τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 29. September 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez IX

28. September 2022

 

Wie im Lateinischen voluntas und voluptas so klingen auch im Deutschen die Wollung und die Wollust fast ähnlich, die gemeinsame griechische Schwester ist die elpis, die Hoffnung. Die Etymologie ist die Wissenschaft von der Verwandtschaft zwischen den Wörtern, auch zwischen verschiedenen Sprachen, und ihre genealogische Erkundung geht natürlich auch zurück zu früheren Sprachgebräuchen. Sie geht aber immer von der Gegenwart des Etymologen aus und wird kaum jemals irgendwelche frühesten Sprachen, nicht einmal die erste sogenannte indogermanische, vollumfänglich antreffen und rekonstruieren können. Derartige Einbildungen waren immer schon nur solche -aber deswegen ist nicht die Etymologie überholt, ebensowenig wie irgendeine andere Genealogie (auch nicht eine naturwissenschaftliche Genetik, die übrigens weiter zurückreicht als bis zum Augustinermönch Gregor Mendel).

 

Was wir „Wollust“ nennen, reicht jedenfalls ins Psychische hinein, auch wenn es ans Körperliche gebunden sein mag, und zwar an das Körperliche, das wir als Leibliches, Organisch-Lebendiges bezeichnen.

Die Frage ist, ob und wie die von Lukrez dargelegte Physik, die sich streng genommen als Mikrophysik versteht und daher Wahrnehmung und Beobachtung nach heutiger Auffassung nur mit dem Mikroskop sicherstellen könnte, dem Bereich des Animalisch-Physischen nahekommt. Sie entnimmt ihre Modelle nicht den Festkörpern (die archimedischen Sandkörner bilden da eine Übergangszone) sondern dem Luftigen und dem Flüssigen.

Das eben erwähnte Animalische existiert in den Lebewesen und die werden in der Natur von den diversen Strömungen aus erzeugt, die wiederum durch das clinamen, durch die declinatio, aus der Bahn der strikten Ursachen-Wirkungs-Verkettung abgelenkt werden.

Das Lebewesen, egal, ob mikro- oder mesoskopisch, stört die starre Ordnung der Dinge, es führt eine andere, eine supplementäre Ordnung ein. Lukrez benennt sie mit dem Namen Aphrodite – zweifellos eine „anthropogene“ und eine „anthropomorphe“ Benennung einer Kraft, die über das Menschliche hinausgeht, aber menschenverständlich ist. Zunächst nur eine menschliche Anrufung einer Kraft, eine Theoklesie, dann Theographie, die schließlich zu einer Theologie ausgebaut werden kann – da die Menschen zu den baufreudigsten Tieren gehören. Architektur als übermenschengroße Graphie.

 

Lukrez ist kein Atheist, weil er kein Theist ist. Wohl aber hat er Angst vor den Religionen – erstaunlich, da er doch das Christentum gar nicht kannte. Er hatte vor ihnen Angst, weil sie Angst machen, weil sie ein menschlicher Angsterzeugungsmechanismus sind. Seine Angst war eine politische.

 

Dagegen setzte er seine Physik, die auch die animalischen und die menschlichen Wesen, auch die seelischen und die leidenschaftlichen Bewegungen wissenschaftlich beschreiben und auf gut und weniger gut hin unterscheiden kann.

Der physikalische Zugang zu den Lebewesen mithilfe der declinatio, oder griechisch der Ektropie,  war ein anderer als der aristotelische. Aber das verbindet Aristoteles und Lukrez, daß sie die Lebewesen, die Tiere und die Menschen, mit ihren triebhaften und psychischen, mit ihren rätselhaften und erratischen Bewegungsmöglichkeiten klar und deutlich besprechbar machen. Die Zoologie (und nicht die Theologie) bildet bei Aristoteles faktisch die Hauptdisziplin unter den theoretischen Wissenschaften. 

 

Im epikureischen Brief an Pythokles findet sich die Abhandlung Vom Winkel im Atom, worin die foedera naturae von den foedera fati unterschieden werden.

 

Heute würde man, meint Michel Serres, da von einem „Paradigmawechsel“ sprechen. Die Wissenschaft bleibt Wissenschaft und die Gesetze bleiben die Gesetze. Aber es ändert sich die „Globalübereinkunft“. Man hat das clinamen für einen Fingerschnipser, für eine Fiktion gehalten, wie Cicero. Betrachtet man es von einem anderen Paradigma aus, so erscheint es als ganz anders – nämlich als ein schlichtes Phänomen.

Betrachtet man die Geschichte der Strömungsdynamik, so sieht man, welche Schwierigkeiten die Physiker damit hatten, sich von der Theorie zu lösen und zu den Sachen selbst zurückzukommen.

 

Serres zögert nicht, Edmund Husserls Parole einzusetzen, wo es um die Dramatik der älteren Wissenschaftsgeschichte geht. Überhaupt injiziert er der antiken und der weiteren Philosophiegeschichte die Wissenschaftsgeschichte, weil es darum geht, die Verhaltensweisen zu realen Objekten zu erblicken, zu unterscheiden, zu vergleichen. Diese Verhaltensweisen, sofern sie als Wissenschaften auftreten, nennt man heute „Paradigmen“. Und sie treten nicht nur als Wissenschaften auf, sondern sind bedingend und bedingt verbunden mit anderen, mit noch machtvolleren Aktionsweisen. Eine davon hat Serres als „industrielle Produktionsweise“ bezeichnet.

 

Es ist ebenso schwer, „wieder Phänomenologe zu werden“, wie mit den foedera fati zu brechen. Epikur, Lukrez wechseln das Paradigma aus. Und Michel Serres, nicht als „Anhänger“ der Phänomenologie bekannt, erklärt es hier einfach für unvermeidlich, Phänomenologe zu werden, auch wenn das jetzt, also in den Siebzigerjahren, nicht mehr so modern sei …

Serres erwähnt auch die Frühschrift von Karl Marx Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (1840-41), wo der Paradigmenwechsel bereits zwischen den beiden antiken Philosophen angesiedelt wird und Epikur gegenüber seinem Lehrmeister sowohl die Rolle der sinnlichen Wahrnehmung wie die Macht des Zufalls verstärkt, wie Marx der hegelschen Vergötzung des „Selbstbewußtseins“ zum Trotz herausstellt. Ein Paradigmenwechsel, der mit der Antike anhebt und sich lange durchziehen sollte, enthält zwei Denkmöglichkeiten: Ersetzung eines Paradigmas durch ein anderes oder aber beziehungsweise und irgendwie parallel nebeneinander weiterlaufende Denkhaltungen.

Das neue Wissen ist für stochastische Phänomene aufgeschlossen: incerto tempore incertisque locis bedeutet nicht, daß Zeit und Orte unwichtig werden und sich die Seele über die Wahrnehmungsqualitäten erhebt, sondern daß diese zufallsartig auftreten. Seit Demokrit ist dieses Wissen mit den Problemen des Infinitesimalen befaßt. Es ist durch hydrodynamische Modelle inspiriert und wendet sich der Formierung der lebenden Systeme zu.

 

Die von Serres angedeutete phänomenologische Qualität jenes antiken Paradigmenwechsels geht also Hand in Hand mit einer Zuwendung zu bestimmten Objekten, die auch ohne Mikroskop erfaßt werden können. Und dabei betont Serres den Form- oder Gestaltaspekt, der ja bekanntlich für die aristotelische Physik, die hylomorphistische, unverzichtbar ist.

 

Und dieses Wissen, schreibt er weiter, ist „physikalistischer“, weniger mathematisiert, als das platonische Wissen; es ist „phänomenaler“, „weniger metrisch“ als jenes.

Die Schrift, die ich hier gerade lese und deren Lektüre ich hiermit protokolliere (womit ich mich, wenn ich es nicht schon wäre, zu einem philosophischen Schriftsteller mache (dies als Wink an eventuelle Philosophen, die schreibende Philosophen werden wollen)), bezeichne ich, da ich schon viele Bücher von Serres gelesen habe, als seine frechste, da sie jedweden Paradigmagehorsam eher in Frage stellt. Er formuliert da ungenierter, unvorsichtiger als irgendwo. Jetzt hat er gerade noch eine weitere philosophische Duftmarke aus dem frühen 20. Jahrhundert herbeizitiert und sich zueigen gemacht: den „Physikalismus“, der innerhalb des Wiener Kreises vornehmlich von Otto Neurath (1882-1945) propagiert worden ist.

