τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 16. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XVIII

Mittwoch, 11. Oktober 2023

 

MORAL

Die Seele und der Abstieg zur Hölle

Wir sind nicht unsterblich, die Seele zersetzt sich ebenso wie die Glieder, die verfaulen und sich zerstreuen, unabsehbar. Niemand steigt in die Unterwelt hinunter. Die Hinterwelt findet gar nicht statt. Weder der Acheron noch die Angstszenen, welche die Fabel dorthin verlegt.

 

Aber das Lukrezische Gedicht greift sie auf, wiederholt sie – Tantalus, Sisyphus oder die Danaiden, die Wasser in ein durchlöchertes Faß gießen müssen. Das Gedicht schreibt diese Figuren wieder und wieder, der Maler malt sie aufs Herrlichste (John Williams Waterhouse) – in dem Moment, in dem niemand an sie glaubt. Der Maler muß solche Mädchen gekannt und studiert haben, um sie so gut malen zu können. Dass es gab sie, es gibt sie wirklich – solche Mädchen, aber auch Knaben, die so oder so sich ergießen, sich vergießen, ja verschütten und verspritzen.

 

 

 

John William Waterhouse (1849-1917): Die Töchter des Danaos

Wenn die Religion ihren Sinn verliert, wird er von anderer Seite nachgeliefert.

 

Wenn das Opfer der Iphigenie gar nicht stattgefunden hat, so finden doch die Stürme des Meeres statt und die Gewalttätigkeiten der Menschen gleichfalls.

 

Die erhabenen Höhen des Olymp mögen nicht ganz so voller Götter sein, wie gesungen worden ist, aber die Gewalten der Natur sind dort sehr wohl am Werk und anderswo ebenfalls und die Festungen der Wissenschaft erheben sich in höchste Höhen.

 

 

Alles das hier und jetzt bei „uns“.

 

Sisyphus ist ein König der Historie. Die Hölle ist der Kampf um die Macht. Die Hölle ist die Historie.

 

Die Hölle, das sind wir selber. (206)

 

So paraphrasiert, antiphrasiert Serres einige Jahrzehnte später Sartres Satz aus dem Jahr 1944. Einige Jahrzehnte später und in einer triumphalen Phase von Frieden und Wirtschaftswunder und Wissenschaftsfortschritt. Der Satz aus dem Theaterstück Geschlossene Gesellschaft hatte schlicht und einfach den Krieg, den totalen Krieg, auf den Begriff gebracht.

 

Jetzt, so sagt Serres mit dem Religionskritiker Lukrez, ist die Hölle das Leben der Dummen, das Leben der Irren, das kranke Leben selber. Es ist die Folter, die man sich selber antut. Die Legende erlaubt es uns, das Schwarze in uns zu lesen. Es handelt sich nicht so sehr um eine psychologische Lektüre jener Legenden. Wir selber, sind in dem, was wir sind, die Psychologie selber. Die religiösen Legenden bilden die Archaik unserer Humanwissenschaften.

 

Und Lukrez hat es gesehen.

 

Denn: was haben wir eigentlich erkannt, seitdem im letzten Jahrhundert (beziehungsweise im vorletzten) die Denkmuster und die Codes, Herr und Knecht, Ödipus, das Apollinische und das Dionysische aufgewiesen worden sind?

 

Bruchstücke von Legenden oder Erzählungen, mit denen sich eine Struktur entziffern läßt.

 

Einige Stücke Hölle, um die Historie zu entschlüsseln, um das Worträtsel, das mentale und demenzielle Logogriph zu enträtseln. Die Finsternis der Unterwelt graphiert sich an den Grenzen der Seele – wo wir nicht wissen, daß wir uns foltern. In der Nachbarschaft des Todes, Todestrieb.

 

Hat die Religion ihre vitale Bedeutsamkeit verloren, so wird sie zum Tableau der menschlichen Möglichkeiten. Die mythischen Erzählungen werden zum ethnologischen oder anthropologischen Katalog der Riten.

Die Hölle, das ist der Mimetismus. Die anthropologische Interpretation ist keine schlechte Annäherung an die Formierung der mythischen Figuren. Die wiederum sind ebenso fähige Interpretanten wie sie Interpretate sind.

 

Vorwissenschaftliche Menschenwissenschaften.

 

Die Höllen taugen als Lektüreschlüssel für das Rechtswesen und für die Politik, für die Historie der Institutionen und für die seinerzeit so genannte Tiefenpsychologie.

Zieht sich der Glaube (aber was ist das?) aus den Religionen zurück, so bleibt die Geschichte der Religionen als Archäologie der Humanwissenschaften. Aber es genügt.

 

Wieso sind die Modelle so genau?

