τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Freitag, 8. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen (1092a 29 - 1092b 27)

8. Dezember 2023

 

In diesem Jahr ist ein Buch, das Michel Foucault im Jahr 1966 geschrieben hat, zum ersten Mal publiziert worden und seine Existenz ist überhaupt zum ersten Mal bekannt geworden: Le discours philosophique (Paris 2023).

 

Er hat im Jahr 1966 das fertige Manuskript schlicht und einfach in eine Schublade gesteckt und niemandem etwas davon verraten. Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 dürfte nur er davon gewußt haben.

 

Erst mit der Bearbeitung des Nachlasses ist jetzt das Buch Der philosophische Diskurs ans Licht der Welt gekommen.

 

Inhaltlich gesehen ist es das erste der bisher bekannten Bücher Foucaults, das explizit die Philosophie - als Tätigkeitsform - artikuliert.

 

Nach dieser kleinen Sonderoperation ist er wieder zu seiner geläufigen Themenlinie zurückgekehrt: zu den Humanwissenschaften der europäischen Neuzeit mitsamt den zugrundeliegenden oder folgerichtigen Humantechniken der Moderne. Deren Problematik hat ihn Ende der Siebzigerjahre thematisch um zweitausend Jahre zurückgeworfen: in die klassische und späte und frühchristliche Antike, wo er ansatzweise Antworten auf seine ethischen Fragestellungen fand.

 

Eine gewisse und sehr weit entfernte Parallele zu unserer Metaphysik-Lektüre könnte man darin sehen, daß auch der aristotelischen Metaphysik eine lange Latenzperiode beschieden war, die vom Tod des Aristoteles bis zur zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor Christus gedauert hat - also drei Jahrhunderte. Wo und wie in dieser Zeit die aristotelischen Manuskripte oder dergleichen existiert haben, scheint unbekannt zu sein. Es scheint aber festzustehen, daß Andronikos von Rhodos, dessen Lebensdaten ungewiss sind, die Zusammenstellung und Edition der uns heute bekannten Schriften des Aristoteles besorgt hat.

 

Legenden wie diejenigen, daß da „die Araber“ schon tätig gewesen seien, sind auszuscheiden.

 

Zur Frage, was in der langen Zwischenzeit vom vierten bis zum ersten Jahrhundert ausschlaggebend dafür gewesen sein könnte, daß die Vorlesungen, die der ja bekannt gebliebene Aristoteles zu Lebzeiten gehalten hatte, so spät in Buchform gebracht worden sind, liefert Foucault ausgerechnet in besagtem „neuem“ Buch, einen Hinweis. 

 

Er spricht davon, daß es nach dem Aufbruch der griechischen Kultur seit dem 8. Jahrhundert eine „zweite Mutation“ in der Organisation des Wissens gegeben habe, die eng mit der Anfang des 3. Jahrhunderts errichteten Bibliothek von Alexandria zusammenhänge, wo „sich nicht die griechische Diskurs- und Archivmodalität“ behauptet habe, vielmehr sei mit der Konfrontation der griechischen, ägyptischen, hebräischen, bald auch römischen Kultur ein neuer Diskurs- und Archivtyp entstanden.“ (231). Das Neue liege darin, daß verschiedene Sprachen, Texte, Schriften, Manuskripte, Notierung- und Registrierungssysteme versammelt, verglichen, abgeschrieben und übersetzt worden seien; es wurden Massen von Diskursen wie globale Kulturtatsachen mobilisiert und reorganisiert; man könne das „Synkretismus“ nennen - es handelt sich um eine Organisationsform, die für das Abendland hinfort maßgeblich sein wird und - bekanntlich - auch ganz neue Techniken hervorrufen wird.

 

Sowohl die spätantike Aristoteles-Ausgabe wie auch die gesamte nachfolgende Lawine von Kommentaren, Übersetzungen und so weiter gehören dazu. Zum Beispiel der hauptsächlich kosmologische Synkretismus des Hermann von Kärnten, für den Aristoteles nur eine ferne Autorität gewesen ist, in Bezug auf die Grundbegriffe aber eine wichtige.

 

 

Unsere hiesige Aristoteles-Lektüre steht unvermeidlicherweise auch in dieser alexandrinischen Tradition. Da wir eine philosophische, das heißt auch sachbezogene Lektüre anstreben, wäre es sinnvoll gewesen, die Metaphysik-Lektüre durch eine partielle, darauf zugeschnittene Physik-Lektüre zu untermauern und zu ergänzen.

 

Mit der Vorschaltung der Poetik ist eine ganz anders ausgerichtete Wissenschaft und auch Artikulierungsweise dazugenommen worden.

 

Insgesamt eine andere Lesekonstellation, die ich damit ausgebaut habe, daß ich von 2021 bis 2023 zwei andere Parallellektüren vorgenommen und protokolliert habe.

 

 

Michel Serres: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce (Paris 1978)

 

Francis Ponge: Le soleil/Die Sonne (Berlin 2020)

 

 

Das erstgenannte Buch liefert eine philosophisch ambitionierte Physikgeschichte, welche eine in der Antike parallel zur aristotelischen Physik ausgearbeitete, nämlich die epikureisch-atomistische Physik in der Form des Poems De rerum natura, vorstellt. Die Konstellierung zweier unterschiedlicher Physiken wirft natürlich die Frage nach der Wahl, nach der Entscheidung zwischen wissenschaftlichen Paradigmen auf. Michel Serres überkreuzt diese Frage mit der andersgearteten Frage nach der Wahl zwischen ethischen, politischen Ausrichtungen innerhalb der Physik. Denn auch die theoretischen Wissenschaften sind Praktiken. 

 

Das zweitgenannte Buch stellt ein lang auseinander gezogenes Poem dar, dessen Hauptobjekt, die Sonne, sehr geeignet ist, uns einzuleuchten, aber auch Fragen zu stellen.

 

Dazu kam dann noch die Lektüre der mittelalterlichen Kosmologie De essentiis von Hermann von Kärnten.

 

Die Ordnung der Lektüren von 2007 bis 2024 kann also mit dieser winzigen, dennoch „alexandrinischen“ Autorenliste namhaft gemacht werden:

 

 

Aristoteles    Lukrez       Hermann    Ponge       Serres

 

Protokollschreiber:  

 

Seitter       Bruckschwaiger

 

 

*

 

 

In der Erörterung der Frage, welche Seinsweisen den Zahlen zugeschrieben werden könne und welche Entstehungen mit ihnen zu verbinden seien, setzt Aristoteles Begriffe wie „Prinzip“, „Element“, „Mischung“, „Zusammensetzung“, „Lage“ ein.

 

Und „aus etwas sein“. Dieser Begriff - er sieht nicht aus wie ein ordentlicher Begriff - ist schon im Buch V, dem sogenannten Begriffslexikon der Metaphysik, besprochen worden:

 

aus einem Material sein - zu allererst aus Schmelzbarem; von einem Vorgang angeregt worden sein; teilweise auch von Vater und Mutter abstammen; aus der Erde hervorgegangen sein; sagt man: die Nacht entsteht aus dem Tag, so bedeutet das nur: nach dem Tag.

 

Hier hingegen nur eine Distinktion: aus etwas sein, das in ihm enthalten ist - oder nicht.

