τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 28. Juli 2021

In der Metaphysik lesen (1074b 15 – 1075a 4)

Im Buch XI (1064b 9ff.) hatte Aristoteles davon gesprochen, daß die physischen Wesen die ersten unter den Dingen seien, womit er für seine Kultur eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht hatte (und mit den physischen Wesen hat er auch die Menschen gemeint). Aber dann stellt er noch eine weitere, eine davon unterschiedene Natur zur Debatte, eine hetera physis, und wenn es von der auch eine Wissenschaft gäbe, dann wäre sie eine allererste. Und dann könnte man von einer „Heterophysik“ sprechen, die näher bei der Physik stehen würde als die „Metaphysik“, die mit dem Präfix meta eine Übersteigung, eine Fortbewegung suggeriert. Die Bezeichnung „Heterophysik“ würde die Frage nach der Beschaffenheit des Gegenstandes dieser anderen oder andersartigen Physik dringlicher stellen – etwa so wie „Paraphysik“. 

Die Beschaffenheit des speziellen Gegenstandes der Metaphysik im engsten, im theologischen Sinn, wird ja mit dem Wort „Gott“ kaum deutlich gemacht, zumal dieses Wort heute wohl noch weniger begrifflich-verständlich sein dürfte als in früheren Zeiten. 

Aristoteles bietet ja relativ viele Begriffe auf, um das Erste Prinzip in seiner Eigenart zu konturieren. Es sind allesamt ziemlich bekannte Begriffe: Denken, Lust, Wachen, Lebendigkeit. Der einzige neue Begriff war die diagoge, die Lebensführung, vielleicht derjenige Begriff, der der modernen Anthropologie besonders nahekommt, da er das Existenzielle andeutet. Die ontologischen Begriffe des Wesens und der Verwirklichung sind noch zu nennen. 

Die Aussagen gingen in die Richtung, daß bei dem Ersten Prinzip alle positiven Qualitäten ins Superlativische gesteigert sind. Ich habe daher von „Aktivismus“ gesprochen – besser wäre vielleicht von „Aktivistik“ zu sprechen, von aktiv geleisteter höchster Intensität. 

In einem Gespräch mit der FAZ hat Peter Sloterdijk am 10. Juli 2021 auch aus seiner Sporterfahrung heraus die These vertreten: „Menschen sind Hochgefühlssucher“. Hochleistung und Hochgefühl hat er als parallele Erfahrungen namhaft gemacht.

 

Meiner Vermutung nach läßt sich so etwas auch dem aus dem gelesenen Text bekannten aristotelischen Ersten Prinzip zuschreiben – aber nicht als Suche und nicht als relativ kurzzeitiger Ausnahmezustand sondern als dauerhaft aufrechterhaltener Optimal- und Maximalzustand. Wobei ihm die Aufrechterhaltung des Optimums keine Mühe macht, wie Aristoteles im Abschnitt 9 gleich bemerken wird (1074b 29). 

Und nun noch einmal zum Qualitativen des Ersten Prinzips. Wenn es nicht im Physischen liegt – welche Realitätsgattung kommt dann in Frage? Die Qualität des Psychischen haben wir für das Erste Prinzip bereits namhaft gemacht. In der Lehre von den Verursachungen hat Aristoteles neben die physischen oder natürlichen Ursachen die technischen oder künstlichen genannt, wofür sportliche Hochleistungen ganz passende Beispiele liefern, denn auch da geht es um Techniken bis hin zur Akrobatik. 

Schematisch können wir die beiden Alternativen zum Physischen so aufschreiben:

 

physisch                              psychisch

 

körperlich

 

materiell

 

 

 

physisch                          technisch

 

natürlich                         künstlich

                                

künstlerisch

                   

artistisch

 

Dann wäre das Erste Prinzip weniger ein Naturereignis nach Art der Sonne sondern eher mit einem Akrobaten zu vergleichen, der seine Tätigkeiten wie das Denken und das Faszinieren und das Attrahieren unaufhörlich durchführt und weitermacht und das seit jeher – wieso nicht?

Zumindest die psychischen Intensitätszustände können laut Aristoteles auch dem „Ersten Prinzip“ zugeschrieben werden – natürlich nicht im Modus der Suche sondern als Dauerzustand.

„Natürlich“ ? Nein, nicht ganz: eher als „paranatürlich“, als „heterophysisch“, als „künstlich“. 

Erstes Prinzip als Dauerhochgefühlsgenie und Dauerhochleistungsakrobat. Mit dem zweiten Ausdruck rücke ich das Erste Prinzip in die Nähe der Künstlichkeit. 

Ein Akrobat vollbringt und zeigt Körperhaltungen und -bewegungen, die sogenannten normalen nämlich ungeübten Menschen unmöglich sind vielleicht auch peinlich weil allzu auffällig und sonderbar wären. Er ist ein Übertreibungskünstler – wie sich ein auffälliger österreichischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts kokett selbst genannt hat. 

Und das Erste Prinzip ist gewiß ein Übertreibungskünstler – diese Formulierung verdanke ich meiner Aristoteles-Lektüre, die den von den Liebhabern „des Stagiriten“ nie gesehenen Begriff der diagoge nicht nur sieht sondern auch ernst nimmt. 

Man könnte es einen Extrem-Diagogiker nennen. Es hält den höchsten Intensitätsgrad ständig aufrecht. Eine Höchstleistung, von der man sich fragen kann, ob sie mitsamt der ihr zugesprochenen Ewigkeit tatsächlich in den Rahmen dessen paßt, was „Natur“ genannt werden kann. Aristoteles ist da skeptisch und neigt dazu, die Leistung des Prinzips einer „verschiedenen Natur“ zuzuschreiben. Die moderne Physik ist da noch skeptischer und sie spricht allen Naturphänomenen so etwas wie „Ewigkeit“ grundsätzlich ab. 

Von Kunst hat Aristoteles auch gesprochen, als er die Überlieferungsleistungen erwähnte, mit denen die Menschen das Wissen vom Göttlichen artikulieren und gegen Vergessen und gegen Verderben fortsetzen und aufrechterhalten. 

Die Sammelbezeichnung für diese epistemischen Leistungen könnte lauten: Dianoetik oder Theoria oder Technik – aber im Sinne von Kunst, Poetik, Artistik. 

 

Artistik als menschliche, vielfältige, immer wieder erfundene und verlorene und wieder gefundene wie es in 1074b 10 heißt Tätigkeit (zu der auch die Philosophie gehört (damals erst seit 200 Jahren)).

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Aristoteles legt sich nun für das Erste Prinzip, welches auch als Göttliches bezeichnet wird, auf die begriffliche Bestimmung „Vernunft“ fest, im Griechischen der substantivische Träger des Denkens. 

Diese Identifizierung wird aber nun keineswegs als sofort plausibel akzeptiert oder gar begrüßt – etwa aufgrund eines ohnehin selbstverständlichen „Logozentrismus“, wie im 20. Jahrhundert unterstellt worden ist.