 

Wenn die Seele materiell ist und aus winzigen Atomen besteht, wenn die Zeit die Ordnung der verbundenen Dinge ist, wenn die Knechtschaft, der Reichtum und die Armut, die Freiheit, der Krieg und die Eintracht, eventa also Ereignisse sind, dann müssen die Humanwissenschaften von der Wissenschaft übernommen werden, die für die coniuncta zuständig ist: also von der Physik.

 

Der Traktat von der Seele, der mit den finsteren Untiefen anhebt, aus denen sie auftaucht, und zum vollständigen Tableau der Institutionen aufsteigt, welche sie tragen, beginnt folglich beim Atom und endet mit ihm.

 

So ist es, so wird es sein.

 

Die Töchter des Danaos befleißigen sich, das Faß ohne Boden mit Wasser zu füllen. Das Faß aber ist unser Körper selber, und unsere Seele, die in kleinen Partikeln entweicht. Aber auch die Erde selber: das Bassin der Meere. Die Danaostöchter gießen Seele in die Körper, sie schütten Flüsse in die Tiefen, Ozeane auf die Welten.

Sie wiederholen, unterweltlich, die Genesis.

 

 

Sie projizieren ihre eigenen Körper, sie modellieren sie. Homöostatisch und homöorhetisch.

 

Lassen wir Troja, es ist zu weit weg. Athen kann sich selber zerstören.

 

Lassen wir die Götter mit ihrem Gelächter, mit ihren Gelagen, mit ihrer Transzendenz.

 

Bleiben wir bei unserer Immanenz. Alles ist da und es ist genug.

 

Wir können Götter werden, in der Natur und in unserer Natur.

 

Heben Lukrez und Serres damit unsere Verdammung in die Hölle auf?

 

Nicht ganz, aber sie suspendieren sie und erklären auch einen ganz anderen Zustand für uns für möglich den man mindestens als Olymp bezeichnen müßte aber Olymp für uns und mit uns also vielleicht mit solchen die gescheiter sind als jene Götter - was allerdings doch nicht ganz leicht sein dürfte.

 

Jede Interpretation ist bereits eine Verschiebung. Dazu bedarf es keiner Reise: weder nach Troja, noch zu den Göttern und auch nicht in die Unterwelt.

 

De natura rerum liefert eine Ilias, eine Odyssee oder Äneis – ohne Ortsveränderung.

 

Meine liebe Körperseele: bleib da und nimm irgend ein Ding in die Hand! Irgend etwas aus Erde, aus Wasser, einen Stein oder ein Tier! Lies dieses Objekt der Welt! Lies es, wie es geschrieben ward, aus den Buchstaben seiner Atome! Was in seinen Eingeweiden geschrieben steht, in seinen kristallinen oder in seinen runden weichen Molekülen, die über einander rollen – das ist es, wie dieses Ding geboren worden ist, wie es naturiert worden ist. Das Ding ist das geschriebene Gedächtnis seiner Formierung, seiner Emergenz aus dem Chaos. Lies seine Atom-Buchstaben, meine liebe Seele, lies den Körper-Satz, den Objekt-Text, lies das Schreibtafelding. Das Ding, den Text seiner Genese. Das Ding, in dem geschrieben steht, daß es durch Sturz und Zufall, durch Wasserfall und Abguß, durch Wirbel und Zusammenfluß zustande gekommen ist – das ist der textile Text, in dem auch du geschrieben stehst, meine materielle und sterbliche Seele!

 

Der Garten, das Lokale

 

Isonomiaaequilibritas bezeichnen ein nicht ohne weiteres wahrnehmbares Gleichgewicht zwischen gegenteiligen Erscheinungen oder Entwicklungen in unterschiedlichen Gegenden. Der Tod einer Welt wird durch die Geburt einer anderen ausgeglichen. Die Ruinen da koexistieren mit der Lebensfülle woanders. Diese Konstanz bedeutet bei Lukrez nicht die ewige  Wiederkehr sondern eine Distribution im Universum.

 

Wenn Athen untergeht, sich in Leere und Atome auflöst, so bedeutet das nicht, daß aus dem Staub und dem Chaos hier wieder eine blühende Natur und Kultur hervorgehen.

 

Das Gleichgewicht ist global und in Raum und Zeit zufällig verteilt.

 

An ungewissen Orten und zu einer unvorhersehbaren Zeit, findet ein anderer Aufbruch statt. Es gibt keinen lokal geschlossenen Zyklus.

 

Noch prosaischer gesagt: die bekannte Tatsache, daß sich die Dinge und Ereignisse nicht nur im Nacheinander und Voreinander der Zeit abspielen sondern auch im Nebeneinander und Auseinander und Untereinander und Übereinander des Raumes oder vielmehr der Orte und Gegenden, bringt es mit sich, daß die Unterschiede und Gegenteile und Gegensätze ungeheuer viele Chancen haben.

