Als Nachtrag zum zuletzt Gelesenen hier eine kleine
Übersicht zur aristotelischen Konzeption der Veränderung.
Änderungen des Wesens heißen Entstehen oder Vergehen; in den
Abschnitten 7 bis 9 von Buch VII war ausführlich von den Entstehungen von
Wesen die Rede. Akzidenzielle Veränderungen betreffen den Ort, die Größe
oder die Qualität, sie vollziehen sich an gleich bleibenden Wesen. Alle
Veränderungen spielen sich in der Polarität zwischen Möglichkeit und
Verwirklichung ab, die Wesensveränderungen zwischen kontradiktorischen, die
akzidenziellen zwischen konträren Gegensätzen.
Auch der Begriff der Bewegung wird dazu eingesetzt, den
Bereich der Veränderungen theoretisch fassbar zu machen, namentlich um
die Anstöße für Veränderungen zu bestimmen. Die Fremdbewegung ist typisch
für künstliche Prozesse, Selbstbewegung für natürliche Prozesse; aber
auch bei denen müssen fremde Anstöße dazukommen: synchron und mit direktem
Kontakt. Ein großes Extrakapitel hat Aristoteles in seiner Politik den
Verfassungsänderungen gewidmet (da geht es um so etwas wie
Bürgerkrieg, Revolution, Staatstreich sowie um deren Verhinderung) – dies
sei hier nur knapp angemerkt, damit sich der Eindruck, die Physik sei
für Aristoteles die einzige Basiswissenschaft nicht ganz und gar verfestige.
Buch VIII schließt fugenlos an Buch VII an und nach dem
substrathaften und stofflichen Wesen wendet sich Aristoteles dem aktualisierten
Wesen der Sinnesdinge zu und mit der Aktualisierung setzt sprunghaft das
Aufkommen der akzidenziellen Unterschiede ein. Die Akzidenzien
scheinen genau so wesentlich zu sein wie die Wesen selber. Gesetzt es
handelt sich um eine Türschwelle, so wird sie notwendigerweise durch eine
Reihe von Parametern bestimmt, innerhalb deren die Einzelbestimmungen
allerdings variabel sind: Lage, Größe, Farbe, Passendheit ... Sobald
die Schwelle (die in jener Zivilisation eine „Schlüsselfunktion“ im Sinne
der Grenzregimes hatte) einmal eingebaut ist, hat sie bereits eine ganze
Schimmelkultur von Eigenschaften, Beziehungen, vielleicht Problemen
entwickelt.
Explosion der Akzidenzien, Unvermeidlichkeit der
Akzidenzien – das ist es, was diese Textstelle vorführt, womit sie nicht
ganz auf der Linie der aristotelischen Ontologie zu liegen scheint. Aber
das kann man auch anders sehen.
Von diesem akzidenzialistischen Anfall geht Aristoteles
direkt dazu über, Grundsatz 2 und 3 seiner Ontologie-Gründung im Buch
IV neu zu formulieren.[1] Er wendet sich von
dem (soll ich sagen allzu steifen) „Seienden“ ab und packt eine real
praktizierte Verbalform, nämlich „ist“ am Schopf. Zunächst substantiviert
er sie, um sie dann gleich normal zu zitieren: „dass auch das „ist“ in so
vielen Bedeutungen ausgesagt wird; denn Unterschwelle ist etwas,
weil es so liegt, und jenes Sein bezeichnet ein „so und so liegen“
(1042b 27f.). In einer Umformulierung also dann der Infinitiv Präsens, der
das „ist“ zwanglos konzeptualisiert.
Unterschwelle-sein
ist ein ganz bestimmtes Sein, am liebsten würde ich es klein schreiben: ein
ganz bestimmtes „sein“. Obwohl die Unterschwelle als Teil der Tür, die ein
Teil des Hauses ist, von Aristoteles als Wesen bezeichnet würde, schreibt
Aristoteles ihr „sein“ akzidenzialistisch um zu „liegen“ (eines der neun
Akzidenzien).[2] Und
dieses akzidenzielle „sein“ („sein“ ist nämlich keineswegs von Haus aus
substanziell) verlangt noch nach weiteren ebenso akzidenziellen
Bestimmungen: so und so – also diese Türschwelle liegt vielleicht ziemlich
hoch und ein bisschen schief.
Was erreicht Arisoteles damit? Er macht endlich deutlich,
was der Grundsatz der multiplen Aussagung oder Bedeutung von „seiend“ immer
schon sagen wollte: dass „sein“ ein ganz dünner Begriff ist, aber nicht ein
dünner und fester Gattungsbegriff, auf den sich die Unterschiede
draufsetzen. Sondern ein flexibler und elastischer Begriff, der sich an
alle Unterschiede anschmiegt, ja der alle Unterschiede „mitmacht“ und dann
von Fall zu Fall sogar anschwillt – denn „ziemlich hoch und ein bisschen
schief liegen“ ist je eigentlich schon eine ziemlich reichhaltige
Seinsmodalität, Seinsmodulierung.
Walter Seitter
Seminarsitzung vom 21. November 2018
Nächste Sitzung am 28. November 2018
[1] Siehe Walter
Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI): 91.
[2] Zur modernen
Gliederung der Tür siehe Walter Seitter: Physik der Medien.
Materialien, Apparate, Präsentierungen
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