Die Mars-Natur, die martialische Physik, wird von festen, von harten Körpern gebildet, die venerische Natur und Physik entsteht im Fließenden. Da das Atom unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt, kommt es in der Erfahrung, im Phänomen, im Experiment, auf die große Zahl, die Menge der Elemente, den unzähligen Wasserfall, das Spüren im Fließen an.

Da die fundamentalen Tatsachen der Epikur-Natur in der traditionellen Wissenschaft eher marginal geblieben sind, haben wir sie kaum in die Wissenschaftsgeschichte einbezogen. Ja wir haben ihre Natur eher außerhalb der Natur situiert, irgendwo in der Seele, im Subjekt. Da sie aber das nicht zulassen wollten, wurden sie zur Begründung des „Materialismus“ herangezogen. Die Atome sind keine Seelen – die Seele aber ist atomisch.

Die Gegenpartei versammelte sich unter dem Banner des „Spiritualismus“, mit dem die martialischen Wissenschaften sich ein gutes Gewissen aufbauen konnten.

Wir aber wollen klären, was es mit der lukrezianischen Vertragsänderung auf sich hat. Warum werden die Gesetze der Natur oder die Notwendigkeit des Schicksals foedera genannt: foedera naturae oder foedera fati? Allianzen, Verträge, Pakte? Warum diese politische Terminologie, wozu diese Götternamen in einer Abhandlung, die der objektiven Wissenschaft (!) gewidmet ist und die uns aus der Unterwerfung unter Götter zu einer Weisheit jenseits politischer Ambitionen und Machinationen führen soll?

 

Was die Verwendung der Götternamen betrifft, so kann Serres sie auch mit dem von Georges Dumézil formulierten Modell der Funktionenteilung zwischen magischer und juridischer Souveränität, Krieg und Fruchtbarkeit verständlich machen.[1] In diesem Modell hat jede gesellschaftliche Funktion ihren Platz, um ihre begrenzte Rolle zu spielen. Ein Krieg sollte durch einen Vertrag, womöglich durch eine Allianz beendet werden, um der Fruchtbarkeit ihr Wirken zu ermöglichen.

Es gibt aber auch den Fall, daß der Krieg in totale Zerstörung übergeht, wofür bei Lukrez die Pandemie steht oder aber der verallgemeinerte Kampf gegen die Natur – mythisches Gleichnis: die „Arbeiten des Herkules“. Nach Serres der erste Fall des generalisierten Krieges, der der friedlichen Wirtschaftstätigkeit eine andere Qualität beschert. Und plötzlich eine Formulierung direkt aus den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts: „Hier ist der Arbeiter identisch der Soldat.“

Die industrielle Revolution wird allerhöchste Staatssache, magische und juridische Souveränität konvergieren allerhöchst, Krieg und Fruchtbarkeit konvergieren mit. Serres nennt den französischen Historiker Jules Michelet als denjenigen, der Herakles zu seinem Gott erhoben habe. Aber mit dem einen Satz hat er Ernst Jünger (ohne ihn zu nennen) als den Schriftsteller festgeschrieben, der viel „realistischer“ schreibt als die Surrealisten.[2]

 

Epikur hingegen legt die Waffen nieder. Er spricht, er sagt die neue Allianz mit der Natur. Er beschließt die heraklitische Periode, in der der Krieg der Vater und sogar die Mutter aller Dinge ist, und die Physik unter der Ägide des Ares.

Lukrez kritisiert Heraklit mit Strenge, Empedokles mit Milde: denn dieser Sizilianer hatte mit seiner Einführung der Freundschaft und Liebe das Heraufdämmern des Vertrags herbeigesehen.

 

Gegenüber dem Haß und der Zwietracht, hatte sich bereits Aphrodite fröhlich erhoben. Epikur und Lukrez haben die Waffen beiseite geräumt, haben Mars aus der Physik hinausgescheucht. Können wir das, außerhalb der Mythologie und ihrer Naivitäten verstehen? Ja und im Übermaß.

Zum Hereinbrechen der modernen Wissenschaft, dekretiert Francis Bacon, daß man der Natur nur befehlen kann, indem man ihr gehorcht. Descartes, daß die Menschen ihre Herren und Besitzer zu werden haben. Damit wird der Allianzvertrag gebrochen. Der Krieg wird unabsehbar ausgeweitet, verfeinert und produktiv gemacht – der Krieg gegen die Natur.

Epikur scheitert, ebenso die Aphrodite des Lukrez. Die Methode ist nun eine Strategie und nicht ein Vertrag, eine Taktik und nicht ein Pakt, ein Spiel auf Leben und Tod und nicht ein Koitus. Bei Bacon kehrt Herakles zurück, der die Kolonnen abschreitet, auch die Kolonnen der absolut folgsamen Paradigmafunktionäre; bei Descartes ist es Archimedes, der sich anschickt, die Erde aus den Angeln zu heben. Daher sind die antiken Figuren Personifikationen von Prinzipien und Bedingungen.

In den Elementen des objektiven Wissens wie an seinen historischen Anfängen gibt es eine zumeist nicht wahrgenommene Gemengelage von vorgängigen Entscheidungen. Eine von ihnen lautet: entweder die vertragliche Übereinkunft oder die militärische Strategie. Wer oder was leitet die Wissenschaft, wer entscheidet darüber? Die Antwort darauf kann lauten: Mars oder Venus, Herakles oder Quirinus. Dann scheint sie eine religiöse oder mythologische Antwort zu sein. Die Modernen fragen: was und wie? Und sie antworten: durch Vertrag oder durch Strategie. Und die Zeitgenossen kommen wieder auf die Frage nach dem Wer zurück: die Klasse der Produzenten oder die Klasse der Herrschenden? Lukrez nennt bedeutungsgeladene Namen; Descartes und Bacon nennen metaphorisch schillernde Prinzipien. Serres selber behauptet, als Historiker zu sprechen – und als solcher erwähnt er auch die anderen Sprechweisen. Das gehört zum historischen Handwerk und vor allem gehören zu den jeweiligen Verhaltensweisen oder Entscheidungen auch „entsprechende“ Sprechweisen, weil alle Dinge, Ereignisse und so weiter irgendwie erscheinen müssen, entweder mehr wahr oder mehr trügerisch. Dafür haben Michel Foucault und Jacques Lacan auch den Begriff Diskurs eingeführt, den man allerdings im Deutschen besser vermeidet, weil er da eine andere semantische Nuance aufweist.

Es geht um Möglichkeitsbedingungen der Wissenschaft, die Serres als Entscheidungszwänge beurteilt. Davon gibt es verschiedenartige, höchstwahrscheinlich gehört die Alternative zwischen „wahr“ und „trügerisch“, Wille zur Wahrheit oder eben nicht - auch dazu.

Dem Willen zur Wahrheit steht aber nicht nur die offensive Lüge entgegen, sondern auch ein paar raffiniertere erkenntnispsychologische Verhalten. Wie etwa die Alles- und Besserwisserei, die es immer gegeben hat, die aber in letzter Zeit an Beliebtheit zugenommen hat, und die vielleicht eine Spielart des Hochmutes ist: gescheiter sein als alle - wer sich auf diesen Einbildungsweg begibt, dem wird ein starkes „Selbstbewußtsein“ zufallen. Allerdings hat schon Sokrates bemerkt, daß er als der Dümmste davonkommen wird.

In Sachen Natur geht es darum, ob sie als Feindin, Sklavin, Gegnerin oder als Partnerin eines Vertrages gesehen wird, den Lukrez unter den Schutz der Venus stellen würde. Dabei handelt es sich nicht um eine naive, leichtfertige Angelegenheit. Sondern um eine mit Konsequenzen. Wird das Wissen den Weg der Zerstörung, der Gewaltsamkeit und der Pest gehen oder den des Friedens, des Genießens? Leben oder Tod - das ist die Frage. Das ist der Schrei des Lukrez, den unser Wissen, Serres meint damit unsere heutige und globale Wissenschaftskultur, wieder hört. Damit scheint er zu unterstellen, daß irgendeine Wissenschaftskultur diesen Frageschrei schon einmal gehört hat.

