τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 6. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XVII

Mittwoch, 4. Oktober 2023

 

HISTORIE

 

Die verschiedenen Ebenen der Physik rühren vor allem daher, daß Serres die Lukrez-Lektüre mit der Lektüre des Mathematikers Archimedes gekoppelt hat und damit auch entdeckt hat, daß die Verbindung von Phänomen-Beschreibung und mathematischer Strenge sich nicht einer „modernistischen Revolution“ verdankt, sondern eine antike Erfindung ist, welche in der Renaissance und Klassik[1] sorgfältig studiert und reproduziert worden ist.

 

Serres schlägt nun eine weitere Doppellektüre vor:

 

Lukrez: De rerum natura (ca. 55 vor Christus)

 

Leibniz: De rerum originatione radicali (1697)

 

Leider setzt er das Leibniz-Buch als bekannt voraus und referiert es nicht.

 

Daher erinnere ich an eine am 13. September hier erwähnte Stelle (S. 183), die auf diese Leibniz-These anspielt und zwar so, daß der Rückbezug zu Lukrez deutlich wird: da wird das clinamen, also eine Fluktuierung, die das einförmige Dahinfließen modifiziert, als letzte - besser wohl als erste - Voraussetzung dafür genannt, daß lieber etwas existiert als nichts. Denn nur eine solche Abweichung führt zu einer Verbindung und zu einem stabilen Mehr gegenüber der Leere.

Im Internet kann man einen Artikel über den Leibniz-Text lesen, der die Leibniz-These als Antwort auf die Leibniz zugeschriebene fundamental-ontologische Frage, warum eher etwas existiert und nicht vielmehr nichts, erläutert.

 

The Ultimate Origin of Things 

Gottfried Wilhelm Leibniz (PDF)

De rerum originatione radicali, 1697

 

 

Der Aufsatz von Jonathan Bennett scheut sich nicht, Leibnizens These bis zu den theologischen Höhen hinaufzuspannen, die erforderlich sind, um sie nachvollziehen zu können.

Sie setzt aber bereits auf einer Ebene ein, die man als hedonistische bezeichnen kann:

 

On that same principle, if we always ate sweet things they would become insipid; we need also sharp, acidic, and even bitter tastes mixed in with the rest to stimulate our palate. Someone who hasn’t tasted bitter things doesn’t deserve sweet things, and indeed won’t appreciate them! This is a law of delight: Pleasure doesn’t come from uniformity, which creates disgust and makes us numb rather than happy.

Minds are  produced in the exact image of God. They relate to him not only as machines relate to their maker (as other things do), but also as citizens to their prince. They are going to last as long as the universe itself does. They express the whole universe in a certain way, concentrating it in themselves, so that they might be called ‘whole parts’.

Certain things regress to their original wild state and others are destroyed and buried, but we should understand this in the same way as the afflictions that I discussed a little earlier: this destruction and burying leads to the achievement of something better, so that we make a profit from the loss, in a sense.

You may object: ‘If this were so, the world should have become Paradise long ago!’ I have a quick answer to that. Many substances have already reached great perfection; but because of the infinite divisibility of the continuum, there are always parts asleep in the depths of things, yet to be roused and advanced to greater and better things, advanced to greater cultivation, in short. Thus, progress never comes to an end. .

 

When Leibniz writes of ‘parts asleep in the depths of things’ he reflects his doctrine—not expounded here—that everything in the natural world is made of organisms, each of which is made of still smaller organisms, each of which is...

 

Anderswo habe ich Bilder gefunden, die paradiesische Zustände so realistisch abbilden, daß an ihrer realen Existenz nicht gezweifelt werden kann, sofern man filmischen Aufnahmen vertrauen kann. Man kann ihnen – jedenfalls fallweise – vertrauen, da man – „man“ das kann ich sein oder ein du oder wir – solches selber auch erlebt, erfahren hat. Erlebt, erfahren hat man es nur, wenn man dabei selber nicht nur passiv sondern auch aktiv, aktivierend dabei gewesen ist.

Der dazugehörige Serres-Text auf den Seiten 200ff. scheint die Frage der Historie anzureißen und auszudehnen: 

Ursprung der Welt (Gustave Courbet?)

Archäologie der Welt, Archäologie der Wissenschaft (Michel Foucault?)

Und wenn seit Aristophanes, seit den Vögeln, gar nichts passiert wäre? Im Anfang war das Chaos. Und die Liebe gleich den flüchtigen Wirbeln des Windes. 

 

Auf den Seiten 200ff. kann ich das Wort plaque = Tafel, Platte, Schild leider nicht zuordnen. Verweist es auf Schrift?

Die lokale Arbeit an der plaque transformiert das Relief – entstellt es bis zur Verkenntlichkeit. Es wird unlesbar, hat man nicht die Tiefenplakette aufgefunden . . . .

Serres scheint weiterhin von dieser Sache zu sprechen und ordnet ihr nicht die unumkehrbare Zeit der Entropie zu, die zur Unordnung abfällt, sondern die Zeit der Negentropie, die man endlich wieder korrekt und ermutigend „Ektropie“ nennen sollte, die umkehrbare Zeit, die den Untergang aufhält, die Zeit der Uhren, die Zeit des Sonnensystems, die Zeit unserer Datierungen, die wir so lange für die Geschichte gehalten haben und für vektoriell, obwohl sie zirkulär ist. 

Was wir suchen, um die Geschichte zu verstehen und nicht nur die der Wissenschaften, ist ein Modell, das diese Zeiten zusammenfügt und integriert. 

Nun gibt es etwas, das diese Leistung vollbringt. Nämlich irgendetwas, das existiert: Molekül, Kristall oder Organismus ist dazu in der Lage. Etwas, das der unumkehrbaren Zeit der Entropie unterworfen ist – ihr jedoch durch seine ektropische Ordnung widersteht. Ein Austauscher zwischen den Zeiten. Ein Strauß, ein Stern, ein Wirbel aus Zeiten. 

Ich brauche die Metapher der Erde, das geophysische Modell gar nicht mehr. Jedes beliebige Objekt der Welt, sofern es kraft eines Abstands vom Gleichgewicht existiert und der Tendenz zur Entropie wiedersteht, ist ein komplexes Uhrwerk, das mehrere Zeiten ineinander fügt, kann das von mir gesuchte Modell bilden.

Es scheint, daß Serres mit der Plakette eben das gemeint hat. Denn er fragt, ob sie dazu auch ausreichend stabil sei, um beide Zeiten zusammenzufügen. Dazu muß ihr eine lange Zähigkeit eingeschrieben sein, welche das Diskursive der Historie trägt.

Und das beste Modell ist die Sache selbst oder das Objekt, insofern es existiert. Jedes Ding ist Geschichte und ihr Diskurs ist exakte, getreue, präzise Philosophie der Geschichte. 

Was an den Küsten des Jonischen Meeres geboren worden ist, das war der Diskurs der Dinge, die Physik, die Formierung der Existierenden in ihrem Stoff. Das war auch die Historie und was die Historie unversehens herbeigeschafft hat. Das Unwandelbare, das war der Begriff der Historie. Wir haben die Dinge vergessen und was sie, die wandelbaren über das Wandelbare sagen. 

 

Walter Seitter




[1] Hier ist daran zu erinnern daß bei Michel Serres (wie bei Michel Foucault und allen Franzosen mit dem  „klassischen Zeitalter“ dasjenige gemeint ist, das bei uns das „barocke“  heißt (ca. 1600 bis 1750).

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