 

Davon ausgehend die Frage, wie die Zahl aus etwas sein kann. Wie aus einem Samen, aus einem Unzerlegbaren, aus einem Element wie aus einem Gegenteil - einem erhalten bleibenden oder aus einem zugrundegehenden? Solche Fragen werden weitergespielt, ohne daß man zu einer Schlussfolgerung kommt.

 

Dann die umgekehrte Fragestellung: wie die Zahlen Ursachen der Wesen und des Seins sind - eher wie die Grenzen oder eher wie die von dem Pythagoreer Eurytos jedem Wesen zugeordneten Zahlen?

 

Und eingeschoben eine winzige Bemerkung in Frageform: „Wie aber sollen die Empfindungen Zahlen sein: das Weiße, das Süße und das Warme?“ (1092b 16)

 

Die drei Eigenschaften zeigen, was mit den Empfindungen gemeint ist: wahrnehmbare Eigenschaften von Körpern. Nur Akzidenzien. Akzidenzien von Wesen, die Körper sind, vergängliche, veränderbare und wahrnehmbare. Auch ihre Wahrnehmbarkeit ist vergänglich und veränderbar. Und die Wissenschaft von all dem ist die Physik. Die aristotelische und wohl nicht nur die aristotelische. Die Physik ist eine Naturwissenschaft, deren Reichweite auch ein bißchen über die Natur hinausgeht, weil die kulturellen Produktionen sich an die Natur anlehnen. Beispiele: ein weißes Blatt Papier, ein süßer Kaffee, eine warme Heizung. 

 

Dieser schlichte Fragesatz tut nichts Geringeres als den Duktus dieser beiden Bücher XIII und XIV, der ungeschickt, hin und her schwankend, langweilig und kaum lesbar ist, resümieren.

 

Diese beiden Bücher, über die man sich fragen kann, warum sie da nach der Theologie von Buch XII, angehängt sind - ich weiß auch nicht warum.

 

Aber als aktiver Aristoteles-Leser (den er einen denkenden) nennen würde, sage ich: hier liegt eine Apologie der Physik vor, eine Apologie, die die Wissenschaft von den Körpern, von den gewöhnlichen und den weniger gewöhnlichen, verteidigt. In diesem Fall gegen eine Art Metamathematik, die die Körper wegreden möchte und sie durch etwas angeblich Besseres, Reineres, Höheres erklären, ersetzen will.

 

So eine Apologie könnte auch unter das antike Motto sozein ta phainomena - die Erscheinungen retten! gestellt werden. Hier ist sie so ungeschickt formuliert, daß es einen aktiven Leser braucht, der sie ins Deutsche übersetzt.

 

Aristoteles weist jede enge Verbindung von bestimmten Zahlen mit Wesensbestimmungen zurück - sie verhalten sich zueinander wie Stoff und Form. In den Proportionen verlieren die Zahlen ihren bloßen Zahlencharakter - es gehe um Proportionen von Körpern oder dergleichen.

 

 

Aristoteles insistiert darauf, daß man die Physik nicht auf Mathematik reduzieren kann. Soweit die Hauptstoßrichtung seiner Zahlenerörterungen - mit der er auch in der von Michel Serres berührten Diskussion eine bestimmte Position einnimmt. 

 

Die Zahl kann keine der vier Ursachen sein: weder Wirkursache (hier genauer Urheber durch „gemacht haben“ - wie „derjenige, der es getan hat“ !) noch Stoff noch Begriff und Form der Dinge. Und auch nicht - oder erst recht nicht! - als Weswegen.

 

Mit dieser strikt negierten formalistisch-syntaktischen Ursachangabe leitet Aristoteles über zu einer Aporienvermutung - die ein „gut“ (ein adverbiales!) doch wieder ins Gestrüpp von Zahlenspekulationen wirft.

 

Man könnte allerdings unschlüssig sein, was das „gut“ eigentlich sei, das von den Zahlen dadurch herauskommen soll, daß die Mischung in einer Zahl stattfinde, entweder in einer gut proportionierten oder in einer ungeraden . . . 

 

 

Walter Seitter

Montag, 4. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 35 (79vF - 80rC) Seite 232, Z 20 bis Seite 234, Z 18 bei Burnett.

Mittwoch, den 22. November 2023

Hermann setzt als Schlusspunkt die Erschaffung der Fortpflanzung, die den Schöpfer vor einem unendlichen Schöpfungsprozess bewahren soll. Damit nicht jedes Individuum wegen seiner Vergänglichkeit jedes mal neu geschaffen werden muss, fügt der Schöpfer ein zweites Geschlecht hinzu, das sich in Materie und Form nicht von einander unterscheidet, sondern nur nach Aktivität und Passivität, damit das Ziel der Fortpflanzung und Selbsterhaltung als zweite Ursache der Zeugung erreicht werden kann. Damit ist mit der Unterscheidung der Handlungsmuster schon ausreichend Notwendigkeit für ein zweites Geschlecht gegeben. Um das Ergebnis der Fortpflanzung zu erreichen, werden die Geschlechter durch das Gefühl der Zuneigung und ein gemeinsames Ziel vom Schöpfer unterstützt. Aber warum tatsächlich ein zweites Geschlecht erforderlich ist, dazu sagt Hermann nur, dass aus einem Elternteil nichts gezeugt werden kann.
Hermann zieht es vor die wundervolle Ordnung der Natur zu beschreiben, die die Bewegung der sekundären Ursache, die zur Verpaarung dieser beiden Geschlechter führt, hervorbringt. Diese Ordnung der Natur beginnt bereits am Zeitpunkt der Paarung und ist stark mit den Wirkungen der Planeten verwoben. Die Planeten wirken beim Ungeborenen in der umgekehrten Reihe wie nach der Geburt.
Erst legt Saturn den Samen fest und Jupiter ernährt ihn mit guter Verdauung, Mars festigt ihn und die Sonne bringt die Form hinein, die Venus entfernt die unnötigen Überbleibsel am Embryo, Merkur hält die Austreibung des Embryo solange zurück, bis Lucina eintrifft, die die Geburt vollendet. Etwas erstaunlich, dass hier eine altrömische Göttin der Geburtshilfe auftaucht, die das Neugeborene aufnimmt und beschützt, solange der Einfluss des Mondes auf die Ernährung anhält. Die Materie des Mondes fließt solange durch das Kind, bis die Sinne erwachen und die Wege der Seele eröffnet werden. Dann tritt wieder Merkur auf mit der ersten Erziehung zur Vernunft (rationabilem institutionem) und bringt das Kind zur Adoleszenz der Venus. Wenn sich die ersten Stürme der leichtfertigen Wollust gelegt haben, vollendet Apollon die Jugend, bei Hermann wird er Phöbus genannt und tritt als griechischer Gott zwischen den Planeten auf. Phöbus führt den Jugendlichen bis er in das Stadium der Tugenden des Mars eintritt. Wenn der männliche Geist gestärkt ist, übernimmt Jupiter mit seiner Autorität. Das Alter steht wieder im Zeichen des Saturn, der den Kreislauf der Natur vollendet.
Nachdem die Materie zu dem zurückgekehrt ist, woher sie stammt, bleibt das darüber hinaus (ultra) übrig, das diesen Gesetzen des Kreislaufes nicht unterliegt, sondern sich auf einem pythagoräischen Scheideweg (Pitagorici bivii) entlang bewegt. Burnett übersetzt hier mit Pythagorean Y. Also das „Darüber hinaus“, wenn es verloren und abirrend ist, steigt ab zum endgültigen Nichts, es fällt nicht das Wort Seele oder Hölle. Oder es verbleibt im Kreislauf der Natur und steigt auf zur höchsten Krone des Triumphs (ad summam triumphi coronam), das ist die Festung des Ursprungs, der Sitz des Vaters. Dort erfreuen sich die Seligen eines ewigen Lebens in der Glorie des höchsten Königs und dessen Ehre, Macht und Herrlichkeit.

