29. Oktober 2023
Ist kein Wein da, so genügt das Wasser – das schon
da ist.
Was schon da ist, ist das Nächste, das zufällig da
ist. Wenig und nicht mehr als wenig. Nec plus quam minimum –
das ist die Definition des clinamen. Tantum paulum –
das Geringstmögliche, das ausreicht, um eine Bewegung zu modifizieren. Das
ausreicht, um mein Wünschen zu befriedigen.
Das Wenige unserer Wünsche, das Wenige der Dinge,
die unsere Wünsche befriedigen können – das ist im wahrnehmbaren Endlichen die inclinatio unseres
Willens, unserer Freiheit, unserer Wollust. An ihrer Wurzel ist die Bewegung
der Seele ein Differenzial, eine Fluktuation, derselbe Abstand zum Gleichgewicht,
wie derjenige, der den Fall der Atome verändert. Das Leben gemäß der Natur
bleibt in der Nachbarschaft der Geburt der Dinge, ihrer modifizierten Bewegung:
der Weise bewohnt den minimalen Abstand, den Raum zwischen dem Wenigen und dem
Keinen, den Winkel zwischen dem Gleichgewicht und der Abweichung. Das ist der
Ort des Notwendigen und des Naturgemäßen. Darüber hinaus gibt es nur leeres
Wachstum und Überflüssigkeiten: große Übel und große Medizinen. Folglich
reduziert sich alles auf eine Grenzwertberechung, eine Grenzwertabschätzung –
und das ist wiederum archimedisch.
Und das heißt: die Geschichte und die Politik
vermeiden, diesen ständigen zunehmenden Wirbel. Sich mit dem Begrenzten
begnügen. Sein Nest beim Anfänglichen bauen, im kleinen Garten, wo die Feigen
wachsen. Beim Wenigen und beim Keinen, beim Gleichgewicht und bei der horizontalen
Isonomie.
Der Weise ist ganz was anderes als der Tod – denn
der ist ein Schnitt – und aus. Ein Ort ohne Teile und ohne Nachbarschaft und
ohne Neigung.
Der Weise gemäß der Natur wird vom Tod nicht
betroffen. Er folgt denselben Regeln wie die Natur. Er kennt die Physik und
folglich verhält er sich moralisch.
Der Weise meditiert in der Nachbarschaft über die
Nachbarschaften, über die lokalen Mathematiken.
Die Physik der Fluktuationen präsentiert lokale
Lösungen: Grenzen, Singularitäten, Abflüsse, Abstände, minima, maxima.
Eine Physik der Pluralität der Welten und ihrer
Zeitlichkeit. Die Vernunft, die da am Werk ist, die globalen Mathematiken:
Potenzialitäten, Wirrnis, Grausamkeit. Diese Vernunft ist schwierig und
nichtig. Sie bedeckt die Erde mit Toten und verbreitet sich wie die Pest.
Die Ethik des Gartens, die sich darüber wundert, ist
eine Ethik des Lokalen. Der Garten ist nur ein kleiner Ort,da geht es um das
Nächste, um das Wenige. Daher empfiehlt es sich, seine Grenzen nicht zu
überschreiten.
Die Lust liegt in der Intensität, nicht in der
Dauer, in der Verlängerung der Zeit. Man ziehe sich zurück, bleibe unbemerkt.
Wozu auf Reisen gehen, die Meere durcheilen, die Welt bereisen? Wie die
Kyrenaiker, die Schüler des Aristippos (435-355), sagen, es komme auf das an,
was in der Nähe ist: die Seele und um ihn herum der Körper, der Garten, die
Nächsten. Das Individuum ist Körper mitsamt den Bewegungen der Seele: Freiheit,
Wille, Wollust.
Die Lust ist das Regulativ seiner Existenz – nur muß
sie ständig vor dem Grenzenlosen bewahrt werden. Der Tod vernichtet weil er die
Grenzen aufhebt.
Dieser Lehre steht der stoische Weise gegenüber, der
ein Weltbürger ist. Er lebt und denkt in Ausweitungen. Seine Physik ist global,
seine Mathematik gleichfalls. Sein Ort ist nicht der Garten, sondern der Hafen,
die Öffnung zur Welt.
Seine Mathematik ist global, weil seriell. Die
Serien und die Serien der Serien machen die Totalität aus, sie bilden die
Gewebe des Systems, des Universums, der Notwendigkeit. An manchem Ort schneiden
sich die Serien zu Sternen, ein solcher Ort konspiriert dann mit jedem Ort.
Dieses Theorem ist unabänderlich, es gilt für den
systematischen Diskurs, für die Physik der Welt, für das moralische Verhalten.
Es gibt immer mindestens einen seriellen Weg für irgendeine Verlängerung.