 

Wenn ich in der apriorischen Entscheidungsstruktur, die zu so etwas wie „Erkenntnispolitik“ zwingt, zur Alternative Leben – Tod die andere Alternative Wahrheit – Unwahrheit hinzufüge beziehungsweise sie darüberstelle, dann mag es zwar sein, daß die Wahrheit dem Leben nähersteht als dem Tod, aber identisch müssen sie nicht sein.

 

In der dumézilschen Funktionenteilung steht die Souveränität über dem Gegensatz zwischen Fruchtbarkeit und Krieg. Daher scheint mir die von Eric Voegelin aus Platon herausgeschriebene Trias von Eros, Thanatos, Dike ein gute Kurzfassung der vorgängigen Entscheidungsstruktur. Sie spricht mit den beiden Polen Eros und Thanatos der Natur ein Übergewicht in dem Spielfeld zu, verengt es aber nicht auf einen feindseligen Dualismus, sondern mit der Dike wird der Aspekt des Vertrages, den Serres in späteren Büchern würdigen sollte und der mit der Wahrheit strukturell verwandt ist, hervorgehoben.[3] Eine schlichte Identifizierung von Venus und Dike entspricht - soll ich sagen: leider ? – nicht den Erfahrungen.

 

Nun weiter Serres zu den erkenntnispolitischen Vorbedingungen der Wissenschaft. Diese „orientieren“ zwar die Wissenschaft – doch deren Theoreme und Protokolle (!) bleiben von jenen Entscheidungen unberührt.

 

Darin liegt ein schwieriges Problem: ein rigoroses und exaktes Wissen soll durch Venus oder durch Mars auf diesen oder auf jenen Weg geführt worden sein. Die Wissenschaft soll so oder so bedingt, gerichtet sein, gleichzeitig sind ihre Ergebnisse unabhängig von ihren sozialen oder geographischen Entstehungen.

Nehmen wir einmal an, für eine bestimmte Wissenschaft gelten bestimmte Methoden oder Vorgangsweisen. Was aber wird durch jene dazukommenden oder vielmehr unterschwellig wirksamen Bedingungen oder Entscheidungen bewirkt? Diese Bedingungen sind Weichenstellungen, die die Kartographie der Wissenschaft prägen: ihre Disposition, die Verteilung ihrer Glieder, die Strukturierung ihres Raumes, ihre globale Form und ihr lokales Relief.

 

Diese „topografische“ Dimension der Erkenntnispolitik kommt ohne jede Polarisierung zwischen „gut“ und „böse“ aus. Darin trifft sie sich mit einer anderen, die als banal gelten kann. Es ist der Zwang, sich die Gegenstände der wissenschaftlichen Erkenntnis selber wählen zu können. Macht man Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft – oder Wirtschaftswissenschaft? Und innerhalb dieser weiträumigen Gebiete: welche Spezialisierung wählen? Innerhalb der vorgegebenen Spezialisierung: welche Schwerpunkte wählen? Bereits definierte Schwerpunkte oder solche, die man selber definiert, weil man sie für wichtiger, interessanter, gewinnbringender hält? Für welche Art von Gewinn?

 

Mit diesen Fragen kann man an den Rand eines schon bestehenden Paradigmas geraten, an den Rand eines Paradigmagehorsams beziehungsweise -ungehorsams. Und damit vielleicht auch in eine Grauzone zwischen den von Serres benannten Wissensorientierungen.

 

Eine neuerdings akut gewordene erkenntnispolitisch „kritische“ Zone ist diejenige, in der das „Subjekt“ der Wissenschaft oder Philosophie sich zum Objekt machen will oder nicht will oder kann oder nicht kann.

Das Subjekt, das man wohl nicht anders denn als „Mensch“ bezeichnen kann – es sei denn, man stellt auch diese Notwendigkeit in Abrede, weil man dem modisch gewordenen anti-anthropologischen Affekt verfallen ist.

Der ist im 20. Jahrhundert von Martin Heidegger, Jacques Lacan oder Michel Foucault ausgerufen worden. Neulich fragte ich eine Philosophin, ob sie für ein Buchprojekt namens „Anthropographie“ einen Beitrag liefern wolle. Ihre Antwort bezog sich nicht unmittelbar auf den Titelvorschlag „Anthropographie“, vielmehr hat sie ihre Bedenken damit begründet, daß sie eher „post-anthropologisch“ oder „post-humanistisch“ denke.

Diese Option in der Gegenstandswahl hat neuerdings einen Auftrieb bekommen, der mit dem Begriff „Anthropozän“ umschrieben werden kann, welcher doch wohl eine globale Machtsteigerung des Menschen gegenüber – gegenüber wem? – indiziert. Aber er tut das, indem er das Begriffselement „Mensch“ in sich hineinnimmt.

Wer das bisherige Serres-Lukrez_Protokoll gelesen hat, wird feststellen, daß diese Problematik ihm – dem Protokoll – keineswegs fremd ist. (138ff.)

 


Walter Seitter


[1] Siehe dazu Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 18: Georges Dumézil - Historiker, Seher (1993); sowie Walter Seitter: „Ist das Politische am Ende? Zum gegenwärtigen Schicksal der indoeuropäischen Trifunktionalität Souveränität-Krieg-Fruchtbarkeit (Dumézil-Foucault)“. In: Bilder-Fotonachrichten 48 (1989)

[2] Siehe Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung (1930); Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932)

[3] Siehe Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik (München 1966): 59, 324; Plato’s myth of the Soul (München 2001): 9ff.

Donnerstag, 22. September 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez VIII


21. September 2022

 

 

Das Lehrgedicht des Lukrez ist eine Physik-Darlegung.

 

Die herkömmlichen Übersetzungen, Kommentare und Kritiken stellen das in Abrede, sie interessieren sich nicht für die Natur der Sachen selbst, sie ordnen den Text einer unwissenden Vorgeschichte, einer Ermahnung moralischer, religiöser, politischer Art zu. Lukrez wird kastriert, von der Welt abgeschnitten. Der Scholienschreiber will von der Welt nichts wissen.

 

Die Hymne an Venus ist ein Lied auf die Wollust. Auf die ursprüngliche Mächtigkeit, die über Mars und den Todestrieb triumphiert – ohne zu kämpfen. Auf die Lust am Leben, auf ein Wissen ohne Schuld. Das Wissen der Welt ist nicht schuldhaft, es ist friedlich und schöpferisch. Es ist generierend und nicht destruktiv.

 

Endlich von den Göttern befreit sein. Als ob Venus keine Gottheit wäre. Als ob der Vertrag nicht mit einem Gebet begänne. Atheistisch, gläubig?

 

Doch es geht um Immanenz. Venus sive natura. Mavors sive natura. Es handelt sich um Physik, nicht um Emotionen. Um die Natur und nicht um grausame Phantasmen.

 

Immanenz: die Welt ist von Gesetzen durchherrscht. Ohne Abstand ist sie von Gründen beherrscht. Aber mit dem Voranschreiten der Verse muß man zwischen zwei Gesetzen unterscheiden. Gesetz des Eros, Gesetz des Todes. Der Frühling oder die Pest. Die Vögel, die Leichen. Und die Verletzung der Liebe oder die zerfetzten Körper.

 

Es gilt also, zwischen zwei Physiken zu wählen und die ursprüngliche Hymne ist das Axiom der Entscheidung.[1]

 

Venus, das heißt: die Natur. Mars, das heißt: die Natur. Und beide bleiben wahr. Die Gewalt und die Pest, brechen sich die abschüssige Bahn. Wenn ich also Memmius die Gesetze der Natur erklären will, dann muß ich eine Entscheidung über ihre Natur, über ihren Namen treffen.[2] 

 

Diese Entscheidung ist von allergrößter historischer Bedeutung und kulturellem Gewicht.

 

Es ist nämlich eine Tatsache, und ich bin ein Sklave dieser Tatsache, daß die Wissenschaft des Abendlandes niemals aufgehört hat, anders zu entscheiden als Lukrez. Und für den Krieg zu optieren, für die Pest. Für das Blut, den Streit, die Körper auf den Scheiterhaufen. Sie hat – von Heraklit bis Hiroschima – immer nur die martialische Natur gekannt.

 

Das nennt man verschämt den Pessimismus von Lukrez oder den Niedergang seines Aphrodite-Textes zur Pest von Athen. So bestätigt man ihm, daß er seine Wette verloren hat, daß seine Physik verloren hat.

