τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 31. Oktober 2023

In der Metaphysik lesen*Hermann – Lektüre 33 (78vA - 79rE) Seite 222, Z 20 bis Seite 228, Z 16 bei Burnett.

Mittwoch, den 18. Oktober 2023

 

Nachdem Hermann einen Kreis durch Toledo gezogen hatte, der parallel zum Äquinoktialkreis ist, also ein Breitengrad sein muss, versucht er den Abstand von einem zentral angenommenen Meridian zu bestimmen, und zwar mit 62 Grad. Wo der Kreis durch Toledo einen Kreis schneidet, der den umfließenden Ozean, Amphitrite, nachzeichnet, dort wird die Stadt Lissabon eingezeichnet, weil dort der Fluss Tejo in den westlichen Ozean mündet, der in der Nähe von Toledo entspringt. Hermann verlängert die Strecke bis zur Grenze der Hemisphäre und stellt eine Strecke von 44 Tagesreisen von Toledo aus fest. Dieser Punkt soll genau in der halben Breite von Amphitrite liegen, und Hermann fragt sich nach der Begründung, was daran gehindert hat, diesen Raum zu überschreiten.

Dieser Raum war schon überschritten worden, denn Hermann vermutet dort das Paradies und stützt sich dabei auf Berichte von Historikern, die von den Inseln der Glückseligen sprechen, das ist die lateinische Übersetzung „insulae fortunatae“ von griechisch μακάρων νῆσοι makárōn nḗsoi, wörtlich Inseln der Seligen, die von Herodot bis Plinius dem Älteren erwähnt werden. Gemeint waren die Kanarischen Inseln. Das Paradies hat aber auch ein Gegenstück im Osten, weil von dort Geschichten von Männern überliefert wurden, die zuerst in dieser Region erschaffen wurden. Im biblischen Paradies des Ostens haben eine Reihe von Dingen begonnen, die allmählich von dort in die Welt vordringen, und weil es dort Arten von Tieren gibt, die uns noch nicht erreicht haben. Plötzlich sind wir von der Geographie zur Zoologie gewechselt, obwohl zuerst teilweise mythische Lebewesen abgehandelt werden, wie Riesen, Greife oder Einhörner, die aber nicht im Mittelmeerraum gelebt haben, außer die Zentauren in Griechenland und die Zyklopen in Sizilien.

Einige der Tiere, die uns in Europa noch nicht erreicht haben, wie Tiger, Panther, Löwen oder Strauße, sind schon bis zu den äußersten Grenzen Libyens vorgedrungen, oder wurden von den Menschen nach Spanien gebracht wie Wildesel oder Kamele. Die Ausbreitungsgeschichte der Tiere wird noch durch die Überschwemmungen der Sintflut akzentuiert, dass eben dadurch Inseln entstanden seien und nach dem Zurückweichen des Wassers sich wieder Landbrücken gebildet hätten. Das sich wilde Raubtiere auf Inseln befinden, spricht dafür, das sie dorthin gebracht wurden, wie Hermann auch die Wildtiere handelnden Berber, die in der Antike Garamanten genannt wurden, erwähnt mit Ihren Schlangen und Elfenbein.

Damit kehrt Hermann wieder zu den Berichten der Geographen an die Grenzen Indiens zurück, die von den höchsten Bergen versperrt werden, aus denen der Fluss Ganges hervorbricht. Da der Fluss das Indische Blatt, für den englischen Übersetzer sind Smaragde und Rubine gemeint, mit sich bringt, die die Einwohner sammeln und die so auch zu uns kommen, schließt Hermann, dass der Fluss aus der Nachbarschaft des Paradieses kommen wird. Als gleichwertiges Beispiel erwähnt Hermann noch die Quellen des Tigris und Euphrat, die in den Bergen Armenien entspringen, wobei er von den Akroceraunischen Bergen spricht, die eigentlich in Epirus liegen würden, die Quellen der beiden berühmten Flüsse liegen tatsächlich im damaligen Armenien, heute Türkei.

Die Quellen des Nil sind weiter unbekannt, dafür wird als Gewährsmann Solinus erwähnt, obwohl als Hinweis der Abfluss des Juba angeführt wird, der unterhalb von Mauretanien in den Ozean fließt. Dass der Juba als Fluss im somalischen Hochland Äthiopiens entspringt und in Somalia in den Indischen Ozean fließt, ist erstaunlich nahe beim Ursprung des Blauen Nils, der auch in Äthiopien entspringt. Die Stadt Juba liegt am weißen Nil und ist die Hauptstadt des Südsudans. Hermann schließt das Kapitel der bewohnbaren Welt mit dem Hinweis, dass die Mineralien, Pflanzen und Tierarten dieser Gegend weder artificiosum noch compendiosum seien. Der englische Übersetzer entscheidet sich für praktisch und profitabel, man könnte weniger wie ein Kaufmann auch kunstfertig und vorteilhaft übersetzen, aber wahrscheinlich ist eher die englische Version richtig, denn Hermann war doch Jahre mit dem Engländer Robert Ketton in einer Arbeitsgemeinschaft und Freundschaft verbunden.

 

Die Ätherische Gattung der Tiere

 

Eigentlich keine Tiere im engeren Sinne, sind die drei Arten von ätherischen Lebewesen, die neun Ordnungen der Engel, die gefallenen Engel und die Seelen der Toten. Sie alle haben irgendeinen Umgang mit den Menschen, sei es als Strahlen wie die Engel oder als Ausdünstungen der Erde wie Vulkane, heiße Quellen oder Rauch aus Höhlen wie die Geister der Unterwelt. Dabei erwähnt Hermann den Theologim aus Äthiopien, gemeint ist laut Burnett Theon Ochema - „Götterwagen“, der Vulkan Fako in Kamerun, der aus antiken Quellen schon bekannt war.

Für die menschlichen Geister ist es notwendig zu einer der beiden anderen zurückzukehren im Himmel oder auf die Erde. Diese Gattungen sind an sich gleich, keiner Zusammensetzung und keiner Auflösung ausgesetzt, nur dass die menschlichen Geister nur von damals bis heute existieren.

 

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächste Sitzung: 8. November 2023 – Hermann lesen

Montag, 30. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XXI

 29. Oktober 2023

 

Ist kein Wein da, so genügt das Wasser – das schon da ist.