Sondern Aristoteles sieht in seiner eigenen Annahme sogleich einige Schwierigkeiten auftauchen. Zum einen soll sie angeblich das Göttlichste unter den Erscheinungen sein, womit sie im gewöhnlichen Erfahrungsraum mit seinen epistemischen Ungewißheiten angesiedelt wird. Hier wird das Göttliche nun doch zu den Erscheinungen gezählt – wie steht es dann mit seiner Unwahrnehmbarkeit, ist sie so strikt gemeint wie sie klingt? Ist seine Position doch nicht so „meta“physisch also transzendent – sondern eher heterophysisch und folglich auch heterophänomenal?

Und damit erhebt sich auch die Frage, „wie sich diese Vernunft als derartige verhalte“ (1074b 17). Aristoteles möchte also die Wesensbestimmung und die Rangbestimmung mit einer deskriptiven Charakterisierung des Verhaltens, das Agierens verbinden, also mit akzidenziellen und irgendwie wahrnehmbaren Bestimmungen verbinden, damit nicht mit bedeutsamen Begriffen jongliert werde, ohne daß man weiß, was eigentlich gemeint ist, was eigentlich los ist. Diesen Anspruch auf Erfüllung von Begriffen mit Anschauung stellt Aristoteles an seine eigenen Aussagen und damit versucht er immerhin, sein eigenes Denken (über das Denken, welches das Göttliche sein soll) so zu qualifizieren, daß es als seriöses Denken gegenüber seinen Vorläufern und womöglich auch als Annäherung an die Denkaufgabe gelten kann und den Lesern – in diesem Falle uns – zugemutet werden kann, denn wir wollen ja nicht nur irgendetwas Antikes lesen müssen sondern eine Aufklärung über eine Fragestellung bekommen, vielleicht sogar eine Weiterführung in einer Problematik bekommen, die auch heute noch verständlich ist, auch wenn sie uns fern liegt. 

Also wenn diese Vernunft nichts tut, wenn sie gar nicht denkt, sondern schläft, was wäre dann ihre Würde? Mit dieser Frage erinnert mich Aristoteles an eine Diskussion, die wir hier vor einem Jahr hatten und in der ein Leser-Kollege meinte, mit dem Wesensbegriff, der auf einen Menschen oder auf sonst eine Entität angewandt wird, werde immer auch eine Würde zugesprochen. 

Im hiesigen Fall können wir Aristoteles so verstehen, daß er meint, wenn diese angebliche göttliche Vernunft eh nur schläft, dann können wir uns diese ganze Annahme sparen, da sie nur so eine romantische Ahnung von etwas Unbestimmtem ist. So unbestimmte Aussagen macht Aristoteles eher nicht. Hier jedenfalls will er nicht durch understatement glänzen – sondern im Gegenteil. Die Vorstellung von der schlafenden Vernunft wird übrigens auch durch das “unbewegt“ nahegelegt – durch das „bewegend“ jedoch sofort dementiert. 

Denkt hingegen diese Vernunft tatsächlich, stellt sich die Frage, ob sie selber oder ob etwas anderes darüber entscheidet, was sie denkt, worauf sie ihr Denken richtet; ist es etwas anderes, so wäre ihr Wesen nicht das Denken selber, der Denkvollzug, sondern ein Vermögen, das von außen bestimmt wird. Dann aber wäre sie nicht das beste, das vollkommenste Wesen aufgrund eigener permanenter Initiative. 

Dann stellt sich die Frage, ob jene Vernunft sich selber oder etwas anderes denkt. Und im zweiten Fall, ob sie stets dasselbe denkt oder einmal das und einmal jenes. Denkt sie ständig das Schöne, Richtige, Vollkommene oder denkt sie, was gerade daherkommt? Ist es unzutreffend anzunehmen, daß sie über diese und über jene Gegenstände denkt? 

Diese Fragen werden im Text als Suggestivfragen gestellt und verstanden, sodaß er zum Schluß kommt, daß die Vernunft offensichtlich das Göttlichste und Würdigste denkt und daß sie sich nicht verändert.

Für uns dürfte dieser Schluß kaum offensichtlich sein, aber wir können sehen, wie er ihn erläutert und absichert.

Er behauptet, eine Veränderung ginge zum Schlechteren und das ginge mit Bewegtheit einher – was Aristoteles von dieser Vernunft gerade fernhalten will. Außerdem will er von ihr fernhalten, daß sie Vermögen ist, denn in diesem Fall würde ihr das ununterbrochene Denken Mühe machen – womit Aristoteles wieder auf den Vergleich mit dem Menschen zurückkommt, der möglich ist, weil auch der Mensch mit Vernunft ausgestattet ist – aber in geringerer Weise.  

Eine andere Problematisierung der Vernunft stellt Aristoteles an, indem er behauptet, es gebe sehr wohl etwas Ehrwürdigeres als die Vernunft: nämlich das von ihr Gedachte. Und zwar mit der paradoxen Begründung: sie könne auch das Schlechteste denken – dies aber soll man vermeiden (wie es besser ist, manche Dinge nicht zu sehen als sie zu sehen): daher kann das Denken nicht schlechterdings das Beste sein. Also ist die Vernunft in der stärksten Position, wenn sie sich selber denkt und ihr Denken ist Denken des Denkens (1074b 34). 

Heißt das nun, daß sich Aristoteles mit der göttlichen Vernunft einen absoluten Narziß ausgedacht hat? Der einfach nur in Selbstreflexion besteht, nur aus Identität mit sich selbst besteht oder nur wie ein Punkt existiert, der bekanntlich so klein ist, daß er nicht einmal mit einem spitzen Bleistift gezeichnet werden kann?

Das könnte man denken, wenn man es unterläßt, weiterzulesen, welche Unterlassung ein Hauptfehler beim Lesen dieser Metaphysik wäre, welche sich nämlich als eine mehr oder weniger geordnete Textmasse ausbreitet und hinzieht und in ihrer Hin-und Hinausziehung liegt die Chance, daß man ihre „Bedeutung“ nicht vorschnell verkürzt und abschließt (weil „immer schon“ gewußt hat). 

Da das göttliche Denken das Denken in Reinkultur darstellt, intensivst aktualisiert und schönst darstellt, greift Aristoteles zu seiner Erläuterung wiederum wie schon bei der ersten Hinführung im Abschnitt 7 zu einer anthropologischen Spektralanalyse und nennt eine kleine Reihe von menschlichen und hoffentlich bekannten Denk- oder Erkenntnisformen als da sind die Wissenschaft und die Wahrnehmung und die Meinung und die Überlegung (er begnügt sich mit diesen). 