Mit dieser Lobpreisung beendet Hermann das Buch über die Essenzen im Jahre des Herrn 1243 in Beziers (Biternis).

Karl Bruckschwaiger

Nächster Termin: 6. Dezember 2023
Aristoteles lesen, Buch XIV

Samstag, 2. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen (1092a 18 - 1092b 29)

30. November 2023

 

Im letzten Protokoll habe ich die Vermutung geäußert, daß die zuletzt gelesenen Aussagen in 1091b 15ff. sich auf dasselbe „Prinzip“ beziehen wie die Aussagen in Buch XII (1072b 14ff.). Wenn das stimmt, würden diese Passagen zusammengenommen nicht nur eine recht klare Definition des „ersten Prinzips“ liefern sondern sogar eine reiche und dichte Beschreibung desselben - eine „Theographie“. 

 

Damit, daß Aristoteles dieses Prinzip auch mit dem religiösen Wort „Gott“ benennt, muß man sich abfinden, auch wenn man mit dem Wort Schwierigkeiten hat.

 

Dazu kommt die überraschende Tatsache, daß auf dem Handy das von mir eingefügte Foto (zur eigentlich unmöglichen Illustrierung des Prinzips) nicht erschienen ist sondern nur durch eine Leerstelle anstelle des Fotos nicht-markiert ist. Sophia Panteliadou vermutet dazu, die Computertechnik - KI ? - habe da als Zensurinstanz eingegriffen. Eine Vermutung, die dem Sujet des Fotos recht nahekommt, denn es zeigt ein Schattenbild einer fragmentarischen Körperkontur und es stammt aus der selben Motivreihe wie schon einige früher eingeschaltete Fotografien.

 

Der Ausfall des eigentlich ohnehin unmöglichen Bildes bestätigt die Eigenart dieses Bildes und rückt es in die Nähe des sogenannten „Realen“ im Sinne von Jacques Lacan, welches wiederum am vorletzten Montag im Vortrag von Claude Duprat (Paris) thematisiert worden ist, der es in einen Zusammenhang mit „einem Neuen Signifikanten“ gerückt hat, das heißt mit diversen konkreten Zeichen, denen allerdings kein Sinn entspricht. Zu diesen konkreten Zeichen werden auch die Kalligramme der chinesischen Poesie gezählt, die immer visuell sind. Insofern könnte da auch „mein“ Foto so ein Signifikant sein - ein unmöglicher aber wirklicher.

 

Jacques Lacan hat übrigens den gesamten Roman Ulysses von James Joyce einem solchen „neuen Signifikanten“ angenähert . Und seine Äußerungen zur aristotelischen Metaphysik, wohlgemerkt zu dem Buch Metaphysik, das ich jetzt seit dem Jänner 2011 hartnäckig lese, und die ich in meinem Aristoteles-Buch zitiere, sie stammen vom 15. Dezember 1971, gehen in eine ähnliche Richtung. Er empfiehlt die Lektüre der Metaphysik, betont aber, daß sie - die Lektüre - nicht leicht ist, weil sie - die Metaphysik - ziemlich verrückt ist.[1]

 

 

Ich aber empfehle die Lektüre meines Aristoteles-Buches, das aus den Mittwoch-Protokollen der Jahre 2011 bis 2018 zusammengesetzt ist und somit eine Aristotelographie neuer Machart darstellt.

 

Was nun meine konkrete Frage betrifft, ob die beiden genannten Passagen in Buch XII und in Buch XIV sich auf dasselbe Objekt, nämlich Prinzip beziehen, so setzt sie voraus, daß es einen Fragesteller bzw. Leser gibt, der beim Lesen im Buch XIV sein eigenes Lesen im Buch XII noch nicht vergessen hat sondern sich zurückerinnert - also die beiden Stellen zusammenliest, zusammenschaut, zusammenversteht. Dieses Zusammenlesen unterstütze ich durch die Anfertigung der Protokolle und bis zum Buch VI sind die Protokolle schon im Buch erschienen, im eben genannten.

Warum hat Aristoteles die beiden Stellen nicht selber aufeinander bezogen und gesagt - "wie ich neulich schon ausgeführt habe" oder so ähnlich? 

Vielleicht weil er den Text nicht wirklich zu Ende redigiert hat, weshalb wir ihn - vermutend, fragend - zu Ende lesen sollten, ich meine: müssen. Natürlich nur, wenn wir wollen und können. Wenn nicht, dann eben nicht.

 

Ein Buch zu Ende lesen - das nicht oder nicht sicher zu Ende geschrieben worden ist. Ist das möglich und wenn ja - wie?

 

Wir könnten die obige Frage auch negativ beantworten - weil die beiden Stellen eben unterschiedlichen Kontexten angehören oder dergleichen.

 

Einen Text zu Ende lesen, der nicht zu Ende geschrieben worden ist - im 4. Jahrhundert, nachdem er im selben 4. Jahrhundert wohl doch irgendwie zu Ende gesprochen worden sein dürfte. Einen Text, der im 1. Jahrhundert redigiert worden ist, aber offensichtlich so unvollendet.

 

Der Text hat irgendwie drei Jahrhunderte zu seiner „Entstehung“ gebraucht. Dazu sind dann noch ungefähr zweiundzwanzig Jahrhunderte mit Lesen,Kommentieren, Übersetzen, Bewundern, Vergessen, Verabscheuen und und und dazugekommen.

 

In seinem Text äußert sich Aristoteles nur selten zu den Umständen oder Modalitäten seiner Textproduktion, die zunächst wohl als mündlicher Vortrag vor Zuhörern stattgefunden hat. Im Buch II erklärt er dazu, der Vortragende sollte sich überlegen, ob er seinen Stoff so oder so darbieten soll. Er deutet an, daß der Vortrag besser oder schlechter ausfallen kann - womit er seine eigene Kritisierbarkeit in den Raum stellt. 

 

Nach der erwähnten Passage im Buch XIV geht er zur Diskussion seiner These und zur Kritik gegenteiliger Ansichten über - die hauptsächlich pythagoreischer und platonischer Herkunft zu sein scheinen und die, wie er behauptet, zu so absurden Folgerungen führen, daß das Schlechte mit dem Guten letzten Endes in eins fallen muß.

Der theoretische Faden seiner Polemik besteht - wie schon seit dem Beginn des Buch XIII! - in der Frage nach dem ontologischen Status der mathematischen Gegenstände - Zahlen und geometrische Größen. 

 

Zuletzt die Frage, wie die Zahl „aus“ den Prinzipien hervorgehe. Etwa durch Mischung?