 

Was schon da ist, ist das Nächste, das zufällig da ist. Wenig und nicht mehr als wenig. Nec plus quam minimum – das ist die Definition des clinamenTantum paulum – das Geringstmögliche, das ausreicht, um eine Bewegung zu modifizieren. Das ausreicht, um mein Wünschen zu befriedigen.

 

Das Wenige unserer Wünsche, das Wenige der Dinge, die unsere Wünsche befriedigen können – das ist im wahrnehmbaren Endlichen die inclinatio unseres Willens, unserer Freiheit, unserer Wollust. An ihrer Wurzel ist die Bewegung der Seele ein Differenzial, eine Fluktuation, derselbe Abstand zum Gleichgewicht, wie derjenige, der den Fall der Atome verändert. Das Leben gemäß der Natur bleibt in der Nachbarschaft der Geburt der Dinge, ihrer modifizierten Bewegung: der Weise bewohnt den minimalen Abstand, den Raum zwischen dem Wenigen und dem Keinen, den Winkel zwischen dem Gleichgewicht und der Abweichung. Das ist der Ort des Notwendigen und des Naturgemäßen. Darüber hinaus gibt es nur leeres Wachstum und Überflüssigkeiten: große Übel und große Medizinen. Folglich reduziert sich alles auf eine Grenzwertberechung, eine Grenzwertabschätzung – und das ist wiederum archimedisch. 

 

Und das heißt: die Geschichte und die Politik vermeiden, diesen ständigen zunehmenden Wirbel. Sich mit dem Begrenzten begnügen. Sein Nest beim Anfänglichen bauen, im kleinen Garten, wo die Feigen wachsen. Beim Wenigen und beim Keinen, beim Gleichgewicht und bei der horizontalen Isonomie. 

 

Der Weise ist ganz was anderes als der Tod – denn der ist ein Schnitt – und aus. Ein Ort ohne Teile und ohne Nachbarschaft und ohne Neigung. 

 

Der Weise gemäß der Natur wird vom Tod nicht betroffen. Er folgt denselben Regeln wie die Natur. Er kennt die Physik und folglich verhält er sich moralisch. 

 

Der Weise meditiert in der Nachbarschaft über die Nachbarschaften, über die lokalen Mathematiken. 

 

Die Physik der Fluktuationen präsentiert lokale Lösungen: Grenzen, Singularitäten, Abflüsse, Abstände, minima, maxima.

 

Eine Physik der Pluralität der Welten und ihrer Zeitlichkeit. Die Vernunft, die da am Werk ist, die globalen Mathematiken: Potenzialitäten, Wirrnis, Grausamkeit. Diese Vernunft ist schwierig und nichtig. Sie bedeckt die Erde mit Toten und verbreitet sich wie die Pest.

 

Die Ethik des Gartens, die sich darüber wundert, ist eine Ethik des Lokalen. Der Garten ist nur ein kleiner Ort,da geht es um das Nächste, um das Wenige. Daher empfiehlt es sich, seine Grenzen nicht zu überschreiten.

 

Die Lust liegt in der Intensität, nicht in der Dauer, in der Verlängerung der Zeit. Man ziehe sich zurück, bleibe unbemerkt. Wozu auf Reisen gehen, die Meere durcheilen, die Welt bereisen? Wie die Kyrenaiker, die Schüler des Aristippos (435-355), sagen, es komme auf das an, was in der Nähe ist: die Seele und um ihn herum der Körper, der Garten, die Nächsten. Das Individuum ist Körper mitsamt den Bewegungen der Seele: Freiheit, Wille, Wollust.

 

Die Lust ist das Regulativ seiner Existenz – nur muß sie ständig vor dem Grenzenlosen bewahrt werden. Der Tod vernichtet weil er die Grenzen aufhebt.  

 

Dieser Lehre steht der stoische Weise gegenüber, der ein Weltbürger ist. Er lebt und denkt in Ausweitungen. Seine Physik ist global, seine Mathematik gleichfalls. Sein Ort ist nicht der Garten, sondern der Hafen, die Öffnung zur Welt. 

 

Seine Mathematik ist global, weil seriell. Die Serien und die Serien der Serien machen die Totalität aus, sie bilden die Gewebe des Systems, des Universums, der Notwendigkeit. An manchem Ort schneiden sich die Serien zu Sternen, ein solcher Ort konspiriert dann mit jedem Ort. 

 

Dieses Theorem ist unabänderlich, es gilt für den systematischen Diskurs, für die Physik der Welt, für das moralische Verhalten. Es gibt immer mindestens einen seriellen Weg für irgendeine Verlängerung. 

 

Das Universum ist offen, ein Tropfen Wein löst sich im Meer auf, verbreitet sich überall und löst sich überall hin auf, erzeugt eine stetige, abnehmende und endlose Serie. Sie ist ein totaler Teil des Meeres. 

 

Mathematik, Physik und Moral der analytischen Ausweitung. Vom Lokalen ist der Übergang zum Globalen jederzeit möglich.

Der stoische Weise ist in seiner Familie, in der Gesellschaft, in seinem Vaterland und in der Politik immer für alles zuständig, er ist der integrale Weise.

Der epikureische Weise hingegen hat sich vom Lärm des Forums zurückgezogen, lebt in seinem Garten, von seinen Freunden umgeben, - der differenziale Weise. Kein System, kein Universum, keine Totalität, keine Konspiration, keine Spannung und keine Verschmelzung. Sein einziges Grenzenloses ist das Leere, und die Keime des Realen sind atomisch verteilt.

Wie steht es mit den Verlängerungen?   

 

Läßt man sie nicht zu, schneidet man sie ab, so wird der religiöse Diskurs beschnitten. Denn die Religion verbindet das Unzusammenhängende - erste Definition des Mythos. Der epikureische Weise trennt das Zusammenhängende auf, er löst das Religiöse auf, von dem er sich nicht ganz löst. Er zerlegt die Knoten und kappt die Anschlüsse. Der Atomismus ist im Raum und in der Welt irreligiös: die Prinzipien sind durch Leerraum getrennt. 

 

Sofern jedoch die Religion das Verknüpfte aufknüpft, kehrt die Physik zur Religion zurück. Dann ist „Atom“ dasselbe Wort wie templum - der Tempel eine Herausschneidung einer lokalen Besonderheit aus dem globalen Raum. 