Diese Erkennntisformen oder -modalitäten haben jeweils ihren eigenen Charakter, ihr eigenes Prestige; keine von ihnen wird von Aristoteles als unwichtig oder nur fehleranfällig abgetan, keine von ihnen mit irgendeinem Monopolanspruch ausgestattet – man ist weit entfernt von den Absolutsetzungen, die sich im 20. Jahrhundert in der einen oder anderen Richtung wichtig gemacht haben, etwa von der Absolutsetzung der Wissenschaft, auf die in jüngster Zeit eine antiwissenschaftliche Besserwisserei reagiert.

Und von denen behauptet er, was hoffentlich auch schon bekannt ist (sei es aus Platon oder aus Aristoteles oder aus eigener Erfahrung), daß die Erkenntnisformen sich jeweils auf irgendeinen Gegenstand beziehen, daneben aber auch auf die Erkenntnis selber. Dieses Sich-beziehen-auf nennt man seit der Scholastik „Intention“ und bereits die Linguistik unterscheidet bei den Verben Transitivität, Intransivität, Reflexivität. 

Aristoteles sagt also, daß die kognitiven Verhalten hauptsächlich objektgerichtet sind, nebenbei aber auch reflexiv eingestellt. Ihre Intentionalität ist also immer schon zwischen mehreren Richtungen „gestreut“. 

Ich habe die Richtungen in hauptsächliche und nebensächliche unterschieden – eine Art Bewertung, die sich häufig pragmatisch durchsetzt. Ich würde sogar sagen, daß auch Aristoteles der Objektorientierung einen pragmatischen Vorrang einräumt, weil das Sich-zurechtfinden in der Welt Außenorientierung erfordert. Insofern es aber dabei darum geht, in der Welt sich zurechtzufinden, muß die Reflexiveinstellung ständig mitgeleistet werden. 

Neben so einem pragmatischen Gesichtspunkt spielt für die aristotelische Hervorhebung der Einswerdung des Denkens mit dem Gedachten eine ganz spezielle Erkenntnisontologie eine Rolle, die sich in zwei beinahe esoterischen Thesen ausdrückt: erstens daß sowohl das Erkennende wie auch das Erkannte sich aktualisieren und die beiden Aktualisierungen zusammenschießen, wobei Erkennendes und Erkanntes seinsmäßig unterschieden bleiben; zweitens daß die Seele irgendwie alle die Dinge ist.

 

Walter Seitter

Mittwoch, 21. Juli 2021

In der Metaphysik lesen (1074a 14 – 1074b 14)

Aristoteles kommt bei der Anzahl der Sphären auf 47 – die darin sich vollziehenden Bewegungen sollen sämtliche Ortsbewegungen erklären können, sofern diese immer auf eine Sternbewegung hinzielen, also auf die Bewegung einer unaffizierbaren und besten Natur und Wesenheit. Diese Zählungen können nur dann als sinnvoll betrachtet werden, wenn sie sich auf eine bestimmte Zone des Himmels festlegen lassen. Was mich erstaunt, ist die Tatsache, daß Aristoteles in 1074a 16 die unbewegten Wesen und Prinzipien in den Plural setzt, obwohl sie doch Ortsbewegungen durchführen - in einer Klammer der Loeb Classical Ausgabe werden sie sogar als „wahrnehmbar“ bezeichnet. Was wiederum damit zusammenpaßt, daß diese Wesen „Körper“ genannt werden – allerdings „göttliche“ (1074a 31).

 

Der Übergang von dem einen rein noetischen Ersten Prinzip zu den anderen Wesen, die körperlicher Natur sind, scheint also bruchartig zu sein. Trotzdem gibt es eine Zone und eine Gattung von Körpern, die dem Ersten Bewegenden näher stehen. Das ist die Zone des immerzu und ununterbrochen Bewegten, die Aristoteles mit dem einen Himmel identifiziert (1074a 37).

Man könnte hier wohl von dem Ersten Bewegten sprechen, muß aber gleich hinzufügen, daß es in sich pluralisch strukturiert ist.

 

Damit ist die theologische Systematik oder Konstruktion des Aristoteles umrissen – trotzdem empfiehlt es sich weiterzulesen, denn die aristotelische Vorgangsweise ist das Weiterschreiben, mit dem auch dann noch etwas zur Sache gesagt wird, wenn es nur Nach- oder Randbemerkungen liefert oder wenn nur Eigentümlichkeiten der Schreibweise oder Sprechweise dem Verständnis helfen beziehungsweise nachhelfen könnten. 

 

Jetzt bettet Aristoteles seinen systematischen theologischen Entwurf in seine kulturelle Situation ein, in der es bereits Götterlehren gegeben hat, und er versucht auch zu sagen, wozu diese oder andere gut sein mochten. 

Von den Vorfahren sei in mythischer Form, das heißt in Form von Erzählungen überliefert worden, daß „diese“ Götter seien und daß das Göttliche die gesamte Natur umfasse. Wieder also das Substantiv „Gott“ und das Adjektiv „göttlich“. Aber das Subjekt des ersten Satzes heißt nur „diese“ (maskulin Plural). 

 

Mein Grazer Übersetzer interpoliert „diese Himmelskörper“, was dem Sprachduktus des Aristoteles hier nicht genau folgt, aber sachlich die Zeile 1074a 30 aufgreift und vor allem das Verdienst hat, den physikalischen Ansatz der griechischen Theologie (gleich welcher) noch einmal in Erinnerung zu rufen (der Begriff „Körper“ wird nämlich von Aristoteles selber sogar in der Physik nur selten eingesetzt, was deren Verständnis nicht eben gefördert hat).

Die Götterlehren hätten dann noch für die Menge der Leute schöne Geschichten erfunden, aber auch Nützliches und Gesetzesartiges verbreitet. Mit beiden Bemerkungen scheint sich Aristoteles an Platon anzuschließen und er hebt hervor, daß die Götter „menschengestaltig“ und auch den anderen Lebewesen (Tieren) ähnlich vorgestellt worden seien, wovon er sich etwas zu distanzieren scheint (immerhin haben wir in seiner eigenen doch sehr anspruchsvollen Gotteskonzeption auch solche Ähnlichkeiten festgestellt). 

Insofern jene Überlieferungen die Götter für die „ersten Wesen“ hielten, hätten sie wahr ja „göttlich geredet“ (1074b 9). Mit dieser Ausdrucksweise scheint Aristoteles das Adjektiv „göttlich“ über die Götter hinaus zu applizieren – es sei denn er will andeuten, die Götter selber seien im mythischen Reden tätig gewesen, womit ihnen tatsächlich so etwas wie eine Offenbarungsaktivität, eine Selbstoffenbarung unterstellt werden würde, was den mythischen Göttern noch eher zuzutrauen sein könnte als den ca. 40 aristotelischen Göttern, die alle bis auf den einen unkörperlichen in den entferntesten Himmelskörpern zu lokalisieren wären. 

