τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 21. Juli 2021

In der Metaphysik lesen (1074a 14 – 1074b 14)

Aristoteles kommt bei der Anzahl der Sphären auf 47 – die darin sich vollziehenden Bewegungen sollen sämtliche Ortsbewegungen erklären können, sofern diese immer auf eine Sternbewegung hinzielen, also auf die Bewegung einer unaffizierbaren und besten Natur und Wesenheit. Diese Zählungen können nur dann als sinnvoll betrachtet werden, wenn sie sich auf eine bestimmte Zone des Himmels festlegen lassen. Was mich erstaunt, ist die Tatsache, daß Aristoteles in 1074a 16 die unbewegten Wesen und Prinzipien in den Plural setzt, obwohl sie doch Ortsbewegungen durchführen - in einer Klammer der Loeb Classical Ausgabe werden sie sogar als „wahrnehmbar“ bezeichnet. Was wiederum damit zusammenpaßt, daß diese Wesen „Körper“ genannt werden – allerdings „göttliche“ (1074a 31).

 

Der Übergang von dem einen rein noetischen Ersten Prinzip zu den anderen Wesen, die körperlicher Natur sind, scheint also bruchartig zu sein. Trotzdem gibt es eine Zone und eine Gattung von Körpern, die dem Ersten Bewegenden näher stehen. Das ist die Zone des immerzu und ununterbrochen Bewegten, die Aristoteles mit dem einen Himmel identifiziert (1074a 37).

Man könnte hier wohl von dem Ersten Bewegten sprechen, muß aber gleich hinzufügen, daß es in sich pluralisch strukturiert ist.

 

Damit ist die theologische Systematik oder Konstruktion des Aristoteles umrissen – trotzdem empfiehlt es sich weiterzulesen, denn die aristotelische Vorgangsweise ist das Weiterschreiben, mit dem auch dann noch etwas zur Sache gesagt wird, wenn es nur Nach- oder Randbemerkungen liefert oder wenn nur Eigentümlichkeiten der Schreibweise oder Sprechweise dem Verständnis helfen beziehungsweise nachhelfen könnten. 

 

Jetzt bettet Aristoteles seinen systematischen theologischen Entwurf in seine kulturelle Situation ein, in der es bereits Götterlehren gegeben hat, und er versucht auch zu sagen, wozu diese oder andere gut sein mochten. 

Von den Vorfahren sei in mythischer Form, das heißt in Form von Erzählungen überliefert worden, daß „diese“ Götter seien und daß das Göttliche die gesamte Natur umfasse. Wieder also das Substantiv „Gott“ und das Adjektiv „göttlich“. Aber das Subjekt des ersten Satzes heißt nur „diese“ (maskulin Plural). 

 

Mein Grazer Übersetzer interpoliert „diese Himmelskörper“, was dem Sprachduktus des Aristoteles hier nicht genau folgt, aber sachlich die Zeile 1074a 30 aufgreift und vor allem das Verdienst hat, den physikalischen Ansatz der griechischen Theologie (gleich welcher) noch einmal in Erinnerung zu rufen (der Begriff „Körper“ wird nämlich von Aristoteles selber sogar in der Physik nur selten eingesetzt, was deren Verständnis nicht eben gefördert hat).

Die Götterlehren hätten dann noch für die Menge der Leute schöne Geschichten erfunden, aber auch Nützliches und Gesetzesartiges verbreitet. Mit beiden Bemerkungen scheint sich Aristoteles an Platon anzuschließen und er hebt hervor, daß die Götter „menschengestaltig“ und auch den anderen Lebewesen (Tieren) ähnlich vorgestellt worden seien, wovon er sich etwas zu distanzieren scheint (immerhin haben wir in seiner eigenen doch sehr anspruchsvollen Gotteskonzeption auch solche Ähnlichkeiten festgestellt). 

Insofern jene Überlieferungen die Götter für die „ersten Wesen“ hielten, hätten sie wahr ja „göttlich geredet“ (1074b 9). Mit dieser Ausdrucksweise scheint Aristoteles das Adjektiv „göttlich“ über die Götter hinaus zu applizieren – es sei denn er will andeuten, die Götter selber seien im mythischen Reden tätig gewesen, womit ihnen tatsächlich so etwas wie eine Offenbarungsaktivität, eine Selbstoffenbarung unterstellt werden würde, was den mythischen Göttern noch eher zuzutrauen sein könnte als den ca. 40 aristotelischen Göttern, die alle bis auf den einen unkörperlichen in den entferntesten Himmelskörpern zu lokalisieren wären. 

Trotz dieser Ungewißheiten ist die aristotelische Schreibung von dem „göttlich (adverbial) geredet“ wohl ernst gemeint, zumal ihr auch eine kulturhistorische und kulturgeographische Deutung angefügt wird, die als mögliche Träger jener göttlichen Rede angesehene, bei den Griechen angesehene Kulturinstitutionen namhaft macht, nämlich Kunst und Philosophie – und zwar weniger als großartige Errungenschaften sondern als öfter gefundene und wieder verlorene, als in der Geschichte verstreute und fragile Ansicht, die bei den Vätern und Vorvätern aufgetaucht ist. 

 

Indem solche Überlieferungen unter den Begriff „Ansicht“ gefaßt werden, wird ihre kognitive Qualität doch wiederum etwas herabgestuft, was bei ihrer Vielzahl und ihrem Erhaltungszustand – man mag auch an die uns verbliebenen Reste der Vorsokratiker denken – nicht verwundert. Immerhin betont Aristoteles, daß sich bestimmte Aussagen doch identifizieren lassen und insofern schließt er hier wieder ans Buch I an, wo die frühesten Zeugnisse der Ursachenforschung genannt worden waren.

 

PS.: Heute Mittag saß ich vor dem Café Korb, von dem eine schmale und kurze Gasse auf die Peterskirche zuläuft und aus ihrem Baukörper, der zu einer hohen Kuppel emporragt, einen Ausschnitt herausschneidet, welcher der Kirche und vor allem der Kuppel eine geradezu römische Monumentalität zuphantasieren hilft. 

Und da las ich einen kleinen Kommentar zu Ernst Kantorowicz (1895-1963), der im Jahr 1933, als er seine Antrittsvorlesung über das „Geheime Deutschland“ vorbereitete, diese als eine „Divina comedia teutsch“ verstand, eine halb wissenschaftliche, halb artistische Skizze zu einer notwendigen Ansicht im Sinne einer Vision „der Türme der wahren Stadt“, zu einem notwendigen Begriff der Gerechtigkeit.[1] 

Für Dante gehörte Aristoteles zu den Vorfahren seiner Konzeption, so wie Kantorowicz sich als „Dante-Enkel“ berechtigt fühlte, „den festen Blickpunkt in den Wirrnissen, in denen sich jeder innerlich befindet, geben zu können“.  

Die mächtige und doch weiche Kuppel der Wiener Peterskirche erscheint wie ein sehr sinnliches Symbol für vielleicht Zukünftiges.

 

Walter Seitter


[1] Siehe:  Tumult Schriften zur Verkehrswissenschaft 16: Ernst Hartwig Kantorowicz Geschichtsschreiber (1992). Hg. Walter Seitter

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