 

Dieses erste Prinzip regiert die globale Ökonomie. Das zweite bestimmt die Existenz der lokalen Welt, die damit zur Erscheinung kommt. Entstanden aus dem clinamen  geht es mit dem Ort auf dem Weg der Degradierung hinunter – auf dem Weg der Energieentwertung, die trotz der Energieerhaltung „automatisch“ weitergeht . . . . Serres zitiert jetzt einfach ein paar Gemeinplätze des ewigen Jammerns. Der Mai, die Muskelkraft , das Glück – die sind auch nicht mehr, was sie einmal waren. Die Erde ist nicht mehr so fruchtbar. Das Klima verschlechtert sich, die Unfruchtbarkeit nimmt zu (geschrieben vor 50 Jahren). Die Natur nähert sich der Auflösung und dem Tod.

 

Das ist das lokale Gesetz des Niedergangs.

 

Also die beiden Prinzipien der Isonomie und des Niedergangs, oder der Energieerhaltung und der Energieentwertung.

 

Serres sagt, daß die Heranziehung dieser modernen Begriffe zum Verständnis des antiken Textes keineswegs „anachronistisch“ sei, also eine fälschliche Verquickung von Aussagesystemen, die miteinander nichts zu tun hätten.

 

Wie mir das neulich mein Freund Walter Pamminger sehr heftig entgegengehalten hat, als ich in meinem Vortrag „Aristotelische Wissenschaftstheorie“ (am 1. Juli 2023 in der Weinhandlung VINOE in der Piaristengasse) den aristotelischen Wissenschaftsbegriff immerhin „Wissenschaftsbegriff“ genannt habe und nicht etwa Unwissenschafts- oder Außerwissenschafts- oder Vorwissenschaftsbegriff.

 

Hier jedoch behauptet Serres ausdrücklich, daß die beiden im 19. Jahrhundert nach Christus formulierten Prinzipien der Energieerhaltung sowie der Energieentwertung, bereits von Heraklit und ganz bestimmt von Aristoteles (!) (natürlich in ihrer Sprache), also schon vor Lukrez formuliert worden seien. Daher sei es nicht abwegig, zu untersuchen, ob die moderne Wissenschaft (also die nach der Renaissance), diese Prinzipien von den Griechen aus erneuert habe.

 

Wir arbeiten seit einigen Jahrzehnten in der Verzweigung zwischen zwei Linien, einer horizontalen und einer geneigten. Die Theorie arbeitet in diesem Raum seit Bergson, der sich nicht umsonst für Lukrez interessierte – und da stellt sich die Frage der Historie.

 

Was wir die Arbeit, die Kultur und die Geschichte der Menschen nennen, das spielt sich auf dem „Talweg“ der Degradierung, auf der Linie der Inklination ab – um die Wirkungen dieser Niedergangs zu kompensieren und zumindest die Linie der Isonomie wieder zu erreichen.

 

Und das nennt man die Naturgeschichte: die Abnutzung hat einen Sinn und eine Zeit,nämlich die integrale declinatio. Hier kann es lediglich um ein homöorrhetisches Gleichgewicht gehen.

 

In ihrer ersten Großzügigkeit bringt die Erde Kinder zur Welt. Aber das dauert nur eine Zeit lang, in welcher die Kräfte der Lebewesen nachlassen. Die Spontanzeugung kann nur ein degeneriertes Fossil der ursprünglichen chthonischen Zeugung sein.

 

Wenn die Mutter Erde erschöpft ist, so tritt die sexuelle Zeugung an ihre Stelle. Diese Mutation ist so stark wie bei Empekokles der Übergang vom Zeitalter der Freundschaft zu dem des Zwistes oder wie bei Platon die Umkehr der Erddrehung (im Politikos). 

Von der Erzeugung durch die Erde zur sexuellen Zeugung setzt sich die Reproduktion, die Weiterführung des Lebens fort. Aber die Methode wandelt sich: von der chthonischen zur venerischen.

 

Die neue Methode versucht, den Niedergang zu kompensieren. Sie versucht, die horizontale Linie, von der die declinatio abgewichen war, wieder zu erreichen. Aber der neue Zustand degradiert wiederum.

 

So geschieht alles, wie es am Anfang der Dinge geschehen ist.

 

Von der Physik als Geburt der Welt aus dem Chaos zu dieser Naturgeschichte als Zeugung, Entwicklung und Absterben der lebendigen Spezies ist das Modell immer das gleiche.

 

Heute würden wir sagen: die Biologie ist eine Physik - oder die Genetik läßt sich auf die Genesis der trägen Materie zurückführen. Damit würden wir mit unseren Kategorien, mit unseren Einteilungen urteilen.

Tatsächlich gibt es eine Physik – das ist alles.

 

Walter Seitter

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