 

Nein, nicht durch Mischung. Es gibt auch andere Weisen der Zusammensetzung. Das Wort „ja“ ist aus den beiden Buchstaben

 

 

          J               A

 

zusammengesetzt. Wäre es eine Mischung aus den beiden Buchstaben, dann wäre es egal, welcher Buchstabe am Anfang steht oder ob die beiden über- und untereinander stehen oder liegen oder schräg lehnen oder ineinander verkrallt sind. Das Wort „ja“, so klein es ist und anscheinend fast bedeutungslos, so muß es doch seine beiden Elemente als unterschiedene bewahren und richtig positionieren.

   

Auf die richtige thesis, Position der beiden kommt es an.

 

Das ist jetzt nur eine Analogie, aber eine gute, weil anschauliche, für das Zustandekommen der Zahl aus dem Einen und der Menge, die als unterschiedene Größen gedacht werden - von dem „Denkenden“.

 

Damit benennt Aristoteles nicht nur sich selber, sondern jedwede(n), der oder die wirklich denkt (nicht unbedingt wahrsprechend aber immerhin ernsthaft) - im Unterschied zu denjenigen, die leichtfertig oder hartnäckig unsinnige Behauptungen aufstellen oder absurde Schlussfolgerungen nahelegen, die sie dann nicht einmal auszusprechen wagen. Die erwähnt oder referiert oder beschimpft er öfter mit oder ohne deutliche Zuordnungen.

 

Mit „dem Denkenden“ meint er auch den Hörer (oder Leser), den er sich wünscht, nämlich denjenigen, der mitdenkt. Das heißt auch: Aristoteles „wertet“!  

 

Der Leser, den Aristoteles sich wünscht, ist nicht derjenige, der, wenn er im Buch XIV liest, schon wieder alles vergessen hat, was er im Buch XII - womöglich auch im Buch IV - gelesen hat.

 

Alles sorgfältig vergessen - das mag irgendeiner Weisheitslehre entsprechen. Ich weiß nicht genau, welcher.

 

Der Ausdruck „der Denkende“ ist mir hier aufgefallen, weil er ungefähr zum ersten Mal hier vorkommt. Aber eigentlich jederzeit vorausgesetzt, aufgerufen, eingeladen, angefragt ist. 

 

Zum denkenden Lesen gehört, daß man aufmerksamer wird, wenn im Text etwas auffällt.

Und weil mir das aufgefallen ist, rede ich davon. Wovon soll ich sonst reden - als Aristoteles-Leser?

 

Als Leser sollte man zum Gelesenen auch etwas sagen können, vielleicht schreiben können. Und zwar in der eigenen Muttersprache - und nicht etwa bloß die griechischen Wörter griechisch nachsprechen.

Der „Denkende", der noon (mit weichem Akzent auf dem zweiten, dem langen o), ist mit einigen Wörtern, die wir hoffentlich noch nicht vergessen haben, etymologisch und semantisch ganz eng verwandt: mit dem nous, das ist der spezifisch menschliche Seelenteil, und mit der noesis noeseos, das ist ein Attribut des „Prinzips“, desselben (Buch XII).

 

Denkend wird der Mensch genannt, der den noetischen Seelenteil nicht vergißt und vernachlässigt, sondern aktiviert.

 

Weil wir uns dem Ende des Buches Metaphysik nähern, müssen wir auf den letzten Leseseiten die Aufmerksamkeit erhöhen, die Erinnerungen wachrufen, das Wissen aktivieren – jetzt fällt die Entscheidung, ob die dreizehn oder wieviele Lesejahre nur ein komischer Zeitvertreib gewesen sind oder eine langwierige philosophische Tätigkeit, eine Leistung.

 

Wer jetzt diese Anspannung verweigert, der bekommt von Aristoteles den Titel νοων nicht zugesprochen. Ein schöner kleiner Titel, wenn man ihn mit griechischen Buchstaben schreibt- womöglich auch mit Zirkumflex auf dem Omega. 

 

 

Walter Seitter



[1] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 43.

Sonntag, 19. November 2023

In der Metaphysik lesen (1091b 20 - 1092a 17)

16. November 2023


In der letzten Stunde bzw. im letzten Protokoll ging es um die Stelle, in der Aristoteles auf das "Prinzip“ einige superlativische Exzellenz-Attribute kumuliert. Was den Eindruck erweckt, es würden damit die Ausführungen des Buches XII 1072a 255ff.) fortgesetzt, wo ebenfalls vom „Prinzip“ ausgegangen worden ist und diesem eine längere Reihe von Superprädikaten zugeschrieben worden ist, so auch das Prädikat „Gott“. Die Bewegkraft des Prinzips wurde dort auch mit dem schönen Schein sowie mit einem Geliebtwerden assoziiert.

 

Deshalb habe ich ins Protokoll auch ein Foto aus dem momentanen Jahrhundert aufgenommen, welches das Schattenbild einer fragmentarischen Körperkontur zeigt: Schatten auf Sand. 

 

Einen aristotelischen Aussagenzusammenhang (aus dem 4. bis 1. Jahrhundert) mit einer Fotografie aus einem (post)christlichen Jahrhundert, dem 21., zu illustrieren, das mag unsinnig erscheinen. Ist es aber nicht, weil, wie Oliver Primavesi gestern in seinem Vortrag über die Wahrnehmungstheorie des Empedokles ausgeführt hat, bestimmte Aussagen über bestimmte Sachverhalte „auch jetzt noch“ Gültigkeit haben können.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      

 

(Unter der Voraussetzung, daß der Gegenstand der Fotographie mit dem Gegenstand der aristotelischen Aussagen irgendetwas zu tun hat - was allerdings auf den ersten „Blick“ unmöglich erscheint: denn das in Frage stehende „Prinzip“ kann nicht mit irgendeinem Fotoobjekt identisch sein. Fotographische Aufnahmen von jenem Prinzip würden nur in einem extrem pataphysischen oder surrealistischen Milieu für möglich gehalten werden.)  

 

Wäre das Unmögliche nicht nur möglich sondern sogar wirklich, dann wären wir tatsächlich an dem Ort in jenem Milieu, an dem surrealistisch bis paranoisch theoretisiert worden ist - und dieser Ort heißt Jaques Lacan, der dann in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine medientheoretische Anthropologie und Ontologie entworfen hat, deren drei Grundbegriffe imaginär, symbolisch und real allesamt auf sehr bekannten Wörtern aufruhen, aber bei Lacan bekommen sie einen Dreh, genauer gesagt, einige Drehe ins Andere, ins Absurde, ins Unmögliche. So speziell das „Reale“, das seine Grundbedeutung mit Allerweltswörtern wie „to on“, „ens“, „wirklich“, „being“ teilt - aber es verläßt, es verliert, es entfernt sich davon - auch wenn es beim schlichten Ausgangswort bleibt.

 

Am Montag, dem 20. November 2023, spricht Claude Duprat über einen notwendig mitzudenkenden Begriff, nämlich über einen Signifikanten, der das Reale, das Unmögliche, signifizieren kann, obwohl keiner es signifizieren kann (was zu seiner Definition gehört). Und diesen unmöglichen Signifikanten als solchen hat Jacques Lacan im Laufe seines Lebens gelegentlich, vermehrt in seinen letzten Jahren - nicht etwa verkündet, offenbart, er hat ihn nur als „einen neuen Signifikanten“ angerufen, herbeigewünscht, beschworen, mit Beispielen illustriert, mit Beispielen aus der Witzlehre von Sigmund Freud, aus der Zahlenlehre von Georg Cantor.