 

 

So untersagt uns die Wissenschaft, oder was wir so nennen, diese verlorene Wissenschaft zu lesen. Die Gesetze der Venus sind für die Kinder des Mars nicht zu lesen.

 

Natürlich nimmt Michel Serres selber sich da aus und gesellt sich zweitausend Jahre später zu dem Memmius, von dem sonst noch bekannt ist, daß er die griechische Literatur weit höher geschätzt hat als die lateinische, womit er sich manche Sympathien verscherzt hat. Diese Hochschätzung wird man wohl auch dem Lukrez unterstellen dürfen, der aber mit seinem episch-philosophischen Gedicht die Reihe initiiert hat, welche bald nach ihm von Ovid und Vergil fortgesetzt werden wird.

 

Der Text des Gedichts ist die Natur selber. Die Natur der Venus. Er legt seine Locken rings um die martialische Aktion. Doch nicht in geschlossenem Kreis. Die Atome fallen nicht genau ins pandemische Athen. Die Zeit des clinamen fällt nicht mit dem Fall der Leichen zusammen. Ort und Moment fallen dahin und dorthin. Der Kreis findet nicht statt.

Sondern in Raum und Zeit tauchen stochastisch Turbulenzen auf. Der gesamte Text turbuliert und erzeugt allerorten Turbulenzen. Venus, circumfusa, verströmt sich um den liegenden Körper des Mars herum, der endlich dahin gefallen ist, wo er fallen sollte. Sie verwirrt ihn, sie bringt sein Gesetz durcheinander. Die Physik des Falls, der Wiederholung und der strengen Verkettung wird durch die kreative Wissenschaft des Zufalls und der Umstände ersetzt. 

 

Weder Gerade noch Kreis; sondern Spirale, Volute, Schnecke.

 

Die Ordnung der Vernunftgründe ist eine Ordnung der Wiederholung. Das dergestalt verkettete Wissen ist eine Todeswissenschaft. Eine Wissenschaft der toten Dinge und eine Strategie der Tode. Die Ordnung der Vernunftgründe ist eine martialische. Die Welt ist in Ordnung für diese mathematisierte Physik, mit der die Stoiker nach rückwärts an Platon anknüpfen und nach vorwärts auf Descartes verweisen. Und in der schließlich zwischen den Leichenstücken Ordnung herrscht. Die Gesetze sind überall dieselben die thanatokratischen Gesetze. In diesem Wiederholungssystem gibt es nichts zu wissen, zu entdecken, zu erfinden. In dem Parallelen des Identischen gibt es nur den Fall. Nichts Neues unter der Herrschaft desselben. Null Information, nur Redundanz. Die Verkettung der Ursachen, der Fall der Atome, die endlose Wiederholung der Buchstaben: drei Figuren der Null-Wissenschaft. Bestimmung, Identität, Wiederholung, null Information, nicht ein Jota Wissenschaft. Auslöschung, kein Schatten von einem Leben, Tod bei vollendeter Entropie.

 

Dann regiert Mars, er zerteilt die Körper in Atomstücke, die nur fallen. Foedus fati: Gesetz im Sinn der Physik. So ist es, so sei es, amen. So auch der Sinn der dominanten Gesetzgebung: man will, daß es so sei.

 

Mars hat diese Physik gewählt, die Wissenschaft vom Fall, die Wissenschaft vom Schweigen.

Serres‘ Kommentar zu Wittgenstein?

Dies ist die Pest: die Epidemie breitet sich aus zur Pandemie, die Gewalt hört nicht auf, sie rieselt den Talweg hinunter, die Atome fallen unablässig, die Vernunftgründe wiederholen sich endlos. Die Beulen, die Waffen, die Miasmen und die Ursachen. Es ist immer dasselbe Gesetz: die Wirkung wiederholt die Ursache, und zwar identisch. Nichts Neues unter der Herrschaft desselben und unter derselben Herrschaft, der konservierten.

Nichts Neues und keine Geburt, keine Natur. Tod, ewig. Tod der Natur, Tod der Geburt! Die Wissenschaft von dem da ist – nichts. Errechenbar nichts. Stabil, unbeweglich, redundant. Sie kopiert dieselben Schriften, mit denselben Buchstaben-Atomen. Das Gesetz, das ist die Pest. Die Vernunft ist, was der Fall ist. Die wiederholte Ursache, das ist der Tod. Das Repetitive ist die Redundanz. Und die Identität ist der Tod. Alles fällt gegen null: Nullität an Information, nichts an Wissen, Inexistenz. Dasselbe: nicht sein.

Der Winkel heilt die Pest, zerbricht die Gewaltkette, unterbricht die Herrschaft desselben, erfindet die neue Vernunft und die neue Satzung, foedera naturae, (er)zeugt  die Natur, so wie sie wirklich ist. Der minimale Turbulenzwinkel produziert, da und dort, die ersten spiraligen Voluten. Buchstäblich die Re-Volution. Oder die erste Evolution – zu etwas anderem als demselben. Die Turbulenz perturbiert die Kette. Sie stört den Abfluß des Identischen – wie Venus den Mars verstört hat.

 

Die ersten Wirbel. Turbantibus aequora ventis: die in einem abfließenden Fluidum - Luft oder Meer - verstreuten Turbulenzen brechen den Parallelismus seiner wieder und wieder holenden Wellen. Sanfte Wirbel der Venus-Physik. Wie kann man sein Herz zurückhalten, wenn man sieht, wie das Meer auf und ab und hin und her schlägt? Wie die ersten Wasser sich formen und bauen. Von dessen Höhen aus man den martialisch geordneten Schlachtreihen entkommt. Von den Höhen aus, die durch das Wissen der Weisen befestigt sind.

 

Es geht darum, zwischen den beiden Physiken zu wählen.

Der heraklitischen und soldatischen, in Reih und Glied, in Ketten und Sequenzen, in Kolonnen und Divisionen aufgestellten Physik des Krieges, der Rivalität, der Konkurrenz, welche die Finsternisse ihres redundanten Gesetzes zu Tode wiederholt.

 

Und jener der Turbulenzen, der Sanftheit, der heiteren, vielleicht auch der raffinierten – denn Serres setzt hier das Adjektiv ein, das die Gioconda des Leonardo qualifiziert – Wollust. 

Die antike Göttin wird sowohl mit ihrem griechischen wie mit ihrem römischen Namen genannt, bleibt aber nicht unbedingt in die Antike eingesperrt. Serres schreibt seine französische Lukrez-Paraphrasierung im späten 20. Jahrhundert nach Christus, also ein halbes Jahrhundert vor meiner hiesigen Serres-Lukrez-Lektüre-Protokollierung, die übrigens in den Blog namens „Hermesgruppe“  aufgenommen wird, wozu auch noch angemerkt werden darf, daß die Schrift von Serres erst entstanden ist, nachdem er eine Vielzahl von Aufsätzen in mehreren Hermes*-Bänden publiziert hatte. Und wenn ich jetzt diesen Serres lese, merke ich, daß er nicht bloß etwas Antikes referiert, sondern etwas geschrieben hat, was erst im frühen 21. Jahrhundert ganz deutlich und verständlich wird. Das heißt dieser Hermes hört nicht auf, die Sachen hin und her und weiter und weiter zu transportieren – aber nur wenn man selber götterbotenartig, folglich auch götterartig agiert. Zum Göttinnenartigen später.

 

Serres, der hier nur seine „persönliche“ Paraphrasierung zum besten gibt, zögert auch nicht, seine wirkliche oder angebliche Seefahrer-Erfahrung in seinen Text einzufügen, wenn er schreibt, daß die Seefahrer inmitten der Wirbel arbeiten: sie werden von den langen Wellenlinien hin und her geschleudert, sie werden geworfen, geschlagen, gequält und gefoltert. Aber diese Quälerei ist nur für die Landleute grausam, die die See scheuen. Oh ihr Seeerschütterungen der verwirrten Liebenden! Oh ihr Wolluststöße des Schlingerns auf hoher See!

Hört den Vers, der seine Voluten rollt: suave, ventis, vexari, voluptas! Die Revollution der Wollust!

 

Venus-Physik gegen Mars-Physik. (136ff.)

