebieten (Logik, Ontologie) und er sagt: es ist unmöglich, daß solche Sachen wie Punkt, Größe, Zeit abgetrennt, extra neben den wahrnehmbaren Dingen existieren. Mit den wahrnehmbaren Dingen meint er jetzt nicht die graphischen Zeichensetzungen – die sind natürlich auch wahrnehmbar: allerdings an den jeweiligen Schreib- oder Schrift- oder Textkörpern.

 

Wenn er an dieser Stelle die „wahrnehmbaren Dinge“ irgendwie konkretisiert hat, dann mit dem meinetwegen banalen Wesensbegriff „Lebewesen“.

 

Die Haupttendenz liegt hier darin, begriffliche Bestimmungen nicht zu existierenden Wesen zu ernennen, sondern sie auf ihre jeweilige Funktion festzuschreiben. Also keine Hypostasierung, keine Substanzenvermehrung! Mit dieser Sorge nimmt Aristoteles eine jahrhundertelange Angst vor der scholastischen Begriffshypostasierung vorweg, welche man allerdings zuvörderst ihm selber unterstellt hat.

 

*

 

Am Schluß komme ich auf die etwas übermütige Bemerkung im letzten Protokoll zurück, die von der Vermutung inspiriert ist, die Metaphysik müßte, auch wenn sie nur eine theoretische Wissenschaft sein sollte, doch auch poietische Anteile enthalten, da sie ja geschrieben, komponiert, formuliert sei: daß ich mir auch künstlerische Reaktionen auf diesen Text wünschen würde. Susanne Schick und Karl Bruckschwaiger meinen aufgrund ihrer künstlerischen Erfahrungen, daß sie Übertragungen der Metaphysik in mimetische, skulpturale, literarische Medien für möglich halten. So etwas hat schon Jacques Lacan ins Auge gefaßt.

 

Walter Seitter




[1] Siehe Walter Seitter: op. cit.: 43.

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