 

In der Umbenennung des definitionsgemäß unmöglichen Signifikanten zu einem „neuen Signifikanten“ deutet Lacan - wenngleich nur gestisch (nur gestisch?) - eine neuerliche Drehung, eine Gegendrehung, eine Weiterdrehung - aber die Weiterdrehung geht in die Gegenrichtung! - an. Die er auch mit der ursprünglichen Lust des kindlichen, des mythischen, des archaischen, des erstanfänglichen Subjekts assoziiert. 

 

Die kleine amerikanische Fotografie von einem Badestrand des 21. Jahrhunderts wird von mir als ein Versuch zu einem mehr bildhaften als symbolischen, tatsächlich bildhaft-symbolischen „neuen Signifikanten“ vorgeschlagen. Er enthält aber auch wie die Beispiele Lacans eine ontologische Stoßkraft „in eine Art Jenseits“. In welche Art Jenseits - werden wir vielleicht sehen.

 

Die Frage ist, ob die Exzellenz-Attribute des Buches XIV und die mehr oder weniger ähnlichen des Buches XII einem und demselben „Objekt“ zugeschrieben werden.

 

Wenn ja, dann würde diese beiden Abschnitte den Kernbestand der aristotelischen Theologie ausmachen - soweit wir jetzt sehen können. Denn wir müssen noch ungefähr sechs Seiten lesen, um zum Ende der unvollendeten Metaphysik zu gelangen, das wird in diesem Jahr nicht mehr der Fall sein. 

 

 

Hier im Buch XIII wird dem Prinzip hauptsächlich die Eigenschaft „gut“ (die man eigentlich den praktischen Wissenschaften überlassen möchte) zugeschrieben, das Prädikat „ein“ nur unter Vorbehalten. Ja Aristoteles betont, daß man alles, was mit Zahlen zusammenhängt, von dem Prinzip fernhalten muß, ebenso die „Idee“.

 

Aristoteles nähert sich der Bestimmung des Prinzips mit einer relativ banalen Feststellung zum Bereich der Biologie, früher hätte man „Naturgeschichte“ gesagt (in meinen Gymnasialjahren, den Sechzigern des 20. Jahrhunderts, hieß das Fach tatsächlich „Naturgeschichte“), denn damals hat man noch nicht gemeint, daß die Natur und die Geschichte nichts miteinander zu tun haben. 

 

Die Feststellung lautet: „Die Prinzipien, aus denen Lebewesen und Pflanzen hervorgehen, sind vollendet.“ Das heißt: die Lebewesen und Pflanzen gehen aus Lebewesen und Pflanzen hervor.

 

Sie brauchen zwar auch Erde, Wasser, Licht zu diesem Hervorgehen - aber hervorgehen tun sie aus ihresgleichen.

 

Daher der zweite Satz: „Den Menschen erzeugt der Mensch; nicht der Same ist das erste.“ 

 

Mag sein, daß Samenzellen (und Eizellen) die direkten Ausgangskörperchen für die Entstehung eines Menschen sind - aber diese Zellen gibt es nur in und von richtigen Menschen, die über mehr energeia verfügen als jene. 

 

Für die Bestimmung des „Prinzips“ ergibt sich daraus, daß sein Realitätscharakter und -rang, also seine Vollkommenheit , nicht unter derjenigen der von ihm Prinzipiierten liegen kann. 

 

Vollkommenheit bemißt sich nach der Proportion zwischen Tätigkeit und Möglichkeit in einem Wesen - je höher der Anteil der Tätigkeit, umso vollkommener ist es. 

 

Es bahnt sich die Vermutung an, daß mit diesem Prinzip der ontologische Begriff der „Tätigkeit“ (energeia) eine Bedeutungssteigerung erfährt. Über den Begriff „Wesen“ hinaus, der aber nicht hinfällig wird. 

 

Walter Seitter

Dienstag, 14. November 2023

In der Metaphysik lesen*Hermann – Lektüre 33 ( 79rE - 79vF) Seite 228, Z 16 bis Seite 232, Z 19 bei Burnett.

Mittwoch, den 8. November 2023

 

Wir sind zu letzten Seiten des Textes von Hermann gelangt, die von Burnett mit diesem Titel versehen worden sind: 

 

Gottes Schöpfung des Menschen

 

Der klügste Autor, also der Schöpfer, scheint sich ein Probestück als Abschluss der Schöpfung zu überlegen, das die Frucht seiner Arbeit darstellen soll. Ein solch planender Gott bei Hermann, scheint wenig Ähnlichkeit mit dem biblischen Gott zu haben, der sich nicht überlegt, was in der Schöpfung noch fehlt. Aber auch dieser Gott der Tat hält jeden Tag inne und sieht, dass das an diesem Tag Geschaffene gut ist. Bei Hermann sieht Gott die Mangelhaftigkeit seiner Schöpfung ein, denn in der bisherigen Welt führt die Natur des Kreislaufes den Teil zum Ganzen zurück, wie die Flüsse ins Meer fließen und der Regen auf den Grund fällt von dem er aufgestiegen ist. Damit etwas geschaffen wird, dass nicht untergeht, muss das vorhandene Hauptmodell um das Abbild Gottes ergänzt werden.

Es wird hier das Wort fenus verwendet, das der Kreislauf der Natur (nature circuitus) einfordert, also ein Wort mit stark ökonomischer und finanzieller Bedeutung wie Ertrag, Zinsen, Leihgewinn, Kapital, sodass der Kreislauf der Natur wie der Kreislauf des Kapitals erscheint, der Gott dazu zwingt, den Menschen zu erschaffen.

So wird jetzt eine vierfache Mischung aus den Substanzen hergestellt und in ein lebendiges Verhältnis gebracht, wobei die Erde sowohl für die innere Festigkeit sorgt, als auch als irdische Oberfläche dient. In der Genesis formt Gott den Menschen allein aus feuchter Erde in der handwerklichen zweiten Version der Schöpfung. Hermann vermeidet das Wort Mensch auf diesen letzten Seiten vollständig, außer den Adjektiv humana kommt nichts Menschliches vor, selbst Körper oder Modell (specimen, exemplo) kommen nur jeweils ein bis zweimal vor.

Der Körper wird jetzt in der bisher ausgeführten kosmologischen und astrologischen Weise aufgebaut. Am höchsten Punkt bildet er den Sitz der himmlischen Natur mit einer fühlenden Substanz, von dort spannt er flexible Netze auf den gesamten Körper aus, um die Rechte der himmlischen Natur zu übertragen. Der oberste Teil, es wird das Wort Kopf nicht verwendet, wird mit sieben Organen (instrumentis) geschmückt, wobei ich mit Organen schon zu organisch übersetzt habe, denn im nächsten Satz verwendet Hermann tatsächlich das Wort Maschine (machine) für das Zusammenstimmen der Teile. Die sieben Instrumente sind die Augen, Ohren, Nase, Mund und Zunge, die der Sonne, dem Mond und den Planeten zugeordnet werden. Der Rest des Körpers wird auf die anderen Teilen des Tierkreises zugeordnet. Der unterste Teil wird zweigeteilt und am Boden befestigt.

Dann kehrt Hermann zur biblischen Erzählung zurück und läßt den Schöpfer einen Teil seiner göttlichen Natur einhauchen, wodurch auch die freie Entscheidung über alle Wünsche gegeben ist und das Urteil über Richtig und Falsch. Damit kann er über seine Bewahrung und seinen Untergang bestimmen.