Trotz dieser Ungewißheiten ist die aristotelische Schreibung von dem „göttlich (adverbial) geredet“ wohl ernst gemeint, zumal ihr auch eine kulturhistorische und kulturgeographische Deutung angefügt wird, die als mögliche Träger jener göttlichen Rede angesehene, bei den Griechen angesehene Kulturinstitutionen namhaft macht, nämlich Kunst und Philosophie – und zwar weniger als großartige Errungenschaften sondern als öfter gefundene und wieder verlorene, als in der Geschichte verstreute und fragile Ansicht, die bei den Vätern und Vorvätern aufgetaucht ist. 

 

Indem solche Überlieferungen unter den Begriff „Ansicht“ gefaßt werden, wird ihre kognitive Qualität doch wiederum etwas herabgestuft, was bei ihrer Vielzahl und ihrem Erhaltungszustand – man mag auch an die uns verbliebenen Reste der Vorsokratiker denken – nicht verwundert. Immerhin betont Aristoteles, daß sich bestimmte Aussagen doch identifizieren lassen und insofern schließt er hier wieder ans Buch I an, wo die frühesten Zeugnisse der Ursachenforschung genannt worden waren.

 

PS.: Heute Mittag saß ich vor dem Café Korb, von dem eine schmale und kurze Gasse auf die Peterskirche zuläuft und aus ihrem Baukörper, der zu einer hohen Kuppel emporragt, einen Ausschnitt herausschneidet, welcher der Kirche und vor allem der Kuppel eine geradezu römische Monumentalität zuphantasieren hilft. 

Und da las ich einen kleinen Kommentar zu Ernst Kantorowicz (1895-1963), der im Jahr 1933, als er seine Antrittsvorlesung über das „Geheime Deutschland“ vorbereitete, diese als eine „Divina comedia teutsch“ verstand, eine halb wissenschaftliche, halb artistische Skizze zu einer notwendigen Ansicht im Sinne einer Vision „der Türme der wahren Stadt“, zu einem notwendigen Begriff der Gerechtigkeit.[1] 

Für Dante gehörte Aristoteles zu den Vorfahren seiner Konzeption, so wie Kantorowicz sich als „Dante-Enkel“ berechtigt fühlte, „den festen Blickpunkt in den Wirrnissen, in denen sich jeder innerlich befindet, geben zu können“.  

Die mächtige und doch weiche Kuppel der Wiener Peterskirche erscheint wie ein sehr sinnliches Symbol für vielleicht Zukünftiges.

 

Walter Seitter


[1] Siehe:  Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 16: Ernst Hartwig Kantorowicz Geschichtsschreiber (1992). Hg. Walter Seitter

Mittwoch, 14. Juli 2021

In der Metaphysik lesen (1073b 1 – 1074a 14)

Wir versuchen, das „Erste Prinzip“ mit eigenen Worten und mit aristotelischen zusammenfassend zu charakterisieren.

Es ist nicht das einzige „Prinzip“, das Aristoteles mit einem Superlativ kennzeichnet. „Erstes“ ist keine Nummerierung sondern eine Rangbezeichnung, eine qualifizierende. Im Buch IV hat er nach der Einführung in die kategoriale Ontologie das Sicherste Prinzip aufgestellt und versucht, es indirekt d. h. elenktisch zu beweisen. Es ist ein Axiom, eine Behauptung, die zweifelsfreie Wahrheit oder Gültigkeit für sich beansprucht. Somit gehört es einer ganz anderen Gattung an als das Erste Prinzip, das als ein Wesen konzipiert ist – etwa wie ein Mensch oder das Wasser. 

Nur daß dieses Wesen unkörperlich und unwahrnehmbar sein soll – als einziges von allen Wesen (!). Das Axiom wird wohl auch als unkörperlich gedacht – aber bei dem ist die Unkörperlichkeit weniger erstaunlich, es ist ja nur eine Behauptung, eine Aussage, die schlechterdings wahr und gültig zu sein beansprucht. Es ist „nur“ ein Denkakt.

Besagtes Erstes Prinzip soll nun auch ein Denkakt sein – noesis. Aber zugleich ist es ein Wesen – etwa wie Wasser und Fließen, welche jedoch bewegt und wahrnehmbar sind. Es hingegen ist unkörperlich und unwahrnehmbar - ein sehr extraordinäres Wesen ist dieses Prinzip.

Seine kosmologische Funktion ist überwältigend im wörtlichen Sinn – von ihm hängt der Himmel ab und die Natur (1072b 13). Das ist seine ursächliche Macht. Trotzdem ist es nicht die Gesamtursache aller Dinge, es ist nur eine Bewegursache, und zwar die „erste“, ihm nachgeordnet sind als Bewegursachen etwa für den Menschen die Sonne (und ihre Ekliptik) und der Vater. 

Alle Ursachen sind daher Mitursachen. Außer den Bewegursachen muß es auch noch die Stoffursachen geben – zum Beispiel Mutterleib und Wasser. 

Vielleicht sind alle Sachen auch irgendwie Ursachen. So wie man zwischen Hauptsachen und Nebensachen unterscheiden kann.

Nun hat aber Aristoteles im Buch XII eine wie es scheint völlig andere Gattung von Ursachen eingeführt - nämlich Bewegursachen, die selber unbewegt sind. Und die definiert er als passive Perfekta: als Begehrtes und Gedachtes, als Gewolltes, als schön Erscheinendes, als Geliebtes (1072a 27ff.) Diese Eigenschaften hängen dem Ersten Prinzip an und damit bewegt es psychische Wesen. Es selber ist auch ein psychisches Wesen dessen superlativische psychische, also kognitive und emotionale Aktivität die anderen Wesen bewegt, d. h. antreibt.

Damit ist in die Bestimmung dieses Prinzips ein Bruch oder ein Übergang vom Kosmischen zum Psychischen eingeführt, der nach Zeile 1072b 13 dann ganz brutal, heute sagt man: disruptiv, formuliert wird, indem es plötzlich direkt mit Befindlichkeiten der Menschen verglichen wird. Indem sein Zustand ununterbrochen der beste ist, was bei uns nur von Zeit zu Zeit der Fall ist. Nämlich der Zustand der Freude oder Lust, den wir mit Erwachen, Wahrnehmung, Denken erleben.

Das Prinzip befindet sich ständig im besten Zustand, weil es diesen Zustand aktiv, agierend aufrechterhält, so intensiv und pausenlos, daß es keine Veränderungen erleidet und auf diese Weise unbeweglich, unbewegt erscheint.

Nicht so wie die Erde, die ganz unten liegt und liegen bleibt. Dem Prinzip wird Lebendigkeit zugesprochen nicht aufgrund von somatischen Bewegungen wie Wachstum und Ernährung sondern mit der definitorischen Zusammenfügung von Denken und Aktualisierung.

Die Pausenlosigkeit des optimalen Zustandes beruht auf Höchstleistung, auf Aufrechterhaltung einer Hochspannung; sogar das Wort „Fanatismus“ ist mir eingefallen, na ja. „Begeisterung“ wäre wohl ein besserer Ausdruck. So ein Behauptungsmaximum kann vielleicht besser als psychisches denn als materielles gedacht werden. Wenngleich sich die Sonne seit jeher als einigermaßen plausibles physisches Erscheinungsparadigma für stabile Höchstleistung anbietet. (Deshalb werde ich Die Sonne von Francis Ponge ein bisschen als Gegenentwurf zur Metaphysik mir anschaun.)