 

Daher das Paradox einer Anrufung der Venus – gefolgt von einer strikten Verdammung der Ermordung Iphigenies. So bleibt eine Frömmigkeit übrig: die Götter in ihrer olympischen Singularität, in ihrem privaten Ausweitungsraum, in ihrem großartigen Garten zufrieden lassen.

 

Wir sind von den Göttern gelöst. Der Raum ist nicht so homogen, daß zwischen ihrem Aufenthalt und dem unsrigen ein Zusammenhang möglich ist.

 

Gelöst, getrennt werden wir selber Götter sein in unserer Begrenztheit. Ohne einen grenzenlosen Raum, der sich totalisierenden Ursachen, globalisierenden Blicken oder Kräften verdanken würde. Der reale Raum ist eine Anordnung von Gärten: Atomismus.

 

Entweder ist die Welt ein Universum oder sie ist es nicht. Entweder ist das Wissen System – die Stoiker haben das Wort für ihre Philosophie eingeführt – oder es ist nur Pluralität. Zwei Mathematiken regulieren diese beiden Zustände: eine globale und ausweitbare und eine andere aus singulären Varietäten.

 

Ist der Übergang vom Lokalen zum Globalen immer möglich?   

 

Mit der sogenannten modernen Wissenschaft, wie sie am Anfang der Neuzeit erscheint oder wieder erscheint, ist diese Frage – angeblich – entschieden und positiv entschieden. Mit dem seriellen System, mit dem leibnizischen Netz, mit der actio in distans, mit der Integralrechnung scheint die oben formulierte Frage affirmativ beantwortet zu sein – obgleich sie niemals gestellt worden ist. 

Da kommt merkwürdigerweise Lukrez dazwischen. Hier und jetzt - das sind singuläre Lokaltäten. Vielleicht sind jene Übergangsmöglichkeiten nur Vernuftphantasmen? Die abendländische Vernunft behauptet sie seit vier Jahrhunderten. Gott muß sie ihr eingegeben haben.

 

Wenn etwa der Übergang doch nicht möglich wäre? Oder jeweils nur unter diesen oder jenen Bedingungen, die jedesmal singulär wären? Dann müßte die Enzyklopädie, die als globale Wissensform von Leibniz, dem Erfinder der Integralrechung, konzipiert, von d‘Alembert realisiert und von Hegel gedacht worden ist, da und dort in Frage gestellt und vielleicht in ihre Stücke zerlegt werden und das alte Reich der Philosophie würde erschüttert.

 

Wo der Hafen der Herr war, da kommt der Garten wieder zurück. Hier und jetzt sind nicht unbedingt die Bedingungen für eine komplette dialektisch vermittelte Expansion des Geistes gegeben. Und die Historie ist nicht mehr eine einheitliche Totalitätserzählung. Sie endet eines Tages – mit der Pest in Athen. Und anderswo – Orte und Zeiten unbestimmt – tritt sie wieder auf.

Eine andere Vernunft ist im Kommen und Lukrez hat sie gezeichnet. 

Die Weisheit des Gartens hatte schon geahnt, daß jede Expansion mit Gewalt zu tun hat. 

 

Agamemnon will, nachdem er die Fürsten gesammelt hatte, das Meer überschreiten und tötet da und dort und so weiter. Epikur möchte Ulysses nach Ithaka zurückholen und vertritt die Position von Montesquieu gegen die zentralisierte Monarchie. Selber Kurzschluß-Blitz über dem hegelschen System – dieser Reise-Blase aus Negativen, Reise-Wirbel aus Wachstum und Verfall.

 

Demgegenüber ist der Garten eine defensive Veranstaltung, der sich auch mit der Wissenschaft befestigt gegen das Steigen der Wasser und gegen die Pandemie. Und man erzählt sich – unter Freunden – einige Lustgeschichten, in denen Venus die beste Rolle spielt. Venus, die über der Brandung, über der Gischt, auf dem Spritzen geboren wird. 

Der Garten ist eine Insel, ein Gipfel, eine Bleibe. Wenn ein jeder König in seiner Stadt geblieben wäre, im Schutz seiner Mauern, hätte der Trojanische Krieg nicht stattgefunden.  

 

Wenn die Gewalttätigkeit eine Expansion ist, heißt das auch, daß jede Expansion gewalttätig ist? Lukrez antwortet nicht direkt auf diese Frage, aber sein Text scheint eine affirmative Antwort zu enthalten. Die epikureische Sezession, der Rückzug und die Abgeschiedenheit sind Praktiken des Friedens und der Heiterkeit, die sich von der Gewalt und vom Tod so weit wie möglich entfernen. 

 

Das läuft darauf hinaus, daß außerhalb des Gartens die Schlacht und die Pest wüten und das Forum mit Leichen bedecken. 

 

Nun scheint es, und das ist der Punkt, daß in unserer Kultur eine bestimmte Art von Vernunft die besagten Expansionen postuliert und praktiziert. 

 

Das Wissen ist eine Odyssee mit allem Drum und Dran, vorher und nachher.

 

Nach dem Zyklus der Ereignisse posiert das absolute Wissen. Es scheint also einiges dafür zu sprechen, daß diese Art von Vernunft auf Gewalt und Tod aus ist.

Kann man das Risiko der Vernunft, dieser Vernunft und dieses Wissens eingehen – das ist die Frage. 

 

Muß man, darf man das Risiko der Wissenschaft eingehen? 

 

Im Garten sagt man: nein! Die Epikureer kritisieren die Wissenschaft – wie wir es heute tun würden. 

 

Nicht die gesamte Wissenschaft, nicht die Wissenschaft als solche, aber diese Wissenschaft da, diese Vernunft da, die auf die Wege der Totalisierung, der Gewalt, der Herrschaft und des Imperiums führt.

 

Die Epikureer suchen nach einer anderen Wissenschaft und einer anderen Vernunft, die auf die Lust und das Glück zielen.

 

Wir, die Leute des totalitären, universalistischen und universitären Jahrhunderts, haben teuer dafür bezahlt, daß die Epikureer nicht unrecht hatten mit ihrem Mißtrauen. 

 

Auch die Enzyklopädien sind Imperialismen. Der Despot ist derjenige, der das Lokale dem Globalen opfert. So schreibt er die Geschichte – mit lauter rationalen Erweiterungen.

 

Es gibt nur lokale Lösungen der Vernunft und der Wissenschaft.

Die Weisheit des Gartens, die Weisheit meines Vaters Montaigne, die Weisheit der Erde – ist auch die unsere. Sie ignoriert nicht die Wissenschaft.

