τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 16. September 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez VII

 14. September 2022

 

Wie wir schon gesehen haben, ist für die Physik des Lukrez (wie auch für die des Epikur) die Oberfläche*[1] ein wichtiger Begriff, ein Allgemeinbegriff, dem gleichwohl sehr leicht anschauliche Vorstellungen zugeordnet werden können.

 

Die Oberfläche ist eine Grenze, sozusagen eine ganz dünne, feine Tunika, die über einen konvexen Komplex geworfen ist. Gewissermaßen eine Replik, eher noch eine Applikation. Man beobachte die fließenden Schluchten, die von der Grenze und dem Anhang getrennt und vereinigt werden, die Grenz-Oberfläche und das unendliche Anwachsen der Falten. Exakt ein fließender Raum. Beweglicher Abstand einer feinen Stimmigkeit. Schlicht und einfach: die Genealogie der Simulakren - jener beweglichen Idole, die aus den Oberflächen ausströmen. Diese Genealogie ist topologisch so exakt und sprachlich so präzis, daß die Theorie der Sinnesempfindung zeigen kann, daß Demokrit bei seiner Entwicklung der Integralrechung die Exhaustionsmethode eingesetzt hat. Und daß Archimedes mit seiner meisterlichen Sachkenntnis darüberhinaus einen unerwarteten Prozess mathematisiert . Ein Analogon der leibnizschen Theorie der kleinen Perzeptionen. Archimedes kann sogar über die Grenzen das Erscheinen der Form an den Rändern der Atom-Konstitution und die Fluktuationen des Phänomens erklären. Die fliegenden Tuniken sind die fließenden Ränder und die Oberflächen der Grenzen. Summo de corpore. Die Simulacren lösen sich von den Dingen ab wie in ihrer infinitesimalen Behandlung. Es löst sich davon ab, soviel man will. Jedes Objekt wird Quelle unendlich vieler Hüllen. Das Sehen ist ebenso rigoros wie die mathematische Methode. Da jedes Objekt nur innerhalb eines Wirbels oder einer Spirale erzeugt worden ist, sendet die Turbulenz als solche ihre Hüllen aus.

Was passiert mit den Singularitäten? Sie unterscheiden sich grundlegend von der anerkannten griechischen Tradition, die von Thales oder Pythagoras bis Platon reicht. Sie sind ihr sogar entgegengesetzt. Demokrit geht von dem aus, was bei den Platonikern ein Akzidens ist und was bei den Pythagoreern ein Schiffbruch war. Man kann die beiden Auffassungen einander entgegensetzen wie eine lokale und eine globale Mathematik , oder wie eine Wissenschaft von den Idolen und eine von den Ideen.

 

Die idealen Formen der Geometrie sind nicht transparent, invariant und leer. Sie sind dicht und kompakt, gefüllt mit einem komplexen Gewebe und an den Oberflächen mit unsichtbaren Schleiern bedeckt, die sie sichtbar machen, mit endlosen Grenzen, die doch da sind. Differential-Gewänder, die über die Formen gleiten.

 

In den Augen eines Platonikers ist die hier eingesetzte Mathematik falsch; für einen Epikureer ist die Mathematik des Timaios falsch. Daher die beiden entgegengesetzten Erkenntnistheorien: Idole, Ideen.

 

Die Ideen reduzieren sich letztlich auf den Zustrom der Idole gegen mein aus Atomen zusammengesetztes Auge. Die Statuen zerfallen und die Götter sterben.

Das ist mathematisch beweisbar.

 

Das eidolon produziert in der Wahrnehmungswelt die Bilder, die Erscheinungen, die Glanzlichter. Im Wasser, in der Luft und in den Spiegeln. Illusionen vom Objekt. Das eidolon produziert im Subjekt die trügerischen Einbildungen. Im Schlaf und im Traum, wo die Schatten der Toten wiederkommen und sprechen, schreckliche unterirdische Götter. Wer sieht, der träumt, daß er sieht, wer lebt, ist tatsächlich tot, wer sich sehnt, ist voller Angst, der Leib ist ein Kadaver, die Welt ist eine Hölle, die Wahrheit Lüge und der Sinn herbeiphantasiert. Der Apostel Paulus hat überhaupt keine Schwierigkeit damit, bei Platon seine Idole zu finden: wortlose Bilder der toten oder erträumten Götter, falsche Götter.