Danach hob er ihn in die Höhe und befahl ihm aufrecht zu stehen, als Erinnerung an seine Herkunft. Das Zusammenwirken von Seele und Körper wird als kleines Modell der Chöre der Musen verstanden, die von den leitenden Bewegungen der himmlischen Harmonie geführt und gemäßigt werden. Denn das Himmlische und Unkörperlichen kann in diesem Irdischen und Körperlichen nur festgehalten werden durch einen harmonischen Knoten in einem Gefäß von himmlischer Form. Wenn dieser Knoten zu sehr verwirrt wird, wird die Seele ausgeschlossen und das Leben erlischt. Hermann spricht an diesem Punkt von einer rationalen und einer vitalen Seele, die untrennbar miteinander verbunden sind und in keinem getrennten Zustand existieren können. Der Arbeiter oder Werkmacher (opifex) erhöht die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Materie durch die Einrichtung der rationalen Seele und begrenzt die Gegensätze und Bewegungen einer widerstrebenden Natur.

Damit es nicht zum Aufruhr des einen Teils gegen andere komme, und damit der Gehorsam des einen und der Sieg des anderen gewährleistet sei, sorgt Gott, hier sogar so genannt, für zwei Stützen (adminicula) die als Magen die Bedürfnisse des Körpers stillen und mit den rationalen Bewegungen der Zunge die Seele mit gesunder Nahrung versorgen. Hier kommen durchaus politische Begriffe ins Spiel, da es doch um Revolution und Wiederherstellung der Hierarchie durch Brot und Reden geht.

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächste Sitzung: 15. November 2023

Aristoteles lesen, Buch XIV

Dienstag, 31. Oktober 2023

In der Metaphysik lesen*Hermann – Lektüre 33 (78vA - 79rE) Seite 222, Z 20 bis Seite 228, Z 16 bei Burnett.

Mittwoch, den 18. Oktober 2023

 

Nachdem Hermann einen Kreis durch Toledo gezogen hatte, der parallel zum Äquinoktialkreis ist, also ein Breitengrad sein muss, versucht er den Abstand von einem zentral angenommenen Meridian zu bestimmen, und zwar mit 62 Grad. Wo der Kreis durch Toledo einen Kreis schneidet, der den umfließenden Ozean, Amphitrite, nachzeichnet, dort wird die Stadt Lissabon eingezeichnet, weil dort der Fluss Tejo in den westlichen Ozean mündet, der in der Nähe von Toledo entspringt. Hermann verlängert die Strecke bis zur Grenze der Hemisphäre und stellt eine Strecke von 44 Tagesreisen von Toledo aus fest. Dieser Punkt soll genau in der halben Breite von Amphitrite liegen, und Hermann fragt sich nach der Begründung, was daran gehindert hat, diesen Raum zu überschreiten.

Dieser Raum war schon überschritten worden, denn Hermann vermutet dort das Paradies und stützt sich dabei auf Berichte von Historikern, die von den Inseln der Glückseligen sprechen, das ist die lateinische Übersetzung „insulae fortunatae“ von griechisch μακάρων νῆσοι makárōn nḗsoi, wörtlich Inseln der Seligen, die von Herodot bis Plinius dem Älteren erwähnt werden. Gemeint waren die Kanarischen Inseln. Das Paradies hat aber auch ein Gegenstück im Osten, weil von dort Geschichten von Männern überliefert wurden, die zuerst in dieser Region erschaffen wurden. Im biblischen Paradies des Ostens haben eine Reihe von Dingen begonnen, die allmählich von dort in die Welt vordringen, und weil es dort Arten von Tieren gibt, die uns noch nicht erreicht haben. Plötzlich sind wir von der Geographie zur Zoologie gewechselt, obwohl zuerst teilweise mythische Lebewesen abgehandelt werden, wie Riesen, Greife oder Einhörner, die aber nicht im Mittelmeerraum gelebt haben, außer die Zentauren in Griechenland und die Zyklopen in Sizilien.

Einige der Tiere, die uns in Europa noch nicht erreicht haben, wie Tiger, Panther, Löwen oder Strauße, sind schon bis zu den äußersten Grenzen Libyens vorgedrungen, oder wurden von den Menschen nach Spanien gebracht wie Wildesel oder Kamele. Die Ausbreitungsgeschichte der Tiere wird noch durch die Überschwemmungen der Sintflut akzentuiert, dass eben dadurch Inseln entstanden seien und nach dem Zurückweichen des Wassers sich wieder Landbrücken gebildet hätten. Das sich wilde Raubtiere auf Inseln befinden, spricht dafür, das sie dorthin gebracht wurden, wie Hermann auch die Wildtiere handelnden Berber, die in der Antike Garamanten genannt wurden, erwähnt mit Ihren Schlangen und Elfenbein.

Damit kehrt Hermann wieder zu den Berichten der Geographen an die Grenzen Indiens zurück, die von den höchsten Bergen versperrt werden, aus denen der Fluss Ganges hervorbricht. Da der Fluss das Indische Blatt, für den englischen Übersetzer sind Smaragde und Rubine gemeint, mit sich bringt, die die Einwohner sammeln und die so auch zu uns kommen, schließt Hermann, dass der Fluss aus der Nachbarschaft des Paradieses kommen wird. Als gleichwertiges Beispiel erwähnt Hermann noch die Quellen des Tigris und Euphrat, die in den Bergen Armenien entspringen, wobei er von den Akroceraunischen Bergen spricht, die eigentlich in Epirus liegen würden, die Quellen der beiden berühmten Flüsse liegen tatsächlich im damaligen Armenien, heute Türkei.

Die Quellen des Nil sind weiter unbekannt, dafür wird als Gewährsmann Solinus erwähnt, obwohl als Hinweis der Abfluss des Juba angeführt wird, der unterhalb von Mauretanien in den Ozean fließt. Dass der Juba als Fluss im somalischen Hochland Äthiopiens entspringt und in Somalia in den Indischen Ozean fließt, ist erstaunlich nahe beim Ursprung des Blauen Nils, der auch in Äthiopien entspringt. Die Stadt Juba liegt am weißen Nil und ist die Hauptstadt des Südsudans. Hermann schließt das Kapitel der bewohnbaren Welt mit dem Hinweis, dass die Mineralien, Pflanzen und Tierarten dieser Gegend weder artificiosum noch compendiosum seien. Der englische Übersetzer entscheidet sich für praktisch und profitabel, man könnte weniger wie ein Kaufmann auch kunstfertig und vorteilhaft übersetzen, aber wahrscheinlich ist eher die englische Version richtig, denn Hermann war doch Jahre mit dem Engländer Robert Ketton in einer Arbeitsgemeinschaft und Freundschaft verbunden.

 

Die Ätherische Gattung der Tiere

 

Eigentlich keine Tiere im engeren Sinne, sind die drei Arten von ätherischen Lebewesen, die neun Ordnungen der Engel, die gefallenen Engel und die Seelen der Toten. Sie alle haben irgendeinen Umgang mit den Menschen, sei es als Strahlen wie die Engel oder als Ausdünstungen der Erde wie Vulkane, heiße Quellen oder Rauch aus Höhlen wie die Geister der Unterwelt. Dabei erwähnt Hermann den Theologim aus Äthiopien, gemeint ist laut Burnett Theon Ochema - „Götterwagen“, der Vulkan Fako in Kamerun, der aus antiken Quellen schon bekannt war.