 

 

Walter Seitter

 




[1] Diese Rede erinnert mich natürlich an den von mir herausgegebenen Band TUMULT. Schriften zur Verkehrswissenschaft 23: Physiken (1998). Wo also die Physik nicht zum allerersten Mal in den Plural gesetzt worden ist. Für die aktive Mitarbeit daran danke ich Gerhard Grössing. Physiken im Plural - und nicht nur in riesigen epochalen sowie geographischen Distanzen, kann es nur geben, wenn der Begriff der „Erkenntnispolitik“, den Serres mit der „Entscheidung“ andeutet, nicht weit weg ist und das geht nur dort, wo der Paradigmazwang, das Paradigmamonopol keine schlichte Geltung besitzt.

 

[2] Serres verbindet die Notwendigkeit der Entscheidung zwischen den Physik-Richtungen mit der Tatsache, daß Lukrez sein Lehrgedicht auch in der Hinsicht nicht ganz allein geschrieben hat, daß er es seinem Zeitgenossen, dem Politiker Gaius Memmius, gewidmet hat, um ihm die epikureische Lehre ans Herz zu legen.

Freitag, 16. September 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez VII

 14. September 2022

 

Wie wir schon gesehen haben, ist für die Physik des Lukrez (wie auch für die des Epikur) die Oberfläche*[1] ein wichtiger Begriff, ein Allgemeinbegriff, dem gleichwohl sehr leicht anschauliche Vorstellungen zugeordnet werden können.

 

Die Oberfläche ist eine Grenze, sozusagen eine ganz dünne, feine Tunika, die über einen konvexen Komplex geworfen ist. Gewissermaßen eine Replik, eher noch eine Applikation. Man beobachte die fließenden Schluchten, die von der Grenze und dem Anhang getrennt und vereinigt werden, die Grenz-Oberfläche und das unendliche Anwachsen der Falten. Exakt ein fließender Raum. Beweglicher Abstand einer feinen Stimmigkeit. Schlicht und einfach: die Genealogie der Simulakren - jener beweglichen Idole, die aus den Oberflächen ausströmen. Diese Genealogie ist topologisch so exakt und sprachlich so präzis, daß die Theorie der Sinnesempfindung zeigen kann, daß Demokrit bei seiner Entwicklung der Integralrechung die Exhaustionsmethode eingesetzt hat. Und daß Archimedes mit seiner meisterlichen Sachkenntnis darüberhinaus einen unerwarteten Prozess mathematisiert . Ein Analogon der leibnizschen Theorie der kleinen Perzeptionen. Archimedes kann sogar über die Grenzen das Erscheinen der Form an den Rändern der Atom-Konstitution und die Fluktuationen des Phänomens erklären. Die fliegenden Tuniken sind die fließenden Ränder und die Oberflächen der Grenzen. Summo de corpore. Die Simulacren lösen sich von den Dingen ab wie in ihrer infinitesimalen Behandlung. Es löst sich davon ab, soviel man will. Jedes Objekt wird Quelle unendlich vieler Hüllen. Das Sehen ist ebenso rigoros wie die mathematische Methode. Da jedes Objekt nur innerhalb eines Wirbels oder einer Spirale erzeugt worden ist, sendet die Turbulenz als solche ihre Hüllen aus.

Was passiert mit den Singularitäten? Sie unterscheiden sich grundlegend von der anerkannten griechischen Tradition, die von Thales oder Pythagoras bis Platon reicht. Sie sind ihr sogar entgegengesetzt. Demokrit geht von dem aus, was bei den Platonikern ein Akzidens ist und was bei den Pythagoreern ein Schiffbruch war. Man kann die beiden Auffassungen einander entgegensetzen wie eine lokale und eine globale Mathematik , oder wie eine Wissenschaft von den Idolen und eine von den Ideen.

 

Die idealen Formen der Geometrie sind nicht transparent, invariant und leer. Sie sind dicht und kompakt, gefüllt mit einem komplexen Gewebe und an den Oberflächen mit unsichtbaren Schleiern bedeckt, die sie sichtbar machen, mit endlosen Grenzen, die doch da sind. Differential-Gewänder, die über die Formen gleiten.

 

In den Augen eines Platonikers ist die hier eingesetzte Mathematik falsch; für einen Epikureer ist die Mathematik des Timaios falsch. Daher die beiden entgegengesetzten Erkenntnistheorien: Idole, Ideen.

 

Die Ideen reduzieren sich letztlich auf den Zustrom der Idole gegen mein aus Atomen zusammengesetztes Auge. Die Statuen zerfallen und die Götter sterben.

Das ist mathematisch beweisbar.

 

Das eidolon produziert in der Wahrnehmungswelt die Bilder, die Erscheinungen, die Glanzlichter. Im Wasser, in der Luft und in den Spiegeln. Illusionen vom Objekt. Das eidolon produziert im Subjekt die trügerischen Einbildungen. Im Schlaf und im Traum, wo die Schatten der Toten wiederkommen und sprechen, schreckliche unterirdische Götter. Wer sieht, der träumt, daß er sieht, wer lebt, ist tatsächlich tot, wer sich sehnt, ist voller Angst, der Leib ist ein Kadaver, die Welt ist eine Hölle, die Wahrheit Lüge und der Sinn herbeiphantasiert. Der Apostel Paulus hat überhaupt keine Schwierigkeit damit, bei Platon seine Idole zu finden: wortlose Bilder der toten oder erträumten Götter, falsche Götter.

Epikurs Lektion befreit uns von diesen Schrecken. Vom Funktionieren des neutralen eidolon, das unser Phantasieren mit Angst und Begehren, mit erotischem Körper und Todestrieb anfüllt.

Eine Analyse, die sehr wohl Platon und den Apostel Paulus, die griechischen Mythen und die von Moses zerbrochenen Idole trifft. Ihre Moral versucht, die Träume, die Furcht vor den Göttern und die Angst vor dem Tod zu zerstreuen. Sie kommt naiv auf den Körper zurück, den begehrenden und wahrnehmenden, und da sie selber ein Objekt der Welt ist, kommt sie ebenso naiv auf die Wahrheit als wahre, auf den Anschein als exakten, auf das Objekt als Objekt zurück. Sie durchschneidet den Knoten der Spracheffekte sowie der komplexen Labyrinthe eines erschöpften und thanatologisch gewordenen Begehrens. Das eidos, das unsterbliche, unveränderliche und wahre, wird bei Epikur zum Irrtum und das lügnerische, fantomatische und tote eidolon wird Wahrheit, stilles Scheinen in einer wirklichen Welt. Einfach begehren: klar sehen.

Es reduziert sich also alles aufs Funktionieren der Idole. Es bedarf einer Wissenschaft, um den Frieden und das geglückte Begehren in einer befriedeten Welt herbeizuführen. Dieses Wissen ist physisch, es ist Physik, es konstituiert mit seinen Explikationen, mit seinen Hypothesen, eine Natur. Eine Natur, die gesehen, berührt, gespürt ist, voller Emanationen, voller Düfte, voller Lärme, voller Bitterkeiten und Salzigkeiten. Zusammengesetzte Körper, die zusammengesetzte Signale mit anderen zusammengesetzten Körpern austauschen. Die Atom-Zusammensetzungen begegnen einander.

Die Formen teilen einander Formen mit, und zwar über den Formenkanal, den sie selber „autoproduzieren“, also selbstherstellen.[2] 

 

Das eidolon ist ein neutraler Agent, unbeseelt wie ein Atom oder eine Gruppe von Atomen. Das Es ist ein Das-da. Du träumst, nachdem du zuviel Wein getrunken hast oder weil du um dein Werk besorgt bist. Du stirbst, wenn die Zusammensetzung zerfällt.

 

 

Aber nichts ist feiner als die Sinne, nichts exakter, nichts präziser, nichts getreuer und treuer. Die gesamte Erkenntnistheorie ist eine – Physik. Niemand kann einen Empfänger konzipieren, der ausgeklügelter wäre als die Sinnesorgane, niemand eine Maschine, die elaborierter wäre.[3]

 

Die Formen sind hier – wo denn sonst? Die Form produziert die Formen, Agent und Produkt verursachen einander. Demokrit hat gezeigt, wie die Formen aus Atomen gebildet werden und in welchem unendlichen Prozess ihre Grenzen sich ausbilden.

Das eidolon ist falsch für das eidos -und umgekehrt. Homer und Platon - falsch. Falsch für die Höllen, die Kadaver, die Ängste, die Träume. Falsch für den Irrtum und die Lüge. Also wahr. Das eidolon ist wahr: wahrgenommen, lebendig, in einer realen und angstfreien Welt. Der Terror ist falsch für die Ataraxie.

