τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 29. Oktober 2023

In der Metaphysik lesen (1091a 23 – 1091b 19)

25. Oktober 2023

 

Aristoteles setzt die Besprechung der Zahlenlehre fort, in der seine Gegner hauptsächlich die Pythagoreer sind, die häufig mit den Platonikern identifiziert werden.

 

Die Unterscheidung zwischen den geraden und den ungeraden Zahlen spielt da eine wichtige Rolle, ja sie wird in bezug auf die „Entstehung“ sehr stark betont. Platon und seinen Anhängern wird unterstellt, daß sie die gerade Zahl als erste aus dem Ungleichen hervorgehen lassen, und aus der Art ihrer Beweisführung schließt Aristoteles, daß sie diese Überlegungen nicht um der Theorie willen anstellen.

Er selber springt daraufhin zu einer Frage, die ganz offensichtlich auf der Ebene der Theorie liegt: nämlich zur Frage, wie sich die Elemente und die Prinzipien zum Guten und Schönen verhalten.

 

Wenn diese Frage eine theoretische im engeren Sinn ist – welcher Begriff von „Theorie“ wird da vorausgesetzt?

 

Vermutlich werden sowohl die Elemente und Prinzipien wie auch das Gute und Schöne zum Theoretischen gezählt.

 

Während die davor eingeführten geraden und ungeraden Zahlen sowie die Begriffe des Gleichen und Ungleichen offensichtlich als weniger theorienah gelten.

 

In welchen Bereich gehören dann diese? Doch wohl in den Bereich der Mathematik – und gehört diese nicht zur Theorie?

 

Was gehört für Aristoteles in den Bereich der Theorie? Darüber spreche ich am 6. November in der Weinhandlung VINOE, dieses Protokoll wird am 25. Oktober geschrieben und erst am 6. November vorgelesen.

 

Nun, die Mathematik und mit ihr die Zahlenlehre gehören sehr wohl in die Theorie, aber die anderen vier Begriffe scheinen Aristoteles einen um so viel höheren Rang einzunehmen, daß im Vergleich zu ihnen den mathematisch-theoretischen Fragen der Theoriecharakter abgesprochen wird – was ein sogenannter gesunder Hausverstand kaum akzeptieren möchte, denn ein Fußballspiel zwischen den Kindern des Dorfes ist eigentlich ebenso ein Fußballspiel wie eines mit hochbezahlten Fußballstars.

 

Aber in welche Theorie-Abteilung gehören nun die Elemente und Prinzipien einerseits, das Gute und Schöne andererseits?

 

Wenn sie nicht in die Mathematik gehören und auch nicht in die Physik?

Gehören sie in die Physik? Sophia Panteliadou meint, sie gehören in die Ethik, in der es ja um das Gute geht. Ja es geht darin um das Gute – aber nicht theoretisch. Sondern praktisch – als etwas was im Handeln erreicht wird (oder nicht).

 

Und die Elemente und Prinzipien? Wo gehören die hin? Die Elemente in die Kosmologie oder Physik. Die Prinzipien? 

 

Prinzipien sind entweder Sätze wie derjenige, den man den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch nennt und der im Buch IV der Metaphysik ausführlich dargelegt wird. Das ist ein Satz, der ein Nicht-Dürfen, eigentlich ein Nicht-Können, noch eigentlicher ein Müssen formuliert.

 

Oder Prinzipien sind erste Ursachen, in heutiger Redensart letzte Ursachen. In diesem Sinn ist eine Mutter für ihre Tochter kein Prinzip, sondern eine nahe Ursache. Wohl aber eine Vorfahrin wie Eva oder Aphrodite (sofern diese auch menschliche Nachkommen hatte). Solche Prinzipien sind der Physik zuzurechnen. Die Elemente gleichfalls. Und die Physik ist ja die erste theoretische Wissenschaft – die erste in der Aufzählung, weil der menschlichen Lebenswelt am nächsten.

Aus den folgenden Ausführungen ist zu schließen, daß Aristoteles hier mit den Prinzipien erste Ursachen, Entstehungsbedingungen meint, zusätzlich zu den Elementen, welche die ersten Materialien bilden.

 

Die Frage, die Aristoteles hier aufwirft, wie sich nämlich die Elemente und Prinzipien zum Guten und Schönen verhalten, läßt alle Überlegungen zum Mathematischen in den Büchern XIII und XIV weit hinter sich – ausgenommen die Ausführung in 1078a 32 – 1078b 5. Dort wird behauptet, auch die Mathematik spreche vom Schönen und Guten, sofern dieses sich nicht nur in ethischen Handlungen finde, sondern wie das Schöne auch als erste Ursache von vielen Werken anzusehen sei. An dieser Stelle heißt es, dieser Punkt werde später besprochen werden. Mein Grazer Übersetzer vermerkt in einer Fußnote: „Ein nicht eingelöstes Versprechen“.

 

Darin kann nicht nur ein Hinweis darauf gesehen werden, daß das ganze Werk nicht von Aristoteles vollendet worden sein dürfte, sondern wenn man diese Stelle mit anderen und mit der aktuellen konstelliert, kann man zum Schluß kommen, daß die vielen Überlegungen zum Mathematischen über die mathematische Wissenschaft hinaus – zu den beiden anderen Theoretischen Wissenschaften hinüber greifen: zur Physik und zur Theologie, welches Hinübergreifen figural das Ypsilon nachzeichnet: ein vertikales Hinauf und dann eine Verzweigung schräg nach links und eine andere schräg nach rechts.

