τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 25. November 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1042b 9 – 1043a 2)



Als Nachtrag zum zuletzt Gelesenen hier eine kleine Übersicht zur aristotelischen Konzeption der Veränderung.

Änderungen des Wesens heißen Entstehen oder Vergehen; in den Abschnitten 7 bis 9 von Buch VII war ausführlich von den Entstehungen von Wesen die Rede. Akzidenzielle Veränderungen betreffen den Ort, die Größe oder die Qualität, sie vollziehen sich an gleich bleibenden Wesen. Alle Veränderungen spielen sich in der Polarität zwischen Möglichkeit und Verwirklichung ab, die Wesensveränderungen zwischen kontradiktorischen, die akzidenziellen zwischen konträren Gegensätzen.

Auch der Begriff der Bewegung wird dazu eingesetzt, den Bereich der Veränderungen theoretisch fassbar zu machen, namentlich um die Anstöße für Veränderungen zu bestimmen. Die Fremdbewegung ist typisch für künstliche Prozesse, Selbstbewegung für natürliche Prozesse; aber auch bei denen müssen fremde Anstöße dazukommen: synchron und mit direktem Kontakt. Ein großes Extrakapitel hat Aristoteles in seiner Politik den Verfassungsänderungen gewidmet (da geht es um so etwas wie Bürgerkrieg, Revolution, Staatstreich sowie um deren Verhinderung) – dies sei hier nur knapp angemerkt, damit sich der Eindruck, die Physik sei für Aristoteles die einzige Basiswissenschaft nicht ganz und gar verfestige.

Buch VIII schließt fugenlos an Buch VII an und nach dem substrathaften und stofflichen Wesen wendet sich Aristoteles dem aktualisierten Wesen der Sinnesdinge zu und mit der Aktualisierung setzt sprunghaft das Aufkommen der akzidenziellen Unterschiede ein. Die Akzidenzien scheinen genau so wesentlich zu sein wie die Wesen selber. Gesetzt es handelt sich um eine Türschwelle, so wird sie notwendigerweise durch eine Reihe von Parametern bestimmt, innerhalb deren die Einzelbestimmungen allerdings variabel sind: Lage, Größe, Farbe, Passendheit ... Sobald die Schwelle (die in jener Zivilisation eine „Schlüsselfunktion“ im Sinne der Grenzregimes hatte) einmal eingebaut ist, hat sie bereits eine ganze Schimmelkultur von Eigenschaften, Beziehungen, vielleicht Problemen entwickelt.

Explosion der Akzidenzien, Unvermeidlichkeit der Akzidenzien – das ist es, was diese Textstelle vorführt, womit sie nicht ganz auf der Linie der aristotelischen Ontologie zu liegen scheint. Aber das kann man auch anders sehen.

Von diesem akzidenzialistischen Anfall geht Aristoteles direkt dazu über, Grundsatz 2 und 3 seiner Ontologie-Gründung im Buch IV neu zu formulieren.[1] Er wendet sich von dem (soll ich sagen allzu steifen) „Seienden“ ab und packt eine real praktizierte Verbalform, nämlich „ist“ am Schopf. Zunächst substantiviert er sie, um sie dann gleich normal zu zitieren: „dass auch das „ist“ in so vielen Bedeutungen ausgesagt wird; denn Unterschwelle ist etwas, weil es so liegt, und jenes Sein bezeichnet ein „so und so liegen“ (1042b 27f.). In einer Umformulierung also dann der Infinitiv Präsens, der das „ist“ zwanglos konzeptualisiert.

Unterschwelle-sein ist ein ganz bestimmtes Sein, am liebsten würde ich es klein schreiben: ein ganz bestimmtes „sein“. Obwohl die Unterschwelle als Teil der Tür, die ein Teil des Hauses ist, von Aristoteles als Wesen bezeichnet würde, schreibt Aristoteles ihr „sein“ akzidenzialistisch um zu „liegen“ (eines der neun Akzidenzien).[2] Und dieses akzidenzielle „sein“ („sein“ ist nämlich keineswegs von Haus aus substanziell) verlangt noch nach weiteren ebenso akzidenziellen Bestimmungen: so und so – also diese Türschwelle liegt vielleicht ziemlich hoch und ein bisschen schief.

Was erreicht Arisoteles damit? Er macht endlich deutlich, was der Grundsatz der multiplen Aussagung oder Bedeutung von „seiend“ immer schon sagen wollte: dass „sein“ ein ganz dünner Begriff ist, aber nicht ein dünner und fester Gattungsbegriff, auf den sich die Unterschiede draufsetzen. Sondern ein flexibler und elastischer Begriff, der sich an alle Unterschiede anschmiegt, ja der alle Unterschiede „mitmacht“ und dann von Fall zu Fall sogar anschwillt – denn „ziemlich hoch und ein bisschen schief liegen“ ist je eigentlich schon eine ziemlich reichhaltige Seinsmodalität, Seinsmodulierung.

Walter Seitter

Seminarsitzung vom 21. November 2018
Nächste Sitzung am 28. November 2018




[1] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI): 91.
[2] Zur modernen Gliederung der Tür siehe Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen

Montag, 19. November 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VIII (H), 1042a 3 – 1042b 9)

Der zuletzt gelesene Abschnitt steht in meiner Textausgabe unter der Überschrift „Wesen ist Form“, der heute gelesene unter der anscheinend genau entgegengesetzten „Der Stoff als Wesen“.