 

Man muß dreißig und mehr Physik-Bücher gelesen haben, um eines Tages dahin zu kommen. 

 

Und wir werden kein Vertrauen mehr in die Vernunft fassen, solange wir nicht irgendeine neue Vernunft erdacht haben werden.

 

Oktober 1970 – Juni 1977 (226ff.)

 

                                 

Zuletzt hat Michel Serres in eigener Sache gesprochen und angedeutet, wann und wie er seine opulente Lukrez-Paraphrasierung zusammengebracht hat.

 

Eine Physik-Geschichte eigener Art. Sie setzt in der Antike ein – ein bißchen, nachdem die lateinische Sprache begonnen hatte, die griechische als Leitmedium abzulösen.

 

Obwohl er sich nicht als Physiker bezeichnet hat (wiewohl er auch so einer war, man denke an seine Bücher über die Fünf Sinne, über die Malerei von Carpaccio, über die Feuer und Rauchzeichen bei Zola), nimmt er sich selber nicht ganz und gar heraus aus der Physik-Geschichte, der abendländischen. Und seine Leser auch nicht.

 

Walter Seitter

Sonntag, 29. Oktober 2023

In der Metaphysik lesen (1091a 23 – 1091b 19)

25. Oktober 2023

 

Aristoteles setzt die Besprechung der Zahlenlehre fort, in der seine Gegner hauptsächlich die Pythagoreer sind, die häufig mit den Platonikern identifiziert werden.

 

Die Unterscheidung zwischen den geraden und den ungeraden Zahlen spielt da eine wichtige Rolle, ja sie wird in bezug auf die „Entstehung“ sehr stark betont. Platon und seinen Anhängern wird unterstellt, daß sie die gerade Zahl als erste aus dem Ungleichen hervorgehen lassen, und aus der Art ihrer Beweisführung schließt Aristoteles, daß sie diese Überlegungen nicht um der Theorie willen anstellen.

Er selber springt daraufhin zu einer Frage, die ganz offensichtlich auf der Ebene der Theorie liegt: nämlich zur Frage, wie sich die Elemente und die Prinzipien zum Guten und Schönen verhalten.

 

Wenn diese Frage eine theoretische im engeren Sinn ist – welcher Begriff von „Theorie“ wird da vorausgesetzt?

 

Vermutlich werden sowohl die Elemente und Prinzipien wie auch das Gute und Schöne zum Theoretischen gezählt.

 

Während die davor eingeführten geraden und ungeraden Zahlen sowie die Begriffe des Gleichen und Ungleichen offensichtlich als weniger theorienah gelten.

 

In welchen Bereich gehören dann diese? Doch wohl in den Bereich der Mathematik – und gehört diese nicht zur Theorie?

 

Was gehört für Aristoteles in den Bereich der Theorie? Darüber spreche ich am 6. November in der Weinhandlung VINOE, dieses Protokoll wird am 25. Oktober geschrieben und erst am 6. November vorgelesen.

 

Nun, die Mathematik und mit ihr die Zahlenlehre gehören sehr wohl in die Theorie, aber die anderen vier Begriffe scheinen Aristoteles einen um so viel höheren Rang einzunehmen, daß im Vergleich zu ihnen den mathematisch-theoretischen Fragen der Theoriecharakter abgesprochen wird – was ein sogenannter gesunder Hausverstand kaum akzeptieren möchte, denn ein Fußballspiel zwischen den Kindern des Dorfes ist eigentlich ebenso ein Fußballspiel wie eines mit hochbezahlten Fußballstars.

 

Aber in welche Theorie-Abteilung gehören nun die Elemente und Prinzipien einerseits, das Gute und Schöne andererseits?

 

Wenn sie nicht in die Mathematik gehören und auch nicht in die Physik?

Gehören sie in die Physik? Sophia Panteliadou meint, sie gehören in die Ethik, in der es ja um das Gute geht. Ja es geht darin um das Gute – aber nicht theoretisch. Sondern praktisch – als etwas was im Handeln erreicht wird (oder nicht).

 

Und die Elemente und Prinzipien? Wo gehören die hin? Die Elemente in die Kosmologie oder Physik. Die Prinzipien? 

 

Prinzipien sind entweder Sätze wie derjenige, den man den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch nennt und der im Buch IV der Metaphysik ausführlich dargelegt wird. Das ist ein Satz, der ein Nicht-Dürfen, eigentlich ein Nicht-Können, noch eigentlicher ein Müssen formuliert.

 

Oder Prinzipien sind erste Ursachen, in heutiger Redensart letzte Ursachen. In diesem Sinn ist eine Mutter für ihre Tochter kein Prinzip, sondern eine nahe Ursache. Wohl aber eine Vorfahrin wie Eva oder Aphrodite (sofern diese auch menschliche Nachkommen hatte). Solche Prinzipien sind der Physik zuzurechnen. Die Elemente gleichfalls. Und die Physik ist ja die erste theoretische Wissenschaft – die erste in der Aufzählung, weil der menschlichen Lebenswelt am nächsten.

Aus den folgenden Ausführungen ist zu schließen, daß Aristoteles hier mit den Prinzipien erste Ursachen, Entstehungsbedingungen meint, zusätzlich zu den Elementen, welche die ersten Materialien bilden.

 

Die Frage, die Aristoteles hier aufwirft, wie sich nämlich die Elemente und Prinzipien zum Guten und Schönen verhalten, läßt alle Überlegungen zum Mathematischen in den Büchern XIII und XIV weit hinter sich – ausgenommen die Ausführung in 1078a 32 – 1078b 5. Dort wird behauptet, auch die Mathematik spreche vom Schönen und Guten, sofern dieses sich nicht nur in ethischen Handlungen finde, sondern wie das Schöne auch als erste Ursache von vielen Werken anzusehen sei. An dieser Stelle heißt es, dieser Punkt werde später besprochen werden. Mein Grazer Übersetzer vermerkt in einer Fußnote: „Ein nicht eingelöstes Versprechen“.

 

Darin kann nicht nur ein Hinweis darauf gesehen werden, daß das ganze Werk nicht von Aristoteles vollendet worden sein dürfte, sondern wenn man diese Stelle mit anderen und mit der aktuellen konstelliert, kann man zum Schluß kommen, daß die vielen Überlegungen zum Mathematischen über die mathematische Wissenschaft hinaus – zu den beiden anderen Theoretischen Wissenschaften hinüber greifen: zur Physik und zur Theologie, welches Hinübergreifen figural das Ypsilon nachzeichnet: ein vertikales Hinauf und dann eine Verzweigung schräg nach links und eine andere schräg nach rechts.