Das permanente Maximum und Optimum des Prinzips wird von Aristoteles „der Gott“ genannt. Eine Benennung, hinter der die begriffliche Konstruktionsarbeit nicht vergessen werden sollte.

Wolfgang Koch: erstaunlicher Anthropomorphismus.

Nicht Menschengestaltigkeit, eher Menschenartigkeit - aufgrund von vergleichbaren Bewußtseinsleistungen.

Der Begriff „Bewußtsein“ kommt da direkt nicht vor, indirekt nämlich zusammengewürfelt kommt er hier sehr wohl zustande, ja er wird hier quasi herbeigebastelt und das basale Wachsein wird extra genannt. Über das hat Aristoteles ein kleines Buch geschrieben.[1]

 

So ein unruhiges Begriffsmosaik aus Kosmos, aphysisch, psychisch, anthropologisch - ist es nicht erhellender als der eine berühmte, unbewegliche und angeblich verständliche Begriff „metaphysisch“?

Hierzu eine sozusagen lokalhistorische Anmerkung zu der schon öfter bemerkten Tatsache, daß am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Faszination der philosophischen Systeme zurückging, sich gerade in Wien, wo die jahrhundertelange anti- und aphilosophische Tradition immer noch dominierte, mit Deutlichkeit ein Dualismus aus „Physik“ und „Psychologie“ hervortrat, nämlich eine Rivalität zwischen zwei wissenschaftlichen Denkrichtungen, die beide für sich in Anspruch nehmen konnten, von erfahrbaren Realitätsbereichen auszugehen. Sowohl die physikalistische wie auch die psychologistische Tendenz wollten mit der „Metaphysik“ die Philosophie ein für alle Mal aus dem Feld schlagen und ihre jeweilige Realitätsdimension – das Physische oder das Psychische - zur einzigen aufwerten. In der Mitte zwischen den beiden Denkrichtungen etablierte sich mit der Phänomenologie eine Schule, die für die Philosophie einen Weg bahnte, der halbwegs an der „Metaphysik“ vorbeiführte – sich aber in Österreich kaum halten konnte, obwohl Franz Brentano hier einen an Aristoteles angelehnten Versuch unternommen hatte, Ontologie und naturwissenschaftliches Denken und Psychologie miteinander zu verbinden. 

Sogar an einem „extremen“ und schwer nachvollziehbaren Punkt des aristotelischen Denkens, nämlich in der Skizzierung einer philosophischen Theologie, zeichnet sich seine Vorgangsweise durch einen „kompositen“ Charakter aus, den man allerdings nur in einer vorsichtig tastenden Lektüre wahrnehmen kann.

Weiterschreibend (1073b 1ff.) hat Aristoteles ausgeführt, daß es außerhalb und nach dem Prinzip zunächst und zwar synchron folgendes gibt: beseelte Wesen, die vom Prinzip bewegt werden, wobei diese Bewegungen Ortsbewegungen sein müssen und die beseelten Wesen ewig und körperlich und wahrnehmbar sein müssen. Seine Konstruktion kippt also sehr schnell wieder ins Physikalische. 

Da diese Körper und ihre Ortsbewegungen mehrere und wahrnehmbar sind, kann gefragt werden, wie viele es sind. Da verhält sich Aristoteles fast wie ein Wiener Gelehrter des frühen 20. Jahrhunderts und er fragt sich, welche Wissenschaft dafür zuständig ist. Er entschließt sich zu einem Kompromiß zwischen Philosophie und antiphilosophischem Positivismus und er entscheidet sich für die Mathematik, in der er jedoch verschiedene Richtungen unterscheidet. Die der Philosophie am nächsten stehende Richtung sei die Astronomie, welche die ewigen und wahrnehmbaren Wesen betrachtet, während Arithmetik und Geometrie überhaupt nicht von einem Wesen handeln. 

Hält er die Astronomie für philosophischer, weil sie dem Himmel nahekommt? Diese Annahme würde ein theologistisches Aristoteles-Verständnis bezeugen. Sie trifft aber nicht zur Gänze zu, denn er hält die Astronomie schon deswegen für philosophischer, weil sie sich überhaupt mit Wesen, das heißt mit Körpern, natürlich mit wahrnehmbaren, beschäftigt. Mit Physik. Aristoteles ist also nicht so meilenweit von einem modernen Wissenschaftsverständnis entfernt wie manche, nein viele, meinen.

Er geht von der Annahme aus, daß die Zahl der Bewegungen, nämlich der Bewegungsbahnen, größer ist als die Zahl der bewegten Körper. Daß also jeweils ein Planet verschiedene Bahnen einschlägt. Wie es da mit den Anzahlen steht, darüber könne nur die Forschung entscheiden, die man selber durchführt oder die von anderen Spezialisten durchgeführt wird.

Steht man verschiedenen Autoren gegenüber, so müsse man sie alle schätzen, aber folgen müsse man denen mit den genauesten Ergebnissen. Entscheidend ist schließlich nicht die persönliche Wertschätzung sondern das sachliche Ergebnis. Auf diese Weise verabschiedet Aristoteles die Personenautorität als Wahrheitskriterium.

Des näheren referiert Aristoteles, wie die Anzahl der Himmelskörper und ihrer Bewegungsbahnen bisher bestimmt und berechnet worden sind. Nämlich von Eudoxos von Knidos (ca. 390-340) und von Kallippos von Kyzikos (ca. 370-300). Deren Berechnungen meint Aristoteles dann noch korrigieren zu können bzw. zu müssen, denn es komme darauf an, den Erscheinungen gerecht zu werden. Die sind das Maß der menschlichen Darstellungen – womit sowohl die aristotelische wie auch die moderne Auffassung von Wissenschaft zum Zug kommen, und das platonische sowie das aristotelische Verständnis von noesis und theoria stehen im Hintergrund.

Erscheinungen als maßgebliche Instanzen: Phänomenologie, Positivismus, Realismus, Szientismus?  Mit Sicherheit kein „kontinentales“ Herumphilosophieren.

Ralf Konersmann führt aus, daß „im Horizont des Aristotelismus“ die Forschung für das Wissenschaftsverständnis nicht ausschlaggebend gewesen sei und er zitiert eine apologetische Schrift des Thomas von Aquin, wonach die Menschen, nachdem sie die Ursachen gefunden hatten, „Ruhe gaben“.[2] Ein gutes Beispiel für den „Aristotelismus“, in dem das aristotelische Denken in den Dienst einer anderweitig fixierten Theologie gestellt worden ist. 

Wieder zeigt sich, daß das Aristoteles-Lesen als eine eigenständige Tätigkeit durchgeführt werden sollte und mit keinem Meinen über Aristoteles verwechselt werden sollte.