 

 

      Physik                         Theologie

 

 

 

                        Y

 

 

                     Mathematik

 

 

Diese kleine Systematik zeigt, daß die Bücher XIII und XIV als von der Mathematik ausgehende Nachüberlegungen zu den drei theoretischen Wissenschaften betrachtet werden können, wobei die Mathematik von Aristoteles relativ gering geschätzt aber keineswegs ungeschätzt bleibt. Der Titel „Philosophie“ wird ihr allerdings weniger zuerkannt als der Physik und der Theologie.

 

Wie sich die Theoretischen Wissenschaften von den beiden anderen Wissenschaftsrichtungen, von den Technischen und den Praktischen Wissenschaften, unterscheiden, dazu werde ich am 6. November in der Weinhandlung etwas sagen. Da gibt es aber noch eine interessante bereits gelesene Stelle, die sich im selben Wortfeld bewegt, und zwar wird über die besagten Platoniker oder Pythagoreer gesagt, sie seien zu ihren Annahmen über die Entstehung der Zahlen „nicht um des Betrachtens willen“ gekommen, sondern aus irgendwelchen anderen Gründen“. 

 

Das ist jetzt ein persönlicher Vorwurf gegen jene Philosophen, der wiederum uns zwingt, zu sagen, was Aristoteles unter „Theorie“ verstanden hat. Wobei es nicht genügt, das Wort „Theorie“ fleißig zu wiederholen.

 

Ich zitiere zunächst die mir vorliegenden Übersetzungen:

Loeb/Tredennick: not for the sake of a logical theory;

Bonitz/Seidl: nicht bloß um der Betrachtung willen;

Schwarz: nicht der Betrachtung wegen;

Sachs: not just for the sake of theoretical analysis.

 

Die beiden deutschen Übersetzungen sind zu loben, weil sie ins Deutsche übersetzen. Die alte englische und die neue englische Übersetzung setzen das moderne Fremdwort ein, zu dem auch ich neige, obwohl es problematisch ist.

 

Was aber versteht Aristoteles unter den theoretischen oder betrachtenden Wissenschaften? Es sind die Wissenschaften, die sich auf Gegenstände richten, die es schon gibt, und die diese Gegenstände aufgrund bestimmter Wahrnehmungen und Erfahrungen, seien es Erschreckungen oder Faszinationen auf sich wirken lassen; die Gegenstände müssen auf den Betrachter einwirken – der oder die Betrachterin muß diese Einwirkung aushalten und muß dieses Aushalten auch aktivieren können und auf bestimmte Weise auch beantworten.

 

Betrachten, kontemplieren und respondieren. Vita contemplativa, scientiae contemplativae.

 

Auch die Mathematik ist laut Aristoteles so eine theoretische Wissenschaft, aber wenn die Mathematiker oder gar Mathematikphilosophen (als solche galten die Pythagoreer) die spezifische Kontemplationsleistung versäumen oder verweigern, wenn sie die spezifische Theorieleistung nicht erbringen, dann werden sie den Schritt, den ich oben als die Y-Verzweigung angeschrieben habe (Mathematiker „schreiben an“ und Mathematikphilosophen (zu denen ich mich jetzt auch geselle)), nicht tun können und schon gar nicht den ungeheuren Sprung, den Aristoteles jetzt – und zwar mit Betonung der erkenntnispolitischen Herausforderung und des Versagensrisikos – als Frage vorschlägt, nämlich die oben schon zitierte Frage nach dem Verhältnis zwischen Elementen und Prinzipien einerseits, Gutem und Schönem andererseits.

 

Aristoteles formuliert anschließend auch die Frage, ob es etwa gar Überschneidungen zwischen den beiden Verhältnispolen gibt.

Aufgrund der Abwägung zwischen verschiedenen philosophischen und theologischen Positionen, auch zwischen mehreren Naturmächten einerseits und irgendeinem höchsten Gott andererseits, kommt er dann zur Frage, ob als Prinzip, wenn es nur eines soll, eher das Eine oder das Gute anzunehmen sei.

 

Hierzu ein aktuelles Foto von jenen Auseinandersetzungen:

 

 


 

Im Zuge dieser Erörterung werden viele Begriffe vorgeschlagen, die das eine Prinzip näher charakterisieren sollen: das Erste, das Ewige, das Autarkeste (also Sichselbstgenügendste), die Rettung oder das Heil oder die Erhaltung (wie sollte man da in einem (post)christlichen Jahrhundert nicht an Christliches denken?), das Unvergängliche, das deswegen unvergänglich und autark ist, weil es sich gut verhält (da scheint das Ethische direkt ins Theologische einzuziehen).

 

Zweifellos berührt sich oder deckt sich das so gedachte eine Prinzip mit dem, wovon im Buch XII gesagt wird, daß es bewegt, da es geliebt wird und zwar erotisch geliebt wird, und mit dem, was begehrt wird, da es schön scheint (1072a 27 – 1072 b 3).

 

Walter Seitter

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