 

 

      Physik                         Theologie

 

 

 

                        Y

 

 

                     Mathematik

 

 

Diese kleine Systematik zeigt, daß die Bücher XIII und XIV als von der Mathematik ausgehende Nachüberlegungen zu den drei theoretischen Wissenschaften betrachtet werden können, wobei die Mathematik von Aristoteles relativ gering geschätzt aber keineswegs ungeschätzt bleibt. Der Titel „Philosophie“ wird ihr allerdings weniger zuerkannt als der Physik und der Theologie.

 

Wie sich die Theoretischen Wissenschaften von den beiden anderen Wissenschaftsrichtungen, von den Technischen und den Praktischen Wissenschaften, unterscheiden, dazu werde ich am 6. November in der Weinhandlung etwas sagen. Da gibt es aber noch eine interessante bereits gelesene Stelle, die sich im selben Wortfeld bewegt, und zwar wird über die besagten Platoniker oder Pythagoreer gesagt, sie seien zu ihren Annahmen über die Entstehung der Zahlen „nicht um des Betrachtens willen“ gekommen, sondern aus irgendwelchen anderen Gründen“. 

 

Das ist jetzt ein persönlicher Vorwurf gegen jene Philosophen, der wiederum uns zwingt, zu sagen, was Aristoteles unter „Theorie“ verstanden hat. Wobei es nicht genügt, das Wort „Theorie“ fleißig zu wiederholen.

 

Ich zitiere zunächst die mir vorliegenden Übersetzungen:

Loeb/Tredennick: not for the sake of a logical theory;

Bonitz/Seidl: nicht bloß um der Betrachtung willen;

Schwarz: nicht der Betrachtung wegen;

Sachs: not just for the sake of theoretical analysis.

 

Die beiden deutschen Übersetzungen sind zu loben, weil sie ins Deutsche übersetzen. Die alte englische und die neue englische Übersetzung setzen das moderne Fremdwort ein, zu dem auch ich neige, obwohl es problematisch ist.

 

Was aber versteht Aristoteles unter den theoretischen oder betrachtenden Wissenschaften? Es sind die Wissenschaften, die sich auf Gegenstände richten, die es schon gibt, und die diese Gegenstände aufgrund bestimmter Wahrnehmungen und Erfahrungen, seien es Erschreckungen oder Faszinationen auf sich wirken lassen; die Gegenstände müssen auf den Betrachter einwirken – der oder die Betrachterin muß diese Einwirkung aushalten und muß dieses Aushalten auch aktivieren können und auf bestimmte Weise auch beantworten.

 

Betrachten, kontemplieren und respondieren. Vita contemplativa, scientiae contemplativae.

 

Auch die Mathematik ist laut Aristoteles so eine theoretische Wissenschaft, aber wenn die Mathematiker oder gar Mathematikphilosophen (als solche galten die Pythagoreer) die spezifische Kontemplationsleistung versäumen oder verweigern, wenn sie die spezifische Theorieleistung nicht erbringen, dann werden sie den Schritt, den ich oben als die Y-Verzweigung angeschrieben habe (Mathematiker „schreiben an“ und Mathematikphilosophen (zu denen ich mich jetzt auch geselle)), nicht tun können und schon gar nicht den ungeheuren Sprung, den Aristoteles jetzt – und zwar mit Betonung der erkenntnispolitischen Herausforderung und des Versagensrisikos – als Frage vorschlägt, nämlich die oben schon zitierte Frage nach dem Verhältnis zwischen Elementen und Prinzipien einerseits, Gutem und Schönem andererseits.

 

Aristoteles formuliert anschließend auch die Frage, ob es etwa gar Überschneidungen zwischen den beiden Verhältnispolen gibt.

Aufgrund der Abwägung zwischen verschiedenen philosophischen und theologischen Positionen, auch zwischen mehreren Naturmächten einerseits und irgendeinem höchsten Gott andererseits, kommt er dann zur Frage, ob als Prinzip, wenn es nur eines soll, eher das Eine oder das Gute anzunehmen sei.

 

Hierzu ein aktuelles Foto von jenen Auseinandersetzungen:

 

 


 

Im Zuge dieser Erörterung werden viele Begriffe vorgeschlagen, die das eine Prinzip näher charakterisieren sollen: das Erste, das Ewige, das Autarkeste (also Sichselbstgenügendste), die Rettung oder das Heil oder die Erhaltung (wie sollte man da in einem (post)christlichen Jahrhundert nicht an Christliches denken?), das Unvergängliche, das deswegen unvergänglich und autark ist, weil es sich gut verhält (da scheint das Ethische direkt ins Theologische einzuziehen).

 

Zweifellos berührt sich oder deckt sich das so gedachte eine Prinzip mit dem, wovon im Buch XII gesagt wird, daß es bewegt, da es geliebt wird und zwar erotisch geliebt wird, und mit dem, was begehrt wird, da es schön scheint (1072a 27 – 1072 b 3).

 

Walter Seitter

Montag, 23. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XX

Montag, 23. Oktober 2023

 

Die Historie braucht keine Metaphysik. Die Geschichte braucht keine Götter, keinen Gott, keinen Geist, keine erste oder letzte Instanz. Die Historie emergiert aus der Physik, ihre Form ist dieselbe. Von der Genese der Dinge zur Genealogie der Lebewesen und zur Zeit der menschlichen Gruppen ist der Formierungsprozess der gleiche, seine Dynamik ist eine stabile Konstante. Zwischen der Physik und der Naturgeschichte und der Historie ist eine Trennung nicht möglich.

 

Die inclinatio, die Instabilität ist ihr gemeinsamer Motor – ohne ersten Beweger. Serres nennt den Namen Aristoteles gar nicht, aber der Bezug, der abweichende ist offenkundig.

 

(Von dieser Stelle aus müßte es möglich sein, zwei große Physik-Unternehmungen der griechischen Antike gegeneinander zu vergleichen:

Die aristotelische, die mit den Schriften zur Zoologie anhebt, mit Werden und Vergehen und De anima und der Vorlesung zur Physik weitergeht und dann in der sogenannten Metaphysik irgendwie einen Abschluß findet – in einem Prozess, der sich vom 4. bis zum 1. Jahrhundert hinzieht und sich mehr durch Ungewißheiten der Textüberlieferung als durch namentlich gekennzeichnete Diskussionen oder Kommentierungen auszeichnet.