Das Universum ist offen, ein Tropfen Wein löst sich
im Meer auf, verbreitet sich überall und löst sich überall hin auf, erzeugt
eine stetige, abnehmende und endlose Serie. Sie ist ein totaler Teil des
Meeres.
Mathematik, Physik und Moral der analytischen
Ausweitung. Vom Lokalen ist der Übergang zum Globalen jederzeit möglich.
Der stoische Weise ist in seiner Familie, in der
Gesellschaft, in seinem Vaterland und in der Politik immer für alles zuständig,
er ist der integrale Weise.
Der epikureische Weise hingegen hat sich vom Lärm
des Forums zurückgezogen, lebt in seinem Garten, von seinen Freunden umgeben, -
der differenziale Weise. Kein System, kein Universum, keine Totalität, keine
Konspiration, keine Spannung und keine Verschmelzung. Sein einziges
Grenzenloses ist das Leere, und die Keime des Realen sind atomisch verteilt.
Wie steht es mit den Verlängerungen?
Läßt man sie nicht zu, schneidet man sie ab, so wird
der religiöse Diskurs beschnitten. Denn die Religion verbindet das
Unzusammenhängende - erste Definition des Mythos. Der epikureische Weise trennt
das Zusammenhängende auf, er löst das Religiöse auf, von dem er sich nicht ganz
löst. Er zerlegt die Knoten und kappt die Anschlüsse. Der Atomismus ist im Raum
und in der Welt irreligiös: die Prinzipien sind durch Leerraum getrennt.
Sofern jedoch die Religion das Verknüpfte aufknüpft,
kehrt die Physik zur Religion zurück. Dann ist „Atom“ dasselbe Wort wie templum
- der Tempel eine Herausschneidung einer lokalen Besonderheit aus dem
globalen Raum.
Daher das Paradox einer Anrufung der Venus – gefolgt
von einer strikten Verdammung der Ermordung Iphigenies. So bleibt eine
Frömmigkeit übrig: die Götter in ihrer olympischen Singularität, in ihrem
privaten Ausweitungsraum, in ihrem großartigen Garten zufrieden lassen.
Wir sind von den Göttern gelöst. Der Raum ist nicht
so homogen, daß zwischen ihrem Aufenthalt und dem unsrigen ein Zusammenhang
möglich ist.
Gelöst, getrennt werden wir selber Götter sein in
unserer Begrenztheit. Ohne einen grenzenlosen Raum, der sich totalisierenden
Ursachen, globalisierenden Blicken oder Kräften verdanken würde. Der reale Raum
ist eine Anordnung von Gärten: Atomismus.
Entweder ist die Welt ein Universum oder sie ist es
nicht. Entweder ist das Wissen System – die Stoiker haben das Wort für ihre
Philosophie eingeführt – oder es ist nur Pluralität. Zwei Mathematiken
regulieren diese beiden Zustände: eine globale und ausweitbare und eine andere
aus singulären Varietäten.
Ist der Übergang vom Lokalen zum
Globalen immer möglich?
Mit der sogenannten modernen Wissenschaft, wie sie
am Anfang der Neuzeit erscheint oder wieder erscheint, ist diese Frage –
angeblich – entschieden und positiv entschieden. Mit dem seriellen System, mit
dem leibnizischen Netz, mit der actio in distans, mit der
Integralrechnung scheint die oben formulierte Frage affirmativ beantwortet zu
sein – obgleich sie niemals gestellt worden ist.
Da kommt merkwürdigerweise Lukrez dazwischen. Hier
und jetzt - das sind singuläre Lokaltäten. Vielleicht sind jene
Übergangsmöglichkeiten nur Vernuftphantasmen? Die abendländische Vernunft
behauptet sie seit vier Jahrhunderten. Gott muß sie ihr eingegeben haben.
Wenn etwa der Übergang doch nicht möglich wäre? Oder
jeweils nur unter diesen oder jenen Bedingungen, die jedesmal singulär wären?
Dann müßte die Enzyklopädie, die als globale Wissensform von Leibniz, dem
Erfinder der Integralrechung, konzipiert, von d‘Alembert realisiert und von
Hegel gedacht worden ist, da und dort in Frage gestellt und vielleicht in ihre
Stücke zerlegt werden und das alte Reich der Philosophie würde erschüttert.
Wo der Hafen der Herr war, da kommt der Garten
wieder zurück. Hier und jetzt sind nicht unbedingt die Bedingungen für eine
komplette dialektisch vermittelte Expansion des Geistes gegeben. Und die
Historie ist nicht mehr eine einheitliche Totalitätserzählung. Sie endet eines
Tages – mit der Pest in Athen. Und anderswo – Orte und Zeiten unbestimmt –
tritt sie wieder auf.