Wolfgang Detel und Wolfgang Koch betonen, daß die Annahmen der antiken Astronomen (einschließlich Aristoteles) durch die neuzeitlichen und modernen Forschungen überholt worden sind. Wenn dem so ist, dann haben diese Forschungen ihre Pflicht getan und sich von den Erscheinungen zu neuen Aussagen motivieren lassen, wozu die Erfindung von Wahrnehmungshilfsmitteln ebenso gehört wie die Erweiterung von Theorieannahmen. 

 

 

 Walter Seitter




[1] Und ich ein größeres: Kunst der Wacht.

[2] Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt (Frankfurt 2015): 380f. 

 



Mittwoch, 7. Juli 2021

In der Metaphysik lesen (1072b 30 – 1073a 37)

  Seiner ziemlich wilden These von dem unsichtbaren und unsterblichen Tier, das er mit dem alten Wort „Gott“ benennt, besser gesagt, der denkerischen Voraussetzung dieser These, stellt Aristoteles die Pythagoreer sowie den Speusippos entgegen, der als Neffe und Nachfolger Platons (an der Akademie) ein direkter Rivale des Aristoteles war (wie Wolfgang Koch erläutert). Aristoteles wirft ja die Platoniker, zu denen er selber gehörte und die er näher kannte, öfter in einen Topf mit den Pythagoreern. Nun sagt er, die Genannten würden behaupten, dass das Schönste und Beste nicht schon im Prinzip vorliege, sondern sich erst mit der Zeit daraus entwickeln, womit sie die Samen meinen, die bei Pflanzen, Tieren und Menschen jeweils als Anfänge fungieren, aber von ihrer Vollendung noch weit entfernt seien und daher eine zumeist sehr gewaltige Entwicklung durchmachen müssen. 

 

Gegen diesen unleugbaren Anschein der zeitlichen Priorität des Unvollendeten führt Aristoteles ins Treffen, dass die unvollendeten Anfänge ihrerseits von vollendeten Exemplaren der jeweiligen Spezies hervorgebracht werden, natürlich von anderen, von älteren, den jeweiligen Vorfahren – was er im Buch IX schon ausführlich erörtert hat. Auch dafür spricht ein unleugbarer Anschein, der allerdings weiter zurück in die Vergangenheit führt. Dieser Rückgang zu den Vorfahren kann allerdings nach Aristoteles nicht endlos weit zurückgehen, obwohl nach seiner Ansicht die Welt mit ihren Lebewesen ewig oder zumindest immerwährend dauert und weiter dauert. 

 

Nach unserer heutigen Ansicht hat die Welt vor einem angebbaren Zeitraum angefangen und der vorherrschende Ansicht zufolge, die mit dem Stichwort „Evolution“ umschrieben wird, haben sich die bekannten mehr oder weniger vollkommenen Wesen, also Lebewesen oder auch Sterne oder aber die „Ilias“ oder der Stephansdom aus irgendwelchen Potenzialitäten entwickelt – was Heidegger in den schon öfter zitierten Satz gefasst hat „Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit.“ Mit diesem Satz setzt sich Heidegger – ob wissentlich und willentlich oder nicht – entschieden von Aristoteles ab. Laut Aristoteles stellt er sich damit auf die Seite anderer antiker Philosophen wie der Pythagoreer oder des Speusippos. Die antiken Philosophen sind nämlich nicht ein großer homogener Haufen von Gleichdenkenden. Philosoph sein hieß damals schon, was es hoffentlich auch heute heißt: selber denken – womit man sich allerdings immer wieder in bestimmten Fragen und Antworten mit anderen treffen kann. 

 

Sich mit anderen treffen ist nicht unbedingt unphilosophisch. Konsequente Konsensvermeidung ist genau so lächerlich wie unbedingtes Konsentieren – jedenfalls in der Philosophie (in der Religion mag das anders sein). 

Aristoteles hat die Entstehung von vollständigen Wesen aus niedrigen oder minimalen oder nur potenziellen Entitäten nicht vollständig ausgeschlossen: es handelt sich dabei um eine der beiden unordentlichen Genesen, nämlich um die „automatische“ oder „spontane“: Entstehung von etwas „von selber“, das heißt man weiß nicht aus was. Die heute mehr oder weniger absolut gesetzte „evolutionäre“ Entstehungsart ist bei ihm nur eine von vier Entstehungsarten und sie ist zu schwach, um die Entstehung alles dessen, was wahrnehmbar und überhaupt erkennbar existiert, verständlich zu machen. Wir haben davon im Buch VII gelesen. 

 

Jetzt vollzieht Aristoteles aus dem Gesagten eine Schlussfolgerung, die uns – jedenfalls mir – zwar formal irgendwie nachvollziehbar erscheint, aber insgesamt ist der Sprung, den sie macht, denn doch zu gewaltig: es ist der Sprung zurück zu einem vollständigen und vollkommenen Wesen, das terminologisch zwar in die Reihe der Lebewesen integriert wird, aber gleichzeitig von den sichtbaren Lebewesen abgesetzt wird und äußerst paradox das heißt unglaubhaft als unsichtbares unkörperliches unsterbliches Lebewesen, als völlig andersartiges Urwesen, als aphysische aber vollkommene Ursache also Sache postuliert wird. 

 

Ursachen sind nämlich auch Sachen – und vielleicht sind alle Sachen irgendwie Ursachen.

 

Was ist die erste sichtbare und physische Entität – Wesen oder was? -, die von der aphysischen Ursache irgendwie bewegt, angestoßen - Aristoteles sagt gar nicht: geschaffen - wird, so mächtig wie ein Schöpfer ist besagtes Prinzip gar nicht - es bewegt nur, indem es denkt und gedacht wird. Von wem gedacht? Von bewegtem Denkendem. Aber mit irgendwas Denkendem außerhalb des ersten Denkens muß bereits etwas Physisches im Spiel sein. Mit dem ersten Außerhalb ist schon etwas Ausgedehntes gegeben, mit dem ersten Denken „nach“ oder vielmehr „neben“ also „außer“ dem allerersten Denken postuliert Aristoteles etwas wie Ortsbewegung. Die Ortsbewegung ist das erste Zweite. Mit ihr beginnt die „Physik“. Der postulierende Aristoteles ist selber so ein zweites oder vielmehr x-tes Denkendes mitsamt Ortsbewegung und Physischem.

 

 

Davor gibt es „nur“ Noetik“ – aber schon mit „Kinetik“. 

 

Diese Kunstwörter kann man einsetzen, um terminologisch von dem zu sprechen, wofür Aristoteles als Folkloriker auch „Gott“ sagt (siehe dazu später im Buch XII) – obwohl er damit nicht genau Zeus meint, auch nicht irgendeinen noch besseren Gott. 