 

Die atomistische Physik, die mit Demokrit von Abdera (460-370) im 5. Jahrhundert einsetzt, mit Nausiphanes von Teos (4. Jahrhundert) weitergeht, mit Epikur (341-270) dann einen prominenten Protagonisten vorweisen kann, von dem lateinischen Dichter Lukrez (99-55) ins sozusagen modernere und westeuropäische Latein umgeschrieben wird, schließlich von Michel Serres ins noch besser lesbare Französisch.

 

Natürlich wäre es sinnvoll, in gewissem Sinn sogar notwendig, auch die stoische Physik, die sich ebenfalls in der nachklassischen Zeit ausgebildet und dann sehr stark durchgesetzt hat, in die Vergleichung einzubeziehen. Aber dazu fehlt es uns an personellen Ressourcen. 

 

Die aristotelischen Lehrschriften scheinen um die selbe Zeit erschienen zu sein, wie das Gedicht von Lukrez. Was eine Vergleichung nahelegen würde. Soll man den Lukrez eher mit der aristotelischen Physik konfrontieren oder mit der Metaphysik?)

 

Jede Form, jede Ordnung autoproduziert sich – indem sie Mutationen und Variationen, stabil-instabile Selbstregulierungsstrukturen hervorbringt. Lukrez entdeckt Prozesse zirkulärer oder halbzirkulärer Kausalität. Er entdeckt, daß es zwei Zeiten gibt, die Zeit des Gleichgewichts und die der Degradierung, und daß die Geschichte wie auch die Natur sich die beiden zunutzemachen. Und er entdeckt eine dritte Zeit, mit der die zweite auf die erste einwirkt.

 

Die Geschichte sowie die Natur sind Austauscher zwischen drei Zeiten. Lukrez entdeckt die Wirksamkeit der zufälligen Fluktuation und des Abstands gegenüber dem Gleichgewicht: eine Zeit überholt die andere und wird ihrerseits von ihr wieder überholt. 

 

Lukrez entdeckt das Anwachsen der Komplexität, sofern der Abstand im Laufe der Zyklen der Rückkehr zum Gleichgewicht zunimmt. Er entdeckt dieses Risiko, diesen schwindelerregenden Überhang, diese Flucht nach vorn, auf der das notwendige, natürliche Risiko und das gewagte nicht notwendige Risiko einander zu überholen suchen, aber diese Einholung durch ein noch schwindelerrgenderen Überhang bezahlen müssen. 

Er entdeckt, daß nur das Ungenügen produktiv ist. Aber daß die Produktion das Ungenügen reduziert. Daß die Arbeit, die Landwirtschaft, die Schifffahrt und die Künste die Wirkung der Degradierung kompensieren aber ihre Tragweite akzentuieren. 

 

Daß der Niedergang eine dynamische Anpassung erfordert, diese jedoch den Niedergang verstärkt. 

 

Eine Spirale mit drei Phasen: reversible Isonomie, irreversibler Niedergang, produktive Kompensation. 

 

Eine durch den Abstand in Gang gekommene Spirale. Schneelawine, die den Talweg des Sisyphos hinunter rutscht und dabei anwächst. Eine Geschichte zum Tode, Produktion zum Tod, Todestrieb. Leben vom Tod, sterben am Leben. Lebensarbeit, Todesarbeit. Lebenswunsch, Todeswunsch. 

Handelt es sich um Fortschritt? 

Ja, gewiß. Die Spirale erweitert sich in der Gabelung, der Wirbel erweitert sich in der Umkehr zur Isonomie. Bis zum höchsten Punkt, zum Gipfel Athen, Mutter der Künste, Epikur, Gesetze.

 

Aber nein. Der zyklische Prozess führt die Stadt, zum Tiefpunkt, zu Pest und Zerstörung. 

Wer zum Gipfel der Ehren, des Reichtums und der Macht gelangt ist, wird alsbald vom Blitz, dem clinamen schlechthin, oder vom Neid, diesem Laster des Abstands und der Vergleichung, das nicht wieder gut zu machen ist, in den Tartarus gestürzt. 

 

Jeder Fortschritt bleibt global gesehen ein Verlust. 

 

Die Kräfte, die zur Rückkehr zum Gleichgewicht erfordert werden, nehmen zu. Daher die Flucht nach vorn. Zur Verteidigung und zur Zuflucht braucht es Akropolen, zum Überleben der Gruppe braucht es Könige, Felder und Herden. Für die Einschätzung der Zeiten braucht es immer mehr Superlative: die schönsten, die reichsten, die mächtigsten. Die Vergleichungen greifen immer höher, die Ordnungen brauchen immer mehr Befehle. Die Dynamik geht von der minimalen Neigung zur maximalen Anstrengung über. Die feed-back Spirale steigert sich hinauf zu den höchsten Zitadellen des Königtums, des Reichtums, der Schönheit und sie stürzt ab bis zur Ermordung der Könige.

 

Die Befehlsstruktur steigert sich immer höher hinauf: der Stärkste ist nie stark genug. Die Befehlsbeziehung ist niemals im Gleichgewicht, sie überholt sich ständig selber – wie die Spirale nach oben hin sich auseinander spreizt. 

 

Daher empfiehlt die Moral die Ataraxie: das Gegenteil solcher Überholung. Rückzug vom Markt der Ehrungen. Die epikureische Ethik folgt der Physik, also einer Wissenschaft, weil die Physik dieses geometrische Modell nahelegt, welches den ständig zunehmenden Niedergang vorzeichnet, in dem das Begehren durch die eingeschaltete Kompensation das Begehren steigert. 

 

Tritt man in diese Wachstums- und Fluchtdynamik ein, so verliert man, indem man zunimmt, man verliert an Kräften, indem man Macht gewinnt, man tötet sich selber, indem man die Waffe gegen den andern erhebt. 

Eine Weisheit, die an den Dingen, an der Welt, an der Historie abzulesen ist. Leben gemäß der Natur – im Wortsinn genommen als das, was gerade geboren wird – in statu nascendi.

 

Möglichst nahe beim Öffnungswinkel bleiben, beim clinamen, wo die Natur Natur ist: Geburt. 

