τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 19. November 2023

In der Metaphysik lesen (1091b 20 - 1092a 17)

16. November 2023


In der letzten Stunde bzw. im letzten Protokoll ging es um die Stelle, in der Aristoteles auf das "Prinzip“ einige superlativische Exzellenz-Attribute kumuliert. Was den Eindruck erweckt, es würden damit die Ausführungen des Buches XII 1072a 255ff.) fortgesetzt, wo ebenfalls vom „Prinzip“ ausgegangen worden ist und diesem eine längere Reihe von Superprädikaten zugeschrieben worden ist, so auch das Prädikat „Gott“. Die Bewegkraft des Prinzips wurde dort auch mit dem schönen Schein sowie mit einem Geliebtwerden assoziiert.

 

Deshalb habe ich ins Protokoll auch ein Foto aus dem momentanen Jahrhundert aufgenommen, welches das Schattenbild einer fragmentarischen Körperkontur zeigt: Schatten auf Sand. 

 

Einen aristotelischen Aussagenzusammenhang (aus dem 4. bis 1. Jahrhundert) mit einer Fotografie aus einem (post)christlichen Jahrhundert, dem 21., zu illustrieren, das mag unsinnig erscheinen. Ist es aber nicht, weil, wie Oliver Primavesi gestern in seinem Vortrag über die Wahrnehmungstheorie des Empedokles ausgeführt hat, bestimmte Aussagen über bestimmte Sachverhalte „auch jetzt noch“ Gültigkeit haben können.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      

 

(Unter der Voraussetzung, daß der Gegenstand der Fotographie mit dem Gegenstand der aristotelischen Aussagen irgendetwas zu tun hat - was allerdings auf den ersten „Blick“ unmöglich erscheint: denn das in Frage stehende „Prinzip“ kann nicht mit irgendeinem Fotoobjekt identisch sein. Fotographische Aufnahmen von jenem Prinzip würden nur in einem extrem pataphysischen oder surrealistischen Milieu für möglich gehalten werden.)  

 

Wäre das Unmögliche nicht nur möglich sondern sogar wirklich, dann wären wir tatsächlich an dem Ort in jenem Milieu, an dem surrealistisch bis paranoisch theoretisiert worden ist - und dieser Ort heißt Jaques Lacan, der dann in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg eine medientheoretische Anthropologie und Ontologie entworfen hat, deren drei Grundbegriffe imaginär, symbolisch und real allesamt auf sehr bekannten Wörtern aufruhen, aber bei Lacan bekommen sie einen Dreh, genauer gesagt, einige Drehe ins Andere, ins Absurde, ins Unmögliche. So speziell das „Reale“, das seine Grundbedeutung mit Allerweltswörtern wie „to on“, „ens“, „wirklich“, „being“ teilt - aber es verläßt, es verliert, es entfernt sich davon - auch wenn es beim schlichten Ausgangswort bleibt.

 

Am Montag, dem 20. November 2023, spricht Claude Duprat über einen notwendig mitzudenkenden Begriff, nämlich über einen Signifikanten, der das Reale, das Unmögliche, signifizieren kann, obwohl keiner es signifizieren kann (was zu seiner Definition gehört). Und diesen unmöglichen Signifikanten als solchen hat Jacques Lacan im Laufe seines Lebens gelegentlich, vermehrt in seinen letzten Jahren - nicht etwa verkündet, offenbart, er hat ihn nur als „einen neuen Signifikanten“ angerufen, herbeigewünscht, beschworen, mit Beispielen illustriert, mit Beispielen aus der Witzlehre von Sigmund Freud, aus der Zahlenlehre von Georg Cantor.

 

In der Umbenennung des definitionsgemäß unmöglichen Signifikanten zu einem „neuen Signifikanten“ deutet Lacan - wenngleich nur gestisch (nur gestisch?) - eine neuerliche Drehung, eine Gegendrehung, eine Weiterdrehung - aber die Weiterdrehung geht in die Gegenrichtung! - an. Die er auch mit der ursprünglichen Lust des kindlichen, des mythischen, des archaischen, des erstanfänglichen Subjekts assoziiert. 

 

Die kleine amerikanische Fotografie von einem Badestrand des 21. Jahrhunderts wird von mir als ein Versuch zu einem mehr bildhaften als symbolischen, tatsächlich bildhaft-symbolischen „neuen Signifikanten“ vorgeschlagen. Er enthält aber auch wie die Beispiele Lacans eine ontologische Stoßkraft „in eine Art Jenseits“. In welche Art Jenseits - werden wir vielleicht sehen.

 

Die Frage ist, ob die Exzellenz-Attribute des Buches XIV und die mehr oder weniger ähnlichen des Buches XII einem und demselben „Objekt“ zugeschrieben werden.

 

Wenn ja, dann würde diese beiden Abschnitte den Kernbestand der aristotelischen Theologie ausmachen - soweit wir jetzt sehen können. Denn wir müssen noch ungefähr sechs Seiten lesen, um zum Ende der unvollendeten Metaphysik zu gelangen, das wird in diesem Jahr nicht mehr der Fall sein. 

 

 

Hier im Buch XIII wird dem Prinzip hauptsächlich die Eigenschaft „gut“ (die man eigentlich den praktischen Wissenschaften überlassen möchte) zugeschrieben, das Prädikat „ein“ nur unter Vorbehalten. Ja Aristoteles betont, daß man alles, was mit Zahlen zusammenhängt, von dem Prinzip fernhalten muß, ebenso die „Idee“.

 

Aristoteles nähert sich der Bestimmung des Prinzips mit einer relativ banalen Feststellung zum Bereich der Biologie, früher hätte man „Naturgeschichte“ gesagt (in meinen Gymnasialjahren, den Sechzigern des 20. Jahrhunderts, hieß das Fach tatsächlich „Naturgeschichte“), denn damals hat man noch nicht gemeint, daß die Natur und die Geschichte nichts miteinander zu tun haben. 

 

Die Feststellung lautet: „Die Prinzipien, aus denen Lebewesen und Pflanzen hervorgehen, sind vollendet.“ Das heißt: die Lebewesen und Pflanzen gehen aus Lebewesen und Pflanzen hervor.

 

Sie brauchen zwar auch Erde, Wasser, Licht zu diesem Hervorgehen - aber hervorgehen tun sie aus ihresgleichen.

 

Daher der zweite Satz: „Den Menschen erzeugt der Mensch; nicht der Same ist das erste.“ 

 

Mag sein, daß Samenzellen (und Eizellen) die direkten Ausgangskörperchen für die Entstehung eines Menschen sind - aber diese Zellen gibt es nur in und von richtigen Menschen, die über mehr energeia verfügen als jene. 

 

Für die Bestimmung des „Prinzips“ ergibt sich daraus, daß sein Realitätscharakter und -rang, also seine Vollkommenheit , nicht unter derjenigen der von ihm Prinzipiierten liegen kann. 

 

Vollkommenheit bemißt sich nach der Proportion zwischen Tätigkeit und Möglichkeit in einem Wesen - je höher der Anteil der Tätigkeit, umso vollkommener ist es. 

 

Es bahnt sich die Vermutung an, daß mit diesem Prinzip der ontologische Begriff der „Tätigkeit“ (energeia) eine Bedeutungssteigerung erfährt. Über den Begriff „Wesen“ hinaus, der aber nicht hinfällig wird. 

 

Walter Seitter

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