Für die menschlichen Geister ist es notwendig zu einer der beiden anderen zurückzukehren im Himmel oder auf die Erde. Diese Gattungen sind an sich gleich, keiner Zusammensetzung und keiner Auflösung ausgesetzt, nur dass die menschlichen Geister nur von damals bis heute existieren.

 

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächste Sitzung: 8. November 2023 – Hermann lesen

Montag, 30. Oktober 2023

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres-Lukrez XXI

 29. Oktober 2023

 

Ist kein Wein da, so genügt das Wasser – das schon da ist.

 

Was schon da ist, ist das Nächste, das zufällig da ist. Wenig und nicht mehr als wenig. Nec plus quam minimum – das ist die Definition des clinamenTantum paulum – das Geringstmögliche, das ausreicht, um eine Bewegung zu modifizieren. Das ausreicht, um mein Wünschen zu befriedigen.

 

Das Wenige unserer Wünsche, das Wenige der Dinge, die unsere Wünsche befriedigen können – das ist im wahrnehmbaren Endlichen die inclinatio unseres Willens, unserer Freiheit, unserer Wollust. An ihrer Wurzel ist die Bewegung der Seele ein Differenzial, eine Fluktuation, derselbe Abstand zum Gleichgewicht, wie derjenige, der den Fall der Atome verändert. Das Leben gemäß der Natur bleibt in der Nachbarschaft der Geburt der Dinge, ihrer modifizierten Bewegung: der Weise bewohnt den minimalen Abstand, den Raum zwischen dem Wenigen und dem Keinen, den Winkel zwischen dem Gleichgewicht und der Abweichung. Das ist der Ort des Notwendigen und des Naturgemäßen. Darüber hinaus gibt es nur leeres Wachstum und Überflüssigkeiten: große Übel und große Medizinen. Folglich reduziert sich alles auf eine Grenzwertberechung, eine Grenzwertabschätzung – und das ist wiederum archimedisch. 

 

Und das heißt: die Geschichte und die Politik vermeiden, diesen ständigen zunehmenden Wirbel. Sich mit dem Begrenzten begnügen. Sein Nest beim Anfänglichen bauen, im kleinen Garten, wo die Feigen wachsen. Beim Wenigen und beim Keinen, beim Gleichgewicht und bei der horizontalen Isonomie. 

 

Der Weise ist ganz was anderes als der Tod – denn der ist ein Schnitt – und aus. Ein Ort ohne Teile und ohne Nachbarschaft und ohne Neigung. 

 

Der Weise gemäß der Natur wird vom Tod nicht betroffen. Er folgt denselben Regeln wie die Natur. Er kennt die Physik und folglich verhält er sich moralisch. 

 

Der Weise meditiert in der Nachbarschaft über die Nachbarschaften, über die lokalen Mathematiken. 

 

Die Physik der Fluktuationen präsentiert lokale Lösungen: Grenzen, Singularitäten, Abflüsse, Abstände, minima, maxima.

 

Eine Physik der Pluralität der Welten und ihrer Zeitlichkeit. Die Vernunft, die da am Werk ist, die globalen Mathematiken: Potenzialitäten, Wirrnis, Grausamkeit. Diese Vernunft ist schwierig und nichtig. Sie bedeckt die Erde mit Toten und verbreitet sich wie die Pest.

 

Die Ethik des Gartens, die sich darüber wundert, ist eine Ethik des Lokalen. Der Garten ist nur ein kleiner Ort,da geht es um das Nächste, um das Wenige. Daher empfiehlt es sich, seine Grenzen nicht zu überschreiten.

 

Die Lust liegt in der Intensität, nicht in der Dauer, in der Verlängerung der Zeit. Man ziehe sich zurück, bleibe unbemerkt. Wozu auf Reisen gehen, die Meere durcheilen, die Welt bereisen? Wie die Kyrenaiker, die Schüler des Aristippos (435-355), sagen, es komme auf das an, was in der Nähe ist: die Seele und um ihn herum der Körper, der Garten, die Nächsten. Das Individuum ist Körper mitsamt den Bewegungen der Seele: Freiheit, Wille, Wollust.

 

Die Lust ist das Regulativ seiner Existenz – nur muß sie ständig vor dem Grenzenlosen bewahrt werden. Der Tod vernichtet weil er die Grenzen aufhebt.  

 

Dieser Lehre steht der stoische Weise gegenüber, der ein Weltbürger ist. Er lebt und denkt in Ausweitungen. Seine Physik ist global, seine Mathematik gleichfalls. Sein Ort ist nicht der Garten, sondern der Hafen, die Öffnung zur Welt. 

 

Seine Mathematik ist global, weil seriell. Die Serien und die Serien der Serien machen die Totalität aus, sie bilden die Gewebe des Systems, des Universums, der Notwendigkeit. An manchem Ort schneiden sich die Serien zu Sternen, ein solcher Ort konspiriert dann mit jedem Ort. 

 

Dieses Theorem ist unabänderlich, es gilt für den systematischen Diskurs, für die Physik der Welt, für das moralische Verhalten. Es gibt immer mindestens einen seriellen Weg für irgendeine Verlängerung. 

 

Das Universum ist offen, ein Tropfen Wein löst sich im Meer auf, verbreitet sich überall und löst sich überall hin auf, erzeugt eine stetige, abnehmende und endlose Serie. Sie ist ein totaler Teil des Meeres. 

 

Mathematik, Physik und Moral der analytischen Ausweitung. Vom Lokalen ist der Übergang zum Globalen jederzeit möglich.

Der stoische Weise ist in seiner Familie, in der Gesellschaft, in seinem Vaterland und in der Politik immer für alles zuständig, er ist der integrale Weise.

Der epikureische Weise hingegen hat sich vom Lärm des Forums zurückgezogen, lebt in seinem Garten, von seinen Freunden umgeben, - der differenziale Weise. Kein System, kein Universum, keine Totalität, keine Konspiration, keine Spannung und keine Verschmelzung. Sein einziges Grenzenloses ist das Leere, und die Keime des Realen sind atomisch verteilt.

Wie steht es mit den Verlängerungen?   

 

Läßt man sie nicht zu, schneidet man sie ab, so wird der religiöse Diskurs beschnitten. Denn die Religion verbindet das Unzusammenhängende - erste Definition des Mythos. Der epikureische Weise trennt das Zusammenhängende auf, er löst das Religiöse auf, von dem er sich nicht ganz löst. Er zerlegt die Knoten und kappt die Anschlüsse. Der Atomismus ist im Raum und in der Welt irreligiös: die Prinzipien sind durch Leerraum getrennt. 

 

Sofern jedoch die Religion das Verknüpfte aufknüpft, kehrt die Physik zur Religion zurück. Dann ist „Atom“ dasselbe Wort wie templum - der Tempel eine Herausschneidung einer lokalen Besonderheit aus dem globalen Raum. 

 

Daher das Paradox einer Anrufung der Venus – gefolgt von einer strikten Verdammung der Ermordung Iphigenies. So bleibt eine Frömmigkeit übrig: die Götter in ihrer olympischen Singularität, in ihrem privaten Ausweitungsraum, in ihrem großartigen Garten zufrieden lassen.