Epikurs Lektion befreit uns von diesen Schrecken. Vom Funktionieren des neutralen eidolon, das unser Phantasieren mit Angst und Begehren, mit erotischem Körper und Todestrieb anfüllt.

Eine Analyse, die sehr wohl Platon und den Apostel Paulus, die griechischen Mythen und die von Moses zerbrochenen Idole trifft. Ihre Moral versucht, die Träume, die Furcht vor den Göttern und die Angst vor dem Tod zu zerstreuen. Sie kommt naiv auf den Körper zurück, den begehrenden und wahrnehmenden, und da sie selber ein Objekt der Welt ist, kommt sie ebenso naiv auf die Wahrheit als wahre, auf den Anschein als exakten, auf das Objekt als Objekt zurück. Sie durchschneidet den Knoten der Spracheffekte sowie der komplexen Labyrinthe eines erschöpften und thanatologisch gewordenen Begehrens. Das eidos, das unsterbliche, unveränderliche und wahre, wird bei Epikur zum Irrtum und das lügnerische, fantomatische und tote eidolon wird Wahrheit, stilles Scheinen in einer wirklichen Welt. Einfach begehren: klar sehen.

Es reduziert sich also alles aufs Funktionieren der Idole. Es bedarf einer Wissenschaft, um den Frieden und das geglückte Begehren in einer befriedeten Welt herbeizuführen. Dieses Wissen ist physisch, es ist Physik, es konstituiert mit seinen Explikationen, mit seinen Hypothesen, eine Natur. Eine Natur, die gesehen, berührt, gespürt ist, voller Emanationen, voller Düfte, voller Lärme, voller Bitterkeiten und Salzigkeiten. Zusammengesetzte Körper, die zusammengesetzte Signale mit anderen zusammengesetzten Körpern austauschen. Die Atom-Zusammensetzungen begegnen einander.

Die Formen teilen einander Formen mit, und zwar über den Formenkanal, den sie selber „autoproduzieren“, also selbstherstellen.[2] 

 

Das eidolon ist ein neutraler Agent, unbeseelt wie ein Atom oder eine Gruppe von Atomen. Das Es ist ein Das-da. Du träumst, nachdem du zuviel Wein getrunken hast oder weil du um dein Werk besorgt bist. Du stirbst, wenn die Zusammensetzung zerfällt.

 

 

Aber nichts ist feiner als die Sinne, nichts exakter, nichts präziser, nichts getreuer und treuer. Die gesamte Erkenntnistheorie ist eine – Physik. Niemand kann einen Empfänger konzipieren, der ausgeklügelter wäre als die Sinnesorgane, niemand eine Maschine, die elaborierter wäre.[3]

 

Die Formen sind hier – wo denn sonst? Die Form produziert die Formen, Agent und Produkt verursachen einander. Demokrit hat gezeigt, wie die Formen aus Atomen gebildet werden und in welchem unendlichen Prozess ihre Grenzen sich ausbilden.

Das eidolon ist falsch für das eidos -und umgekehrt. Homer und Platon - falsch. Falsch für die Höllen, die Kadaver, die Ängste, die Träume. Falsch für den Irrtum und die Lüge. Also wahr. Das eidolon ist wahr: wahrgenommen, lebendig, in einer realen und angstfreien Welt. Der Terror ist falsch für die Ataraxie.

Die Theorie der Simulakren, Grenzen, Hüllen, Tuniken, die durch den Raum der Objekte als Objekte oder als Sender für Empfänger fliegen, ist eine Theorie der Kommunikation. Wir wissen nun, wie diese feinen Schalen und Schilde sich loslösen und ausschwärmen und die Emission in Gang setzen. Und wie und mit welcher Geschwindigkeit sie den Kommunikationsraum durchqueren. Und wie aufseiten der Rezeption der Wahrnehmungsapparat mit dem feinen Gewand des Senders in Kontakt kommt. Also sind das Gesicht, der Geruch, das Gehör und so weiter nichts weiter als Berührungen. Die Sinnesempfindung ist ein verallgemeinerter „Takt“. Die Welt ist nicht mehr auf Distanz, sie ist berührbar, tangibