τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 21. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XIX

Mittwoch, 18. Oktober 2023

 

Letzter Satz von Protokoll XVIII:

 

Tatsächlich gibt es eine Physik – das ist alles.

 

Erster Satz des nächsten also dieses Protokolls:

 

Es gibt eine Natur der Dinge, einen Prozess der Emergenz – das genügt.

 

Ob es sich um Atome, um Arten oder um die Gesellschaft handelt – das Schema ist dasselbe.

 

Zunächst eine Art Gleichgewicht – und dann und hie und da oder neulich ein Abstand.

 

Also Isonomie und clinamen, Strömen und Schwappen und Abfluß.

 

Wie kann es ein Zurück zum Gleichgewicht geben?

Diese Frage hat uns schon beschäftigt, als es am Anfang dieses langsamen Mit-Lukrez-Mitschwimmens darum ging (es war im August 2022), den laminaren Katarakt der parallelen Abflüsse zu betrachten, die Garbe der geraden Linien, die durch die minimale declinatio irgendwo und irgendwann gebrochen, unterbrochen werden. Seither hat der Wirbel, hat die Turbulenz die komplexen Abstände und Rückkehren zum Gleichgewicht gezeichnet, welche die Existenz der kompakten Verbindungen bestimmen. Sie existieren außerhalb des Gleichgewichts, gehen daraus hervor, kehren dahin zurück – in kurzen, mittleren, langen Abständen.

 

Was wir Naturgeschichte nennen, ist eine „Genese“, eine „Natur“ im Sinn der griechischen oder lateinischen Wörter. Daher die eine und selbe Gabelung oder Weichenstellung, innerhalb derer offene Systeme, Empfänger und Sender, rasch verschwindende oder hartnäckig sich einen Augenblick lang drehende und damit bleibende Wirbel stattfinden. Tugenden, dank denen sie zeitweilig dem Untergang zum Tode entgehen. . .

 

So geht es mit der Geschichte. Das nomadische Leben, nach Art der wilden Tiere, der ersten Menschen, der Naturzustand, wie man später sagen wird, ist zunächst ein Zustand, das heißt ein Gleichgewicht. Eine harte Rasse, mit starken Knochen und kräftigen Sehnen, auf einer harten Erde, mit großen Früchten. Deren große Produktivität entspricht den Bedürfnissen zur Genüge.

 

Sponte sua, satis. Was die Erde von sich aus hervorbrachte, erfreute und befriedigte die Menschen.

 

Die Sonne und die Regen gaben, die Menschen waren mit den Gaben zufrieden. Sie umhüllten sich wie die Erde mit der Nacht oder mit Zweigen und Blättern. Ihr Herumirren kannte keinen Abstand zwischen Produktion und Bedürfnis. Sie hatten wie die Atome ihre Begegnungen, und jedes neue Chaos bleibt im globalen Gleichgewicht dank jener einfachen Algebra des Austauschs zwischen dem Angebot der Natur und deren Anspruch oder Entgegennahme.

 

Eine Ausnahme allerdings.

 

Venus steht am Anfang des Gedichts wie auch der Geschichte – inmitten der Völker ohne Historie. Sie vereinigt die verliebten Körper inmitten der Wälder. Die Frauen weichen der Gewalt der Männer, sie geben ihrem eigenen Begehren nach, sie geben um den Preis der Eicheln oder der Birnen nach.

 

Die Frauen werden vom natürlichen Gleichgewicht distanziert, der Mann ernährt sie, um ihre Gunst zu kriegen. Die inclinatio ist schon am Werk im Zufall der Wälder, die Neigung der Balance, des Unrechts, des Begehrens.

Doch da und dort tauchen die Katastrophen auf, die wilden Tiere. Die Herumirrenden jener ersten Zeitalter leben wie die wilden Tiere mit den wilden Tieren. Und gegen die wilden Tiere. Diese als Beute für jene und jene für diese.

 

Der Mensch gehört zur Nische der Tiere, das Tier in die Menschennische. Der Löwe und das Wildschwein verjagen die Schläfer aus ihrem Bett. Das Gleichgewicht, die Ruhe ist gebrochen. Beutetier und Beutejäger vertauschen ihre Rollen. Wie bei den Tieren so bei den Pflanzen. Der Schierling gedeiht bei den Blumen, das Giftige inmitten des Erfreulichen.

 

Und die Unfruchtbarkeit nimmt überhand – mit den Klimawandlungen. Das Gleichgewicht zerbricht dort und da – diese Brüche lösen die Geschichte aus.

 

Frauen, Wildtiere, Giftblumen zerbrechen das Gleichgewicht zu Exzess oder Mangel. Es ist, als ob das Männliche Natur wäre, das Weibliche bereits Geschichte.

 

Nun verstehen wir besser die Gefahren der Liebe, ihre Illusionen und Leiden, die im vorhergehenden Buch geschildert worden waren. Der Haß der Frau oder gegen die Frau ist protohistorisch.

 

Venus ist da, von Anfang an, Anfang der Zeiten wie des Textes. Die Opferung der Iphigenie stammt aus den Wäldern der Urzeit.

 

Ein Mädchen, getötet für die Gegengabe Wind, eröffnet die Geschichte der Waffen.

 

Ein Mädchen, zunächst ausgehungert, dann genährt, im Austausch gegen sexuelle Fortpflanzung, eröffnet die Geschichte überhaupt. Der Mythos des Anfangs wird in die reale Zeit übersetzt. Die Geschichte ist nur Gewalt.

 

Die Degradierung hat eingesetzt. Die sexuelle Fortpflanzung kompensiert dank einer neuen Methode die Erschöpfung der Mutter Erde, die keine Kinder mehr in die Welt setzt. Die sogenannte Menschengeschichte entwickelt sich in Kontinuität mit der Naturgeschichte. Die Frau sorgt für den Nachwuchs wie auch für die Tauschbeziehungen. Das Menschengeschlecht errichtet Hütten, um sich vor den wilden Tieren zu schützen. Nachdem es sie getötet hat, bekleidet es sich mit ihren Häuten.

 

Auch das Feuer ist eine List, dank der man der Kälte, die durch die Klimaverschlechterung eingetreten ist, entkommen kann. Der Blitz als das Feuer, das sich dem kanonischen clinamen verdankt, bewährt sich als Lösung. Und indem die Ehe die Anhäufung der Schulden beendet, indem die Frau zum Eigentum eines Mannes wird, muß sie alles gewähren.

 

Dennoch können alle diese Kompensationen die verlorene Isonomie nicht wieder herstellen. Man muß die Hütten ausbauen und Zitadellen errichten. Es bleibt immer ein Rest, der zu begleichen ist. Es geht nicht mehr um die Statik eines Gleichgewichts, sondern um die Dynamik einer Bewegung.

 

 

Die Kompensation, die eine Degradierung beseitigt, verursacht eine neuerliche.

 

Das Begehren, das durch die Degradierung hervorgerufen worden war, erzeugt eine neuerliche.

 

Das alles bringt keinen Zyklus, denn die Lösungen sind immer wieder neu, und die Mängel desgleichen.

 

Das ergibt eine Spirale, die immer wieder eine neue Bahn beschreibt. Eine Turbination, die fortschreitend Gleichgewicht sucht und verliert. Die wirbelförmige Lösung ist isomorph zur natürlichen Genese aus dem Chaos.

 

Die Geschichte ist also eine Physik – was zu zeigen war. (218ff.)

 

Walter Seitter

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