 

Wir sind von den Göttern gelöst. Der Raum ist nicht so homogen, daß zwischen ihrem Aufenthalt und dem unsrigen ein Zusammenhang möglich ist.

 

Gelöst, getrennt werden wir selber Götter sein in unserer Begrenztheit. Ohne einen grenzenlosen Raum, der sich totalisierenden Ursachen, globalisierenden Blicken oder Kräften verdanken würde. Der reale Raum ist eine Anordnung von Gärten: Atomismus.

 

Entweder ist die Welt ein Universum oder sie ist es nicht. Entweder ist das Wissen System – die Stoiker haben das Wort für ihre Philosophie eingeführt – oder es ist nur Pluralität. Zwei Mathematiken regulieren diese beiden Zustände: eine globale und ausweitbare und eine andere aus singulären Varietäten.

 

Ist der Übergang vom Lokalen zum Globalen immer möglich?   

 

Mit der sogenannten modernen Wissenschaft, wie sie am Anfang der Neuzeit erscheint oder wieder erscheint, ist diese Frage – angeblich – entschieden und positiv entschieden. Mit dem seriellen System, mit dem leibnizischen Netz, mit der actio in distans, mit der Integralrechnung scheint die oben formulierte Frage affirmativ beantwortet zu sein – obgleich sie niemals gestellt worden ist. 

Da kommt merkwürdigerweise Lukrez dazwischen. Hier und jetzt - das sind singuläre Lokaltäten. Vielleicht sind jene Übergangsmöglichkeiten nur Vernuftphantasmen? Die abendländische Vernunft behauptet sie seit vier Jahrhunderten. Gott muß sie ihr eingegeben haben.

 

Wenn etwa der Übergang doch nicht möglich wäre? Oder jeweils nur unter diesen oder jenen Bedingungen, die jedesmal singulär wären? Dann müßte die Enzyklopädie, die als globale Wissensform von Leibniz, dem Erfinder der Integralrechung, konzipiert, von d‘Alembert realisiert und von Hegel gedacht worden ist, da und dort in Frage gestellt und vielleicht in ihre Stücke zerlegt werden und das alte Reich der Philosophie würde erschüttert.

 

Wo der Hafen der Herr war, da kommt der Garten wieder zurück. Hier und jetzt sind nicht unbedingt die Bedingungen für eine komplette dialektisch vermittelte Expansion des Geistes gegeben. Und die Historie ist nicht mehr eine einheitliche Totalitätserzählung. Sie endet eines Tages – mit der Pest in Athen. Und anderswo – Orte und Zeiten unbestimmt – tritt sie wieder auf.

Eine andere Vernunft ist im Kommen und Lukrez hat sie gezeichnet. 

Die Weisheit des Gartens hatte schon geahnt, daß jede Expansion mit Gewalt zu tun hat. 

 

Agamemnon will, nachdem er die Fürsten gesammelt hatte, das Meer überschreiten und tötet da und dort und so weiter. Epikur möchte Ulysses nach Ithaka zurückholen und vertritt die Position von Montesquieu gegen die zentralisierte Monarchie. Selber Kurzschluß-Blitz über dem hegelschen System – dieser Reise-Blase aus Negativen, Reise-Wirbel aus Wachstum und Verfall.

 

Demgegenüber ist der Garten eine defensive Veranstaltung, der sich auch mit der Wissenschaft befestigt gegen das Steigen der Wasser und gegen die Pandemie. Und man erzählt sich – unter Freunden – einige Lustgeschichten, in denen Venus die beste Rolle spielt. Venus, die über der Brandung, über der Gischt, auf dem Spritzen geboren wird. 

Der Garten ist eine Insel, ein Gipfel, eine Bleibe. Wenn ein jeder König in seiner Stadt geblieben wäre, im Schutz seiner Mauern, hätte der Trojanische Krieg nicht stattgefunden.  

 

Wenn die Gewalttätigkeit eine Expansion ist, heißt das auch, daß jede Expansion gewalttätig ist? Lukrez antwortet nicht direkt auf diese Frage, aber sein Text scheint eine affirmative Antwort zu enthalten. Die epikureische Sezession, der Rückzug und die Abgeschiedenheit sind Praktiken des Friedens und der Heiterkeit, die sich von der Gewalt und vom Tod so weit wie möglich entfernen. 

 

Das läuft darauf hinaus, daß außerhalb des Gartens die Schlacht und die Pest wüten und das Forum mit Leichen bedecken. 

 

Nun scheint es, und das ist der Punkt, daß in unserer Kultur eine bestimmte Art von Vernunft die besagten Expansionen postuliert und praktiziert. 

 

Das Wissen ist eine Odyssee mit allem Drum und Dran, vorher und nachher.

 

Nach dem Zyklus der Ereignisse posiert das absolute Wissen. Es scheint also einiges dafür zu sprechen, daß diese Art von Vernunft auf Gewalt und Tod aus ist.

Kann man das Risiko der Vernunft, dieser Vernunft und dieses Wissens eingehen – das ist die Frage. 

 

Muß man, darf man das Risiko der Wissenschaft eingehen? 

 

Im Garten sagt man: nein! Die Epikureer kritisieren die Wissenschaft – wie wir es heute tun würden. 

 

Nicht die gesamte Wissenschaft, nicht die Wissenschaft als solche, aber diese Wissenschaft da, diese Vernunft da, die auf die Wege der Totalisierung, der Gewalt, der Herrschaft und des Imperiums führt.

 

Die Epikureer suchen nach einer anderen Wissenschaft und einer anderen Vernunft, die auf die Lust und das Glück zielen.

 

Wir, die Leute des totalitären, universalistischen und universitären Jahrhunderts, haben teuer dafür bezahlt, daß die Epikureer nicht unrecht hatten mit ihrem Mißtrauen. 

 

Auch die Enzyklopädien sind Imperialismen. Der Despot ist derjenige, der das Lokale dem Globalen opfert. So schreibt er die Geschichte – mit lauter rationalen Erweiterungen.

 

Es gibt nur lokale Lösungen der Vernunft und der Wissenschaft.

Die Weisheit des Gartens, die Weisheit meines Vaters Montaigne, die Weisheit der Erde – ist auch die unsere. Sie ignoriert nicht die Wissenschaft.

 

Man muß dreißig und mehr Physik-Bücher gelesen haben, um eines Tages dahin zu kommen. 

 

Und wir werden kein Vertrauen mehr in die Vernunft fassen, solange wir nicht irgendeine neue Vernunft erdacht haben werden.

 

Oktober 1970 – Juni 1977 (226ff.)

 

                                 

Zuletzt hat Michel Serres in eigener Sache gesprochen und angedeutet, wann und wie er seine opulente Lukrez-Paraphrasierung zusammengebracht hat.

 

Eine Physik-Geschichte eigener Art. Sie setzt in der Antike ein – ein bißchen, nachdem die lateinische Sprache begonnen hatte, die griechische als Leitmedium abzulösen.

 

Obwohl er sich nicht als Physiker bezeichnet hat (wiewohl er auch so einer war, man denke an seine Bücher über die Fünf Sinne, über die Malerei von Carpaccio, über die Feuer und Rauchzeichen bei Zola), nimmt er sich selber nicht ganz und gar heraus aus der Physik-Geschichte, der abendländischen. Und seine Leser auch nicht.

 

Walter Seitter