Die Theorie der Simulakren, Grenzen, Hüllen, Tuniken, die durch den Raum der Objekte als Objekte oder als Sender für Empfänger fliegen, ist eine Theorie der Kommunikation. Wir wissen nun, wie diese feinen Schalen und Schilde sich loslösen und ausschwärmen und die Emission in Gang setzen. Und wie und mit welcher Geschwindigkeit sie den Kommunikationsraum durchqueren. Und wie aufseiten der Rezeption der Wahrnehmungsapparat mit dem feinen Gewand des Senders in Kontakt kommt. Also sind das Gesicht, der Geruch, das Gehör und so weiter nichts weiter als Berührungen. Die Sinnesempfindung ist ein verallgemeinerter „Takt“. Die Welt ist nicht mehr auf Distanz, sie ist berührbar, tangibel. Die Theorie der Simulakren ist ein Sonderfall der Theorie der Strömungen, die Kommunikation ist eine der Zirkulationen, das Erkennen ist nicht etwas anderes als das Sein.

 

Wie alle Philosophen, die von Leidenschaft fürs Objektiv-Reale hingerissen sind, ist Lukrez ein Genie des Taktes, nicht der Vision, welche die Gnoseologien modelliert, die auf Distanz gehen, sei es aus Widerwillen, sei es aus Ekel.

 

Wissen ist nicht Sehen. Sondern in direkten Kontakt mit den Dingen treten. Und übrigens: sie kommen zu uns. Die Physik Aphrodites ist die Wissenschaft von den Zärtlichkeiten. Die Objekte, zunächst auf Distanz, wechseln ihre Haut: sie schicken einander Küsse.

Das Wissen wird Wollust, die Phänomenologie Zärtlichkeit.

 

 Walter Seitter




[1] Mein momentaner Computerzustand erlaubt es mir nicht, bestimmte Wörter kursiv zu setzen; daher füge ich ihnen so ein Sternchen an und bitte Ivo Gurschler, die mit Sternchen versehenen Wörter im Blog kursiv zu setzen (und das Sternchen wegzulassen). Und es scheint mir gar nicht unpassend, dieses Ersuchen in den Text aufzunehmen. Denn der rechnet sich – wiewohl er ein philosophischer sein will, der Textsorte „Protokoll“ zu, die ihrerseits auch das Niedrigste nicht verschmäht. Und es entspricht der lukrezischen Auffassung von Physik, Schriftzeichen (wie auch Bildformen) als materielle, körperliche Tatsachen zu betrachten. Immerhin können sie betrachtet werden, da sie wahrgenommen werden müssen – folglich sind sie nicht etwas „Immaterielles“.

[2] Damit dürfte Serres auf die „Autopoiesis“ anspielen, die von Humberto Maturana (1928-2021) in die Biologie eingeführt worden ist. Kein Wunder, daß hier der Begriff „Form“ auftaucht, der eher der aristotelischen, der hylomorphistischen Tradition angehört.

[3] Siehe Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische (Frankfurt 1998)

Samstag, 10. September 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez VI

 7. September 2022

 

Serres plädiert dafür, die alten „Meteorologien“ wieder zu lesen: die der jonischen Naturphilosophen, die von Platon, Aristoteles, der Renaissance-Gelehrten. Hinzufügen könnte man auch die des Albertus Magnus (1200-1280). Die Meteorologie laut Serres ist die Wissenschaft von heute, von morgen.

 

Sie ist jedoch aus dem Reich des Wissens vertrieben worden, als die Wissenschaftler sich auf die alte Idee des Gesetzes festgelegt haben. Der absoluten Kontrolle, der Herrschaft ohne Wenn und Aber. Doch die Zeit der Meteore, also der Himmelserscheinungen wie Kometen, Blitz, Donner, Wirbelwind, Regenbogen und Wolken ist eben eine andere, für die wir das verharmlosende Wort „Wetter“ einsetzen. Dabei geht es um eine Ordnung der Unordnung, des Unvorhersehbaren, des lokalen Zufalls.

 

Daher hat sich die Physik in die Kammer zurückgezogen. Das Laboratorium und das ganze geschlossene System bewahren vor den Turbulenzen. Die Wissenschaft hat sich eingesperrt, sie flüchtet vor den Meteoren zum warmen Herd. Und sie verläßt diese Einschließung nicht mehr, die den Zufall und das Unkontrollierbare ausschließt – wir sagen heute: die Hyperkomplexität.

 

Lukrezens Physik ist draußen. Die unsrige ist es wieder. Die alten geschlossenen Systeme sind Abstraktionen oder Ideale. Die Zeit der Öffnung ist jetzt gekommen, es ist wieder Zeit für den vormodernen Lukrez, und für die Sprengung der Entropie-Schließung, der thermodynamischen oder vielmehr metaphysischen.[1] Die natura rerum weist uns den Weg, hinaus ins Unwetter und in den Regen. Zu den Überschwemmungsgebieten des Nils.

 

Vorbei die Lobreden auf Athen, das fruchtbare und sprießende, bevor es von der Pest heimgesucht worden ist. Das Buch VI, das von den Meteoren handelt, greift auf die Theorie der Vase zurück. Der Körper ist eine Vase, welche die Seele als ein noch subtileres Fluidum enthält. Dieses Gefäß ist zunächst ein Modell. Da die Seele noch fluider ist als das Wasser, der Nebel, der Rauch, da sie eine Wolke ist, die ständig von den Simulakren beeindruckt wird, müssen wir Verbindungen zwischen den Wogen und den Festkörpern konzipieren wie den Verbindungsknoten oder den Reibungswiderstand. Andere Objekte, andere Modelle konstruieren. Die Vase ist konstruierbar, sie modelliert fluide Verbindungen. Sie ist ein hydraulisches Becken, ein Springbrunnenbecken. Sobald man die Vase schüttelt, spritzt und rinnt die Flüssigkeit heraus. Und das Becken kann Risse bekommen, porös ist es immer, und sein Inhalt tritt aus. So löst sich die subtile Seele durch die Risse des Körpers, der ein weniger fluides Gewebe ist, in der Luft und im gesamten Raum auf. Daher die Träume, der Tod.

Es ist eine stilistische Konstante bei Lukrez, also ein physikalisches Gesetz, daß die Ausfließung eine Auseinander-, eine Zer-, eine Verfließung ist. Denn die lateinischen Wörter diffluere, discedere, diffundere, dissolvere tun genau dies: die Atomisierung annähwerungsweise vorführen, eine unmögliche Mikrophysik ohne Mikroskop doch realisierbar machen. Das alles ist doch möglich, weil auch die festen Dinge sich abnutzen, zerfallen und sich ausbreiten, Wolken bilden und so weiter.

 

Die Vase also ist selber porös, sie ist selber ein offenes System und einem Automaten mit innerem Milieu an Komplexität weit überlegen. Das beseelte Fluidum tritt aus, zerstreut sich und flieht. Vom lokalen zum globalen Offenen. Überall und zufällig kehrt die Seele in die Welt und ins Chaos zurück. Sie ist sterblich – sie stirbt „physikalistisch“, löst sich auf. Sie kann zwar ohne den Körper nicht leben, der ihr Spritzbrunnenbecken ist, welches ihr für eine gewisse Zeit eine Konzentrierung ermöglicht.[2]

 

Aber die Vase ist selber ein Fluten – wenngleich ein festeres und dichteres. Bis es irgendwann der Pulverisierung, der Atomisierung (eigentlich der „Tomisierung“) anheimfällt, den Prozessen, die mit der Vorsilbe dis- eingeleitet werden und die sich im Gesang häufen wie ein physischer Sturzbach, die Zertrümmerung der Gefäße durch Windwirbel und Unwetter, die Abnutzung der Statuen unter den Lippen, die ihre Füße küssen, das Weitereilen des ganzen Gedichtes hin zur Pest von Athen, die Neigung des Textes, der Fall der Atome, der Wasserfall der Buchstaben. All das galt für offene Systeme. Daher ist Lukrezens Gedicht für den langen Zwischenakt der klassischen und der modernen Physik außer Gebrauch gekommen. [3]

Und jetzt ist der Morgen für sein Wiedererwachen gekommen.