Zur Noetik:

 

Noein, noesis, nous, noumenon und so weiter. Wie wir gelesen haben (Lesen ist auch ein Verb und bezeichnet eine Tätigkeit), spricht Aristoteles (Sprechen beziehungsweise Schreiben sind auch Tätigkeiten und zwar solche, die direkt in die Lebensform namens „Theoria“ hineingehören – jedenfalls seit ein paar tausend Jahren) den Tätigkeiten, die sich auf das „Gott“ genannte Prinzip beziehen, den höchsten Rang zu, womit dem höchsten Rang des Prinzips kein Abbruch getan wird, weil dieses Prinzip auch nur aus solchen Tätigkeiten, beziehungsweise aus verschiedenen Genera, Positionierungen, Modulationen der speziellen Tätigkeit der noesis besteht. 

 

Die zentrale Tätigkeit, mit der das Prinzip selber charakterisiert wird und durch die es bewegt, was sich von ihm bewegen lässt, indem es gleichartig auf es zurückwirkt also es wiederum denkt, ist das Denken.

 

 

Dieses Wort wird von Aristoteles am besten dort erklärt, wo er es in eine trianguläre Vergleichung einspannt, wie bereits am 2. Juni dargetan worden ist. Das Denken sei einerseits dem Wahrnehmen, andererseits dem bloßen Sagen ähnlich, welche ihrerseits eher unähnlich zueinander stehen.

 

Das Denken ist nach Aristoteles eine Leistung, die an die Wahrnehmungsvorgänge anschließt, sie zusammenfasst und eine eigene Ebene erreicht, indem sie dann auch noch das Spezifische des Sagens dazunimmt. 

Das Wahrnehmen und das bloße Sagen können als relativ bekannte Vorgänge gelten. Natürlich besteht auch da die Gefahr, dass sie „allzu bekannt“ sind und folglich unerkannt bleiben.

Gegen diese Gefahr hat Michel Foucault sein Buch Archäologie des Wissens über die Aussage als Aussage geschrieben, wo er sich bemüht, gegen die selbstverständliche Vertrautheit mit der Aussage zu ihrer Erblickung und Erkennung als einem speziellen Tun, Ereignis, Ding anzuschreiben.[1]

Gegen die, wie ich meine auch aristotelische Annahme, dass die Wahrnehmungen zwar theoretisch analysiert werden können (was bei ihm ausführlich geschieht), dass sie aber als elementare Lebensvollzüge nicht schlechterdings unbekannt sein können, behauptet Wolfgang Koch, dass diejenige Wahrnehmung, die nach Aristoteles auch für das Zustandekommen der noetischen Leistung ausschlaggebend ist, nämlich das Sehen, nur mit dem christlichen Verständnis des „Paradieses“ erfasst werden könne. 

 

Damit setzt er seine irrationalistische Attacke gegen das Herzstück eines jeden Aristoteles-Verständnisses fort. Zu dem gehört nämlich auch, dass man das Sehen als Praktik selber betreibt und gleichzeitig begreift, indem man zum Beispiel auch das Wort „Metaphysik“ anschaut und sieht, dass es zu 60% aus „physik“ besteht. Wenn man das nicht sieht und sonst auch nichts, dann muß man vielleicht bei irgendeiner Religion Zuflucht suchen – aber finden kann man dort ein Sehen auch nur, wenn man selber sieht. Es sei denn, man begnügt sich mit Wörtern, die möglichst viel bedeuten, aber man weiß nicht was. So etwas nannte Karl Kraus „Phrasen“. Wenn man im Sehen schwach ist (das kann passieren), muß man versuchen, es zu lernen, und dass kann man nur durch learning by doing – notfalls durch Lesen, denn das ist auch ein Sehen, aber ein verfängliches, weil es durch rasches Weitereilen und viel Übersehen gekennzeichnet ist. Aber auch durch notwendige Erhebung zur noesis.

Zum Beispiel verhilft das Weiterlesen im Abschnitt 8 des Buches XII zur sozusagen televisionären Einsicht, dass die da genannte platonische Ideenlehre, wie schon ihr Name sagt, dass der wichtigste „Gegenstand“ der platonischen Lehre keineswegs irgendein Eines oder eine große Einheit ist, sondern eine – allerdings nicht abzählbare – Vielheit von – ja von was? – ist. Von „Ideen“ - das heißt von „Sichten“. Auch Platon, der dem Religiösen vielleicht näher stand als Aristoteles, hat für die Gewinnung dieser Erfahrung und für die Erarbeitung dieses Begriffs kein christliches Paradies aufgesucht. 

 

Kein Hiesiger war je in dem Paradies – also kann auch keiner dort etwas erfahren haben – schon gar nicht das Sehen.

 

Um auf der Metaebene weiterzuschreiben: ein unentbehrliches Stück der Noetik ist die Optik. Und zu der empfehle ich die Lektüre der „Grundsätze der Optik“ in der Physik des Daseins.[2]

 

Die noetische Tätigkeit ist aber auch mit dem Sagen verwandt und dieser Bedeutungsaspekt geht in die Richtung von Behaupten, Affirmieren, Geben. 

 

Zur Kinetik: 

Die am häufigste gebrauchte begriffliche Fassung für das erste Prinzip lautet das „unbewegte Bewegende“ – eine Zusammenstellung, die den Begriff der Bewegung verdoppelt und seine Affirmation mit seiner Negation verbindet, wobei das affirmierte Aktiv so schwach ist, dass es bei ihm selber anscheinend gar keine Wirkung erzielt, es wirkt nur und das ist schon alles, es passiert gar nichts, es wird von seiner Bewegungstätigkeit gar nicht beunruhigt oder in Mitleidenschaft gezogen, es leidet nicht, es ist nicht passiv, es ist nur ungestört aktiv. Es „passiert“ gar nichts, weil es in sich so einen riesigen Spielraum hat, der jede Veränderung, die sich aus der Aktivität ergeben könnte, eigentlich müsste, durch die Überlegenheit einer Intelligenz abfedert, weil die gesamte Aktivität in Erkennen, Verstehen, Lieben nicht aufgehoben ist sondern nur darin besteht. Es handelt sich ja in dieser aristotelischen Konzeption um ein souveränes Tier, dem „alles egal“ ist – gerade weil es aus einem durchgängigen, umfassenden, selbstverständlich triumphierenden „Es ist nicht egal was geschieht“ besteht.[3] Dieses siegreiche „nicht egal“ – das ist sein Standpunkt, aber „Standpunkt“ ist zu klein, das ist seine „Linie“, Linie ist schon besser, aber immer noch zu eng - wirkt sich für es selber so aus, dass es unerschüttert bleibt, gerade weil es in durchgängiger durchgehaltener aufrecht erhaltener Wissendheit besteht, die von keinen inneren Wechselfällen unterbrochen wird und folglich auch nicht von äußeren beunruhigt werden könnte, weil die Aufrechterhaltung der Wissendheit zunächst einmal alle Beunruhigungen auf Distanz halten würde, indem sie sie zur Kenntnis nimmt. 