 

Das ist quantitativ abschätzbar. Das Wort für dieses Quantum: wenig. 

 

Von wenigem leben, wenig begehren – und dieses „wenig“ fehlt nie. 

 

Gleichgewicht wie bei den ersten Menschen: sponte sua: satis.

 

 

Walter Seitter

Samstag, 21. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XIX

Mittwoch, 18. Oktober 2023

 

Letzter Satz von Protokoll XVIII:

 

Tatsächlich gibt es eine Physik – das ist alles.

 

Erster Satz des nächsten also dieses Protokolls:

 

Es gibt eine Natur der Dinge, einen Prozess der Emergenz – das genügt.

 

Ob es sich um Atome, um Arten oder um die Gesellschaft handelt – das Schema ist dasselbe.

 

Zunächst eine Art Gleichgewicht – und dann und hie und da oder neulich ein Abstand.

 

Also Isonomie und clinamen, Strömen und Schwappen und Abfluß.

 

Wie kann es ein Zurück zum Gleichgewicht geben?

Diese Frage hat uns schon beschäftigt, als es am Anfang dieses langsamen Mit-Lukrez-Mitschwimmens darum ging (es war im August 2022), den laminaren Katarakt der parallelen Abflüsse zu betrachten, die Garbe der geraden Linien, die durch die minimale declinatio irgendwo und irgendwann gebrochen, unterbrochen werden. Seither hat der Wirbel, hat die Turbulenz die komplexen Abstände und Rückkehren zum Gleichgewicht gezeichnet, welche die Existenz der kompakten Verbindungen bestimmen. Sie existieren außerhalb des Gleichgewichts, gehen daraus hervor, kehren dahin zurück – in kurzen, mittleren, langen Abständen.

 

Was wir Naturgeschichte nennen, ist eine „Genese“, eine „Natur“ im Sinn der griechischen oder lateinischen Wörter. Daher die eine und selbe Gabelung oder Weichenstellung, innerhalb derer offene Systeme, Empfänger und Sender, rasch verschwindende oder hartnäckig sich einen Augenblick lang drehende und damit bleibende Wirbel stattfinden. Tugenden, dank denen sie zeitweilig dem Untergang zum Tode entgehen. . .

 

So geht es mit der Geschichte. Das nomadische Leben, nach Art der wilden Tiere, der ersten Menschen, der Naturzustand, wie man später sagen wird, ist zunächst ein Zustand, das heißt ein Gleichgewicht. Eine harte Rasse, mit starken Knochen und kräftigen Sehnen, auf einer harten Erde, mit großen Früchten. Deren große Produktivität entspricht den Bedürfnissen zur Genüge.

 

Sponte sua, satis. Was die Erde von sich aus hervorbrachte, erfreute und befriedigte die Menschen.

 

Die Sonne und die Regen gaben, die Menschen waren mit den Gaben zufrieden. Sie umhüllten sich wie die Erde mit der Nacht oder mit Zweigen und Blättern. Ihr Herumirren kannte keinen Abstand zwischen Produktion und Bedürfnis. Sie hatten wie die Atome ihre Begegnungen, und jedes neue Chaos bleibt im globalen Gleichgewicht dank jener einfachen Algebra des Austauschs zwischen dem Angebot der Natur und deren Anspruch oder Entgegennahme.

 

Eine Ausnahme allerdings.

 

Venus steht am Anfang des Gedichts wie auch der Geschichte – inmitten der Völker ohne Historie. Sie vereinigt die verliebten Körper inmitten der Wälder. Die Frauen weichen der Gewalt der Männer, sie geben ihrem eigenen Begehren nach, sie geben um den Preis der Eicheln oder der Birnen nach.

 

Die Frauen werden vom natürlichen Gleichgewicht distanziert, der Mann ernährt sie, um ihre Gunst zu kriegen. Die inclinatio ist schon am Werk im Zufall der Wälder, die Neigung der Balance, des Unrechts, des Begehrens.

Doch da und dort tauchen die Katastrophen auf, die wilden Tiere. Die Herumirrenden jener ersten Zeitalter leben wie die wilden Tiere mit den wilden Tieren. Und gegen die wilden Tiere. Diese als Beute für jene und jene für diese.

 

Der Mensch gehört zur Nische der Tiere, das Tier in die Menschennische. Der Löwe und das Wildschwein verjagen die Schläfer aus ihrem Bett. Das Gleichgewicht, die Ruhe ist gebrochen. Beutetier und Beutejäger vertauschen ihre Rollen. Wie bei den Tieren so bei den Pflanzen. Der Schierling gedeiht bei den Blumen, das Giftige inmitten des Erfreulichen.

 

Und die Unfruchtbarkeit nimmt überhand – mit den Klimawandlungen. Das Gleichgewicht zerbricht dort und da – diese Brüche lösen die Geschichte aus.

 

Frauen, Wildtiere, Giftblumen zerbrechen das Gleichgewicht zu Exzess oder Mangel. Es ist, als ob das Männliche Natur wäre, das Weibliche bereits Geschichte.

 

Nun verstehen wir besser die Gefahren der Liebe, ihre Illusionen und Leiden, die im vorhergehenden Buch geschildert worden waren. Der Haß der Frau oder gegen die Frau ist protohistorisch.

 

Venus ist da, von Anfang an, Anfang der Zeiten wie des Textes. Die Opferung der Iphigenie stammt aus den Wäldern der Urzeit.

 

Ein Mädchen, getötet für die Gegengabe Wind, eröffnet die Geschichte der Waffen.

 

Ein Mädchen, zunächst ausgehungert, dann genährt, im Austausch gegen sexuelle Fortpflanzung, eröffnet die Geschichte überhaupt. Der Mythos des Anfangs wird in die reale Zeit übersetzt. Die Geschichte ist nur Gewalt.

 

Die Degradierung hat eingesetzt. Die sexuelle Fortpflanzung kompensiert dank einer neuen Methode die Erschöpfung der Mutter Erde, die keine Kinder mehr in die Welt setzt. Die sogenannte Menschengeschichte entwickelt sich in Kontinuität mit der Naturgeschichte. Die Frau sorgt für den Nachwuchs wie auch für die Tauschbeziehungen. Das Menschengeschlecht errichtet Hütten, um sich vor den wilden Tieren zu schützen. Nachdem es sie getötet hat, bekleidet es sich mit ihren Häuten.