Gefäße bilden fast feste aber offene Systeme, die Zuflüsse und Abflüsse ermöglichen. Auch die Simulakren, also Zeichen und Zeichensysteme, akustische und visuelle, gehen da ein und aus. In die Menschen dringt der Wein ein, der das Gewebe der Venen flutet, aber auch die noch subtilere philosophische Lehre Epikurs. Wer sein Wort und seine Schrift von den physikalischen oder materialistischen Gesetzen ausnimmt, wäre ein schlechter Materialist, meint Serres. Durch den Körper wandern Wellen von Nahrung und Getränk, von Eros oder Wahrnehmung, von intellektueller Information. Epikur ist die Quelle eines Flusses, der in meinen Körper mündet. Er kann ihn aber auch wieder verlieren – aufgrund der Undichte der Wände oder wegen eines Lochs, das in den Boden geschlagen worden ist. Aber gar keinen Boden kann ein Becken nicht gehabt haben, sonst wäre es kein Becken. Ein Gefäß ohne Boden – sowas wäre höchstens eine sexuelle oder metaphyische Träumerei. (!) Serres spielt da auf eine schlechte „klassische“ Lukrez-Übersetzung an, die den Sexus eskamotiert, und er betont, das Lehrgedicht beginne mit einem Gebet an Aphrodite und es empfehle bestimmte Positionen, die den Samenverlust hintanhalten.[4]

 

Ich versuche, den oftmals lyrischen, manchmal jubilatorischen, gelegentlich auch schnoddrigen Duktus wiederzugeben, mit dem Serres den Text des Lukrez paraphrasiert, wobei er die Ausführungen zu einer weit ausholenden Physik mit Andeutungen zu einer überraschenden Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik verbindet. Diese werden in späteren Passagen weitergeführt werden und müssen daher jetzt fragmentarisch bleiben.

Da er seine Erklärungen und Deklarationen auch mit Götternamen bestückt, ist es nicht unpassend sondern supplementär, wenn meine Protokollierung der Lektüre des Buches fallweise ein amerikanisches Venus-Foto appropriiert oder auf eine künstlerisch-theopoietische Aktion im Weinviertel verweist.

 

Es lassen sich aber schon ein paar wichtige Punkte resümieren:

 

Von der Antike bis zur Renaissance „herrschte“ in den Naturkunden eine Paradigmen-Gemengelage, die im 17. Jahrhundert geschlossen wurde. Es folgte der „klassisch-moderne“ Zwischenakt. Damit wurde ein rigider Gesetzes-Begriff etabliert, der den Zufällen keinen Raum ließ. Die Zone zwischen der vulkanträchtigen Erdkruste und den Himmelsniederschlägen wie Blitzen oder Schneeflocken, eine qualitativ bestimmte Zone von unkontrollierbaren Vorgängen, die ehedem den „Meteoren“ zugedacht war, wurde der Aufmerksamkeit entzogen. Die ziemlich unordentliche antike Elementen-Lehre wurde verabschiedet, doch unter der Hand, nämlich in den Techniken, sind die beiden gewaltträchtigeren Elemente Wasser und Feuer präferiert worden. Ergebnis ist der Industrialismus – eine sehr wirksame Option, die Serres mit dem mythischen Kriegsgott Mars assoziiert, der damit über Aphrodite und Venus gesiegt habe. Aber nicht unbedingt endgültig. Auf der Theorie-Ebene verbindet Serres mit dem klassisch-modernen Zwischenakt die Fixierung auf die Entropie. Für die Gegenwart das heißt für die Zukunft - aber dafür muß man weiterlesen.

 

Da der Protokollant alles ins Protokoll setzt, was er darein setzen will, will ich auch nicht verschweigen, daß es mir nicht leicht gefallen ist, diese kleine holprige Resümierung zu formulieren, die immerhin einen Umsturz in der europäischen Wissenschaftsgeschichte andeutet.

 

 

Serres schiebt auf Seite 96 ein Diagramm ein, das die lukrezianische Epistemologie schematisch zusammenfassen soll. Im Zentrum des Diagramms ein Viereck, dessen Seiten aus gegeneinander orientierten Linien bestehen, das mir jedoch gar nicht klar zu sein scheint. Ich habe sogar den Eindruck daß da „agrégation“ und „désagrégation“ verwechselt werden. Im freien Fall durch Schwerkraft bilden sich Stabilitätsinseln oder -verdichtungen, die nur temporär Bestand haben. Dafür setzt Serres den Begriff „Dynamisches Gleichgewicht“ oder „Fließgleichgewicht“ ein.[5]

 

Serres reformuliert dann einige Erklärungen, die vielleicht doch etwas Klarheit schaffen.

 

Er meint, die lukrezianische „déclinaison“ sei für die klassischen und modernen Physiker ein Skandal gewesen, da sie Universalität der Gesetze breche; da sie die geschlossenen Systeme aufbreche; da sie die Gesetze der Physik unter die Herrschaft der Ausnahme setze; unter das schützende Dach des bestimmten Winkels. Aber so ist es eben, und Lukrez hat recht.

Er hatte bereits die Revolution durchgeführt, die von den heutigen Wissenschaftn praktiziert und von der Philosophie weiterhin ignoriert wird. Wenn der freie Fall universal ist, wenn sein Gesetz keine Ausnahme duldet, dann wird jede Konstruktion unmöglich: dann gibt es keine Welt, dann kann es keine Physik geben. Und das trifft auch für die geschlossenen Systeme zu.

 

Nun ist es aber so, daß es doch zumindest etwas und für einige Zeit gibt. Zum Beispiel diesen Kieselstein da, auch wenn er immer nur den Talweg hinunterrollt, wenn er einen findet.[6]

Oder dieses Haus, errichtet mit der Kraft meiner Hände. Oder den glatten Leib dieser Frau. Und die Welt unter der Sonne.

Unsere Wissenschaft sagte, ohne es wirklich zu wissen, das darf es nicht geben, das ist unmöglich.

Mit einer Vernunft, die sich dem Todestrieb und der Chaosneigung ergeben hat. Und gemäß der jeder Diskurs unmöglich ist.[7]

Tatsache ist, schreibt Serres, daß du sprichst und daß ich verstehe. Und ich schreibe dazu, daß das zumindest manchmal passiert. Und ich schreibe noch dazu, daß ich all das hier schreibe, auch wenn es nur ein Protokoll ist, und daß es unmöglich ist, daß nichts davon verstanden wird.

 

Also gibt es offene Systeme. Also gibt es Ausnahmen von der Regel. Also gibt es eine Natur, gibt es Natalität, Geborenwerden, Gebären. Es gibt die Wasserspritzer, die zufällig gestreuten Turbulenzen, die unsicheren Orte, die unwahrscheinlichen Zeiten, die Singularitäten, die gerade jetzt geboren werden.

 

Und in der Nähe der Gebäranstalten immerzu der allgegenwärtige Tod.

 

Im strengen und im statistischen Sinn gibt es ohne die Natur keine Physik. Ohne die Natur, ohne die Geburt, die Öffnung, die Ausnahme, ohne das Wunder, den Abstand.

 

Die Wissenschaft ist nicht mehr in der Ordnung, wenn Ordnung Gleichgewichtszustand heißt und Tod und Chaos.

Sie ist vielmehr im Außerordentlichen. Die Wissenschaft ist zur Gänze ein Organon des Mirakels und der Diskurs ist ein mirakulöser.

Die Wissenschaft ist nicht eine Sache des Generals, pardon, jetzt habe ich doch wohl eine Übersetzungsvariante gewählt, die zwar ebenso richtig ist wie die eher zutreffende: sie ist nicht das Allgemeine, sondern das Rarste, das Rarissimum. Der Diskurs ist nicht etwas Ordentliches; Sinn und Zeichen sind Ausnahmen.

 

Und die Minimalbedingung dieser Verschiebung, im Vergleich zu der die kopernikanische Revolution nur ein Kinderspiel war, ist die „declinatio“.

Die atomistische Physik ist eine Kritik der geschlossenen Vernunft. Nein, nicht eine Kritik, sondern eine Architektonik mit Scheinlot auf ständiger Flucht des Stabilen.

 

Sie ist keine Kritik, sondern eine Klinik. Das Stabile flieht, nur das Instabile hält. Das clinamen.