Eine andere Vernunft ist im Kommen und Lukrez hat
sie gezeichnet.
Die Weisheit des Gartens hatte schon geahnt, daß
jede Expansion mit Gewalt zu tun hat.
Agamemnon will, nachdem er die Fürsten gesammelt
hatte, das Meer überschreiten und tötet da und dort und so weiter. Epikur
möchte Ulysses nach Ithaka zurückholen und vertritt die Position von
Montesquieu gegen die zentralisierte Monarchie. Selber Kurzschluß-Blitz über
dem hegelschen System – dieser Reise-Blase aus Negativen, Reise-Wirbel aus
Wachstum und Verfall.
Demgegenüber ist der Garten eine defensive
Veranstaltung, der sich auch mit der Wissenschaft befestigt gegen das Steigen
der Wasser und gegen die Pandemie. Und man erzählt sich – unter Freunden –
einige Lustgeschichten, in denen Venus die beste Rolle spielt. Venus, die über
der Brandung, über der Gischt, auf dem Spritzen geboren wird.
Der Garten ist eine Insel, ein Gipfel, eine Bleibe.
Wenn ein jeder König in seiner Stadt geblieben wäre, im Schutz seiner Mauern,
hätte der Trojanische Krieg nicht stattgefunden.
Wenn die Gewalttätigkeit eine Expansion ist, heißt
das auch, daß jede Expansion gewalttätig ist? Lukrez antwortet nicht direkt auf
diese Frage, aber sein Text scheint eine affirmative Antwort zu enthalten. Die
epikureische Sezession, der Rückzug und die Abgeschiedenheit sind Praktiken des
Friedens und der Heiterkeit, die sich von der Gewalt und vom Tod so weit wie
möglich entfernen.
Das läuft darauf hinaus, daß außerhalb des Gartens
die Schlacht und die Pest wüten und das Forum mit Leichen bedecken.
Nun scheint es, und das ist der Punkt, daß in
unserer Kultur eine bestimmte Art von Vernunft die besagten Expansionen
postuliert und praktiziert.
Das Wissen ist eine Odyssee mit allem Drum und Dran,
vorher und nachher.
Nach dem Zyklus der Ereignisse posiert das absolute
Wissen. Es scheint also einiges dafür zu sprechen, daß diese Art von Vernunft
auf Gewalt und Tod aus ist.
Kann man das Risiko der Vernunft, dieser Vernunft
und dieses Wissens eingehen – das ist die Frage.
Muß man, darf man das Risiko der Wissenschaft
eingehen?
Im Garten sagt man: nein! Die Epikureer kritisieren
die Wissenschaft – wie wir es heute tun würden.
Nicht die gesamte Wissenschaft, nicht die
Wissenschaft als solche, aber diese Wissenschaft da, diese Vernunft da, die auf
die Wege der Totalisierung, der Gewalt, der Herrschaft und des Imperiums führt.
Die Epikureer suchen nach einer anderen Wissenschaft
und einer anderen Vernunft, die auf die Lust und das Glück zielen.
Wir, die Leute des totalitären, universalistischen
und universitären Jahrhunderts, haben teuer dafür bezahlt, daß die Epikureer
nicht unrecht hatten mit ihrem Mißtrauen.
Auch die Enzyklopädien sind Imperialismen. Der
Despot ist derjenige, der das Lokale dem Globalen opfert. So schreibt er die
Geschichte – mit lauter rationalen Erweiterungen.
Es gibt nur lokale Lösungen der Vernunft und der
Wissenschaft.
Die Weisheit des Gartens, die Weisheit meines Vaters
Montaigne, die Weisheit der Erde – ist auch die unsere. Sie ignoriert nicht die
Wissenschaft.
Man muß dreißig und mehr Physik-Bücher gelesen
haben, um eines Tages dahin zu kommen.
Und wir werden kein Vertrauen mehr in die Vernunft
fassen, solange wir nicht irgendeine neue Vernunft erdacht haben werden.
Oktober 1970 – Juni 1977 (226ff.)
Zuletzt hat Michel Serres in eigener Sache
gesprochen und angedeutet, wann und wie er seine opulente
Lukrez-Paraphrasierung zusammengebracht hat.
Eine Physik-Geschichte eigener Art. Sie setzt in der
Antike ein – ein bißchen, nachdem die lateinische Sprache begonnen hatte, die
griechische als Leitmedium abzulösen.
Obwohl er sich nicht als Physiker bezeichnet hat
(wiewohl er auch so einer war, man denke an seine Bücher über die Fünf Sinne,
über die Malerei von Carpaccio, über die Feuer und Rauchzeichen bei Zola),
nimmt er sich selber nicht ganz und gar heraus aus der Physik-Geschichte, der
abendländischen. Und seine Leser auch nicht.
Walter Seitter