 

Die Aufrechterhaltung einer intensiven kognitiven, emotionalen, volitiven Haltung – diagogehabitudo – und keineswegs die Ruhigkeit eines Steins, bildet den Kern der Charakterisierung des „unbewegten Bewegenden“. (Wie die antiken Atomisten sagen allerdings auch die heutigen, dass sich die Ruhigkeit eines Steins der hartnäckigen Regelmäßigkeit von mikrophysikalischen Bewegungsabläufen verdankt).  

 

Bewusstsein ist die Aufrechterhaltung eines hohen bei uns immer fragilen Niveaus, eines Erkenntnis-, Gefühls-, Willens-, Könnensniveaus. Bei der von Aristoteles herbeigeschriebenen noesis noeseos handelt es sich um ein allerhöchstes aber wunderbarerweise nicht fragiles Niveau. Dieses wird in erster Linie mit dem Doppelbegriff „unbewegtes Bewegendes“ bezeichnet, der sich stark an die ontologischen Begriffe „Verwirklichung“, „Vollendung“ anlehnt. 

 

Diese verzweigen sich einerseits in die noetischen Begriffe, die man der Psychologie zurechnen kann, andererseits in die kinetischen Begriffe, die in Richtung Physik gehen. Tatsächlich aber überlappen sie sich. 

 

Das „unbewegte Bewegende“ habe ich jetzt als immanenten Zustand betrachtet. Aber das „Bewegende“ ist auch nach außen gerichtet – es macht etwas mit dem, was außerhalb des Prinzips liegt. 

 

Was macht es mit dem? Es hat es nicht erschaffen, aber das Außerhalb bringt zunächst einmal die Tatsache mit sich, dass es ein Außerhalb gibt und damit so etwas wie Raum und Orte, die sich dem Einfluß oder der Ausstrahlung des Prinzips nicht entziehen können, zumal sie selber Denkwesen enthalten, die das Prinzip wahrnehmen, bewundern, nachahmen und sich dadurch von ihm bewegen lassen. Sie reagieren psychisch-noetisch auf die psychisch-noetische Macht des Prinzips und eben dadurch reagieren sie physisch-kinetisch: sie werden bewegt. Sie sind die „ersten“, die „nächsten“ Bewegten, Sich-Bewegenden überhaupt. Sie bewegen sich räumlich-geometrisch, sie bewegen sich lokal, also von Ort zu Ort, und Aristoteles steht nicht an, die Ortsbewegung, die uns banal oder grob erscheinen mag, zur ersten Veränderungsart überhaupt zu erklären. Ortsbewegung von Denkwesen, die auch Körper sein oder haben müssen – nur mit denen gibt es Ortsbewegung. 

 

Ewig und synchron koexistieren das Prinzip und, was zunächst von ihm in Bewegung gesetzt wird. Also das Unbewegte und das Bewegte. Primär wird in einer einfachen Ortsbewegung das All bewegt, also die Gesamtheit der außerprinzipiellen Wesen, in einer sozusagen pauschalen Gesamtbewegung. Dazu beziehungsweise darin gibt es noch Einzelbewegungen der Planeten, die jeweils ihren Bahnen folgen, die kreisförmig sind. 

 

Walter Seitter 

 



[1] Siehe Michel Foucault Archäologie des Wissens (Frankfurt 1973): 161ff.

[2] Diese Streitfrage ist so wichtig, daß ich einen aktuellen Zeitungsartikel heranziehe, um eine längere Fußnote anzuhängen. Sie geht in ihrer Bedeutung weit über jedwede Aristoteles-Exegese hinaus (die heute im Unterschied etwa zum 13. Jahrhundert ohnehin kein öffentlicher Kampfplatz erkenntnispolitischer Art ist) – es handelt sich nämlich darum, ob der Vernunft in philosophischen Fragen eine gewisse Autonomie zuzusprechen ist oder ob sie sich jederzeit von der Religion, von welcher Religion?, führen lassen muß, um nicht in die Irre zu gehen. 

 

Die Frankfurter Allgemeine vom 10. Juli 2021 bringt einen Aufsatz mit dem Titel "Vernünftige Gedanken auf der Würfelwiese", in dem Friedrich Christian Delius an den zwar berühmten aber heute völlig ungelesenen Philosophen Friedrich Wolff (1679-1754) erinnert. Immerhin hat mir mein Wiener Kollege Werner Gabriel vor wenigen Jahren mitgeteilt, daß er ein Seminar zu Christian Wolff veranstaltet, und dabei bezog er sich auf die Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, die Wolff, der hauptsächlich als Mathematiker und Rechtsgelehrter tätig war, 1721 in Halle vorgetragen hat und sofort Skandal machte. Denn darin hat er nach Lektüren von Konfuzius (ca. 551–479) und Menzius (370–290) behauptet, daß die Chinesen (im Lateinischen weiblich sinae genannt) ausführliche Anleitungen zu sittlicher Erziehung, zu praktischer Nächstenliebe und zu weisem politischem Handeln kannten, ohne Christen zu sein, gar auch ohne religiöse Orientierung an einem Gott. Diese Ausführungen lösten den "Hällischen Streit" aus – mit professoralen Spionageaktionen, natürlich mit Anzeigen am Königlichen Hof (der preußische König hatte ja das Amt des Universitätsrektors inne). Es dauerte immerhin zwei Jahre, bis der König vom angeblichen Atheismus des Philosophen überzeugt war: "ich habe das nit gewuhst das der wolf so gottlose ist". Dann aber erging ein Befehl: binnen 48 Stunden das Land verlassen oder Strang. Wolff ging ins hessische Marburg, wo er erfolgreich weiterwirkte. Nach 15 Jahren erreichte man beim König die Bereitschaft zur Rehabilitierung; aber erst der junge König, Friedrich II., hob 1740 die Verbannung auf. 

 

Dabei ging es um die Frage, ob richtiges sittliches, soziales, rechtliches Handeln philosophisch erörtert und empfohlen werden kann, ohne daß man christliche Lehren dazu heranzieht. Es geht also um Fragen der "praktischen Philosophie", die nach allgemeiner Ansicht der Kompetenz der Religion nicht ganz fernstehen. Selbstverständlich würden auch die einschlägigen Schriften des Aristoteles den Anspruch erheben, zu diesen Fragen überzeugende Argumente zu liefern.

 

In unserer Aristoteles-Lektüre stellt sich das Problem noch radikaler, weil wir uns im Bereich der theoretischen Vernunft aufhalten und jetzt sogar mit dem zentralen Punkt der Theorie beschäftigt sind, der im bloßen Sehen seine Basis hat. Wenn Wolfgang Koch sogar diese elementare menschliche Leistung und Erfahrung nur über das "Paradies" für zugänglich hält, dann entfernt er sich weit von einer Vernunftauffassung, innerhalb deren Diskussion möglich erscheint.

[3] Siehe Walter Seitter: Menschenfassungen: 246-