 

Es gibt zwei Naturgesetzlichkeiten. Das Gesetz des Todes, wonach alles dem Gleichgewichtszustand zuströmt. Und die stochastisch verteilte Ausnahme, in der das Fluten abbiegt, zu einem Wirbel wird, sich diversifiziert, sich lokal verdichtet und ein zeitweilig stabiles weil instabiles Aggregat errichtet. Unter geneigtem Dach, wo die Balken sich biegen. Das Gebälk zeichnet die Welt, die sich neigt. (Siehe 85ff.)

 

*

 

Da passiert heute etwas Unvorhergesehenes. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet von einem kürzlich aufgetauchten Liebesgedicht Martin Heideggers - irgendwann aus dem 20. Jahrhundert. Rosarotes Papier, deutsche Schreibschrift, gewidmet einer Frau, mit der Heidegger durch viele Jahrzehnte hindurch in Briefwechsel stand. Darin spricht Heidegger davon, daß ein Flügelschlag des Gottes Eros ihn jedesmal berühre, wenn er im Denken einen wesentlichen Schritt tue.

 

Michel Serres hat Heidegger kaum geschätzt, aber er hat die Anrufungen oder die Einwirkungen bestimmter Gottheiten mit bestimmten Weggabelungen assoziiert, die nicht nur im Denken einzelner sondern im Agieren ganzer Zivilisationen entscheiden.

 

Die rosarote Farbe, die heute in der Zeitung abgebildet ist, ist eine ähnlich artifizielle Erscheinung wie irgendeine gewagte architektonische Konstruktion, die jemandem gefallen kann oder sogar nützlich sein kann. So eine Farbe kann auch von irgendeiner Venus aufgetragen, getragen und vorgetragen werden – aber so, daß sie einschlägt wie ein Blitz.

 

 

Walter Seitter

 




[1] Daß Serres hier das geschlossene System, das der Entropie zum Endsieg verhelfen würde, als „metaphysisch“ etikettiert, mag überraschen, verwundern, befremden. Jedenfalls im hiesigen Rahmen, nämlich dem Protokoll, das den Obertitel „In der Metaphysik lesen“ trägt, der wiederum auf sein Hauptobjekt, nämlich die aristotelische Metaphysik, zurückgeht.

Wichtiger ist, daß er damit, (wie üblich) ohne sie mit ihrem übrigens lukrezianischen Namen zu nennen, die Ektropie aufruft.

[2] Gelegentlich setze ich das ältere Wort „Spritzbrunnen“ ein, um dem Lied „Der Spritzbrunnenaufdreher“ von Karl Valentin und Liesl Karlstadt die gebührende Textautoritätsanerkennung zu erweisen. Solche notorischen Nicht-Philosophen haben mir schon mehrmals Lichter aufgesetzt – etwa für die Physik der Autobahn.

[3] „Klassisch“ und „modern“ – diese Epochenbezeichnungen beziehen sich einerseits auf das sogenannte „klassische Zeitalter“, andererseits auf die „modernen Zeiten“. Beide zusammen erstrecken sich vom Anfang des 17. Jshrhunderts bis irgendwann ins 20. Jahrhundert hinein – und bilden dennoch für Michel Serres nur einen „Zwischenakt“ in der Physik.

[4] Wie aus dem Lektüre-Protokoll zu Hermann von Kärnten hervorgeht, kann sogar ein mönchischer Schriftsteller des 11. Jahrhunderts von solchen Dingen mehr Ahnung gehabt haben, als ihm mancher im 21. Jahrhundert zutraut.

[5] Begriffe, die von dem österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) geprägt worden sind.

[6] Da scheint Serres auch an die „Einführung in den Kieselstein“ von Francis Ponge zu denken. Von dem habe ich vor einem Jahr in dieser Sommer-Dichter-Lektüre das „Sonnenbuch“ gelesen und in seinem „Tischbuch“ fand ich den Hinweis auf Lukrez, der die Moral nicht auf die Metaphysik gegründet habe, sondern nur auf die Physik.

[7] Hier eine kleine Fußnote einfach von mir – zu der unaufhörlichen Begeisterung fürs Schweigen und Schweigenmüssen, dem sich alle unterwerfen müssen, die eine höhere Vernunft für sich beanspruchen. Doch ihre Namen verschweige ich, denn ich will sie ja nicht festlegen auf ihre Begeisterung.

Dienstag, 6. September 2022

Sonderprotokoll Göttinnen-Fest 2022

Am 3. September fand im nördlichen Weinviertel (Alberndorf) DAS HOLLENWASSERWUNDER Göttinnen-Fest 2022 statt, das mit seiner Spannung zwischen Kosmologie und Theographie in die hiesige Metaphysik-Lektüre appropriiert werden kann.

Der zur Protokollführung eingeladene Philosoph hat diese Aufgabe nicht übernehmen können, daher schiebe ich jetzt nur ein Notprotokoll ein, das insofern authentischen Charakter hat, als es statt eines üblichen Post-Protokolls die offizielle Ankündigung übernimmt - also ein Prä-Protokoll. 

 

*

DAS HOLLENWASSERWUNDER
Göttinnen-Fest 2022

Am 3.September 2022, 14 Uhr

Ort: Jägeracker, Alberndorf (beim Radler, hinter dem Friedhof geradeaus Richtung Berg, es ist der Weg ausgeschildert)

Wasser ist existenziell, auch das Pulkautal ist heuer extrem vom Mangel an Regen betroffen. Die Bäume leiden, besonders die Eichen und Birken. Wir suchen nach Wasser, wir kartographieren die unterirdischen Wasserläufe. Wir verehren das Wasser als lebendiges, intelligentes Element. Wir erinnern daran, dass das Wasser - neben Bäumen und Steinen – der Grund war, warum bestimmte Orte verehrt wurden: das Wasser ist heilend, tröstend, erteilt den guten Rat.

Heuer werden wir im Rahmen des Göttinnenfestes einen kleinen Brunnen auf dem Jägeracker in Alberndorf bohren. Wir haben die beste Stelle dafür seit Langem gesucht und festgelegt. Die Bohrung selbst ist das Fest, die Erscheinung des Wassers die Epiphanie. Das Wasserloch soll in Zukunft die Tiere tränken, und die sich eventuell dorthin verirrenden Wandererinnen überraschen und erfreuen. Dieser Brunnen ist ein Ort, an dem das Wasser verehrt werden soll, es kann nutzen und heilen, aber an erster Stelle ist er dazu da, damit die lebendige Allmacht des Wassers, die auch im kleinsten Rinnsal präsent ist, betrachtet werden kann, von Mensch, Tier oder Pflanze.

  

PROGRAMM

14 Uhr Aufstellung beim Jägeracker, feierlicher Zug der Weissen, Roten und Schwarzen Göttinnen mit dem geschmückten Bohrer mit Begleitung durch die Dorfmusik Hadres zum Bohrloch

Göttinnengruppen nehmen Platz auf den drei Festwägen bei der Bohrstelle

Während der gesamten Zeremonie Räucherungen mit Lavendel

Installation am Hang von Alexandra Zaitseva

Bohrbeginn mit Fanfaren

Performance der Weissen Göttinnen mit Teppichklopfern und Besen

Performance der Roten Göttinnen mit Krügen und Vasen

Performance der Schwarzen Göttinnen, Rezitationen zu Ehren des Wassers

Performance der drei Göttinnengruppen, Konzentration auf Bohrung

Fortwährend Musik, dazwischen regelmässig Herzschlag durch die Große Pauke

Sobald das Wasser erscheint, allgemeine Akklamation mit Fortissimo Musik und Tanz

Pumpen einer Ehrenfontäne

Begrüssung des Wassers, einzeln und kollektiv

Deponieren von Geschenken für das Wasser

Abschließend auf dem Jägeracker gemeinsames Grosses Festmahl mit Backhendl und Auflauf, Wein von Weingut Eder und Weingut Himmelbauer

Ende ca. 19 Uhr

Regie: Elisabeth von Samsonow

Dorfmusik Hadres

Mit besonderem Dank an Roman Wittmann, Jägerschaft Alberndorf Robert Diem, Karl Koran, Karl Riepl

Edenhof Franz North, Eduard Himmelbauer, alle GöttinnendarstellerInnen!

Nur bei gutem Wetter!

Ausweichtermin wird bekanntgegeben!

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Das beigefügte Foto stammt von Ivo Gurschler.

 

Walter Seitter