Zunächst die Feststellung, dass die natürlichen Wesen, gemeint sind die unterschiedlichen Gattungen von Körpern, von allen angenommen werden: nämlich dass es sie gibt und dass sie den Status von Wesen haben. Andere wie die mathematischen Dinge seien strittig. Aristoteles resümiert hier frühere Ausführungen mit anscheinend unvereinbaren Aussagen wie, „dass die Gattung in höherem Grade Wesen ist als die Arten“ und „dass weder das Allgemeine noch die Gattung Wesen ist“.

Die eben genannten natürlichen Wesen sind sinnlich erfassbar und ebenso verfügen sie über Stoff. Aber der Stoff wird in einer Weise erklärt, die nicht an Stofflichkeit etwa der vier Elemente denken lässt, sondern eher mit Logik zu tun hat. Er wird mit Substrat gleichgesetzt und dieses wiederum mit Möglichkeit, die der Wirklichkeit vorausliegt, mit dem Vermögen, das von der Aktualisierung vorausgesetzt wird, die wiederum als Entstehen und Vergehen stattfindet.

Alle Veränderungen sind Übergänge von einer Bestimmung zu einer anderen in einem jeweiligen Parameter etwa lokaler oder quantitativer oder qualitativer oder „wesentlicher“ (substanzieller) Art. Diese Parameter bilden das jeweilige Substrat im angedeuteten Sinn oder den Stoff in einem logischen Sinn. Dabei geht es um Veränderungen von Körpern, die auch im üblichen Sinn stofflich sind und die in der Physik bereits abgehandelt worden sind.

Es werden also in diesem Buch, das Metaphysik heißt, ontologische Voraussetzungen der Physik noch einmal auf etwas kursorische Weise besprochen. Und das trägt zu dem ziemlich spröden Charakter dieses Buches bei, dass es die konkreten Phänomene meist nur flüchtig berührt.

Walter Seitter

Sitzung vom 14. November 2018
Nächste Sitzung am 21. November 2018

Montag, 5. November 2018

Bernard Sichère, Aristoteles


Im letzten Januar habe ich auf den französischen Philosophen Bernard Sichère hingewiesen, der eine Untersuchung zur aristotelischen Philosophie vorgelegt hat.

Heute berichtet Gerhard Weinberger über Sichère, der vor seiner Studie Aristote au soleil de l’être (Paris 2017) eine Neuübersetzung der Metaphysik unternommen hat und damit gewissermaßen zu einem „Kollegen“ unseres hiesigen Unternehmens geworden ist, aus dem bereits die Publikation Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI), (Freiburg-München 2018) hervorgegangen ist.

Bernard Sichère (geb. 1944), ein Philosoph aus der Althusser-, Lacan-, Mao-Schule, bemerkte viele Jahre nach seiner Jugendzeit, dass ihm die damalige Platon- und Aristoteles-Lektüre mit ihren an der lateinischen Scholastik orientierten Übersetzungen wohl kein Verständnis für jene Philosophen gebracht habe. Er lernte von Martin Heidegger, dass es notwendig sei, sich in die griechische Sprache hineinzuarbeiten und sich von da aus den Texten zuzuwenden. Griechische Grundbegriffe der Philosophie wie „Spezies“ oder „wissen“ stammen direkt aus dem Wortfeld „sehen“ (eidoseidenai). Das in die modernen Sprachen eingegangene Wort „Theorie“ bedeutet im Griechischen eine Grundhaltung, die vom Staunen ins Sehen und Anders-Sehen übergeht – und keineswegs ein System von Aussagen und Beweisen. „Vita contemplativa“ ist ein anderer – allerdings lateinischer - Ausdruck dafür.

Das, was gesehen wird, das sind einerseits plötzliche, veränderliche, andererseits beständige und vielleicht ewige Dinge. Daraus folgt die Unterscheidung von Physik und Metaphysik.

„Ousia“ übersetzt Sichère mit „Präsenz“, „to-ti-en-einai“ nennt er eine barbarische Wortschöpfung; damit ist er immerhin zum Staunen darüber gelangt, anstatt das Wort einfach zur Kenntnis zu nehmen. Auch ich „stolpere“ über gewisse aristotelische Wortbildungen – und würde „to-ti-en-einai“ als kunstvolles Handwerksprodukt bezeichnen (in welches das Wort „sein“ in zwei verschiedenen Formen eingebaut ist); das einfachere „to on“ empfinde ich als ziemlich hölzern, wobei ich allerdings mehr das deutsche „Seiende“ meine. Wie fühlt sich „to on“ im Griechischen an?

Als umfassenden Begriff setzt Sichère den Infinitiv „das Sein“ – womit er vom aristotelischen Sprachgebrauch eher abweicht und sich in Richtung Heidegger bewegt.

Soweit ein erster Einblick in Sichères Beschäftigung mit Aristoteles.

Walter Seitter


Sitzung vom 31. Oktober 2018
Nächste Sitzung am 14. November 2018