 

Auch das Feuer ist eine List, dank der man der Kälte, die durch die Klimaverschlechterung eingetreten ist, entkommen kann. Der Blitz als das Feuer, das sich dem kanonischen clinamen verdankt, bewährt sich als Lösung. Und indem die Ehe die Anhäufung der Schulden beendet, indem die Frau zum Eigentum eines Mannes wird, muß sie alles gewähren.

 

Dennoch können alle diese Kompensationen die verlorene Isonomie nicht wieder herstellen. Man muß die Hütten ausbauen und Zitadellen errichten. Es bleibt immer ein Rest, der zu begleichen ist. Es geht nicht mehr um die Statik eines Gleichgewichts, sondern um die Dynamik einer Bewegung.

 

 

Die Kompensation, die eine Degradierung beseitigt, verursacht eine neuerliche.

 

Das Begehren, das durch die Degradierung hervorgerufen worden war, erzeugt eine neuerliche.

 

Das alles bringt keinen Zyklus, denn die Lösungen sind immer wieder neu, und die Mängel desgleichen.

 

Das ergibt eine Spirale, die immer wieder eine neue Bahn beschreibt. Eine Turbination, die fortschreitend Gleichgewicht sucht und verliert. Die wirbelförmige Lösung ist isomorph zur natürlichen Genese aus dem Chaos.

 

Die Geschichte ist also eine Physik – was zu zeigen war. (218ff.)

 

Walter Seitter

Montag, 16. Oktober 2023

In der Metaphysik lesen (1090b 5 – 1091a 22)

11. Oktober 2023

 

Die überlieferte Reihenfolge der „Bücher“ der Metaphysik I – XIV wird der Redaktionsarbeit des 1. Jahrhunderts zugeschrieben. Etwas übertreibend könnte man sagen, dieses Werk sei zwischen dem 4. und dem 1. Jahrhundert vor Christus verfaßt worden und vom Autor nicht selber vollendet worden.

Die Bücher XIII und XIV, in denen wir nun seit dem Dezember 2021 (!) lesen, machen nach dem Buch XII mit der Theologie doch einen etwas schwachen Eindruck. Sie stellen hauptsächlich Fragen nach der Seinsweise oder nach dem Wirklichkeitsrang der „mathematischen Dinge“ und versuchen nachzuweisen, daß ihnen kein hoher Rang zukommt, der sie etwa zu Ursachen anderer Dinge machen könnte. Es komme ihnen nicht einmal das Abgetrenntsein, also das selbständige Existieren, zu.

 

Aristoteles schiebt eine im Irrealis formulierte Behauptung ein, daß nämlich, wenn es weder die Zahlen noch die Größen gäbe, immerhin die Seele und die wahrnehmbaren Körper existieren müßten.

 

Trotz des ganz anderen Kontextes läßt sich sagen, daß Aristoteles hier eine ähnliche Minimalnotwendigkeit formuliert wie Descartes mit seinem Cogito ergo sum. Nur daß bei Aristoteles das unleugbare Minimum etwas mehr umfaßt - die Seele und die wahrnehmbaren Körper. Also die beiden konstitutiven Pole der „Welt“. Die wird von Aristoteles aber „Natur“ genannt, und zwar die Natur, die aufgrund der Erscheinungen, die wohlgemerkt im Plural auftreten, aber nicht zusammenhanglos wie eine schlecht gemachte Tragödie daher kommt.

 

Davon haben wir in der ersten Periode der hiesigen Aristoteles-Lektüre-Unternehmung gelesen – nämlich in der Poetik.

 

Diese Gott sei Dank noch weitergehende Unternehmung, die vielleicht irgendwann auch historisch „aufgearbeitet“ werden wird, fügt also unterschiedliche Wissensformen zusammen, die Aristoteles auch explizit miteinander verbindet.

 

Mit der oben genannten „Seele“ mag in erster Linie die menschliche gemeint sein, aber da ich die cartesische Engführung dann dazu erwähnt habe, sei darauf hingewiesen, daß bei Aristoteles die Seele kein Monopol des Menschen ist, er spricht Seelen, aber eben verschiedenartige, auch den Tieren, ich würde sagen, zu allererst den Tieren zu; den Menschen dann insoweit, als sie auch Tiere sind, und dazu noch den Pflanzen (einschlägige Beobachtungen stehen neuerdings jeden Tag in der Zeitung, wenn man etwas bessere Zeitungen liest).

 

Die so verstandene Natur kann nicht aus Zahlen oder sonstigen mathematischen Dingen hervorgehen. Diese haben nicht die Kraft, auf irgendwelche Dinge einen Einfluß auszuüben.

 

Diese eher moderne Redeweise von „Einfluß“ hat mich erstaunt und im Wörterbuch nachschauend (es handelt sich um das uralte Griechisch-deutsche Schulwörterbuch, das auch dem Peter Handke behilflich ist) finde ich, daß Aristoteles hier das mir unbekannte Wort symballesthai verwendet, die mediale Form von symballein, welche die transitiven Bedeutungen „verabreden, beschließen, zustandebringen, zusammenbringen (österreichisch), herstellen“ hat.

 

Was Aristoteles sagen will, ist, daß die mathematischen Dinge, Zahlen, geometrische Größen und dergleichen nicht fähig sind, die Dinge der Welt hervorzubringen oder aber abzuändern.

 

Wohl aber gelingt es den Theoretikern, die solches behaupten, „groß zu tun“ (griechisch und österreichisch), indem sie irgendwelche eigene Meinungen fabrizieren. Dabei entsteht ein so genanntes langes Gerede wie etwa dasjenige von Sklaven, wenn sie dummes Zeug reden.[1]

 

Was sie sagen, ist unsinnig und widerspricht sich selbst wie auch dem, was die Vernünftigen sagen. Daß sie nämlich eine Entstehung der ewigen Dinge annehmen.

 

Jedoch reden sie kosmologisch und physikalisch also naturkundlich und daher ist das, was sie sagen, im Hinblick auf die Natur zu untersuchen.

 

 

Walter Seitter

 




[1] Aristoteles verweist hier auf den Dichter Simonides von Keos (557-468), dem die Erfindung der Mnemotechnik zugeschrieben wird, deren bekanntestes Zeugnis, die sogenannte Parische Chronik, den Zeitraum von 1582 bis 298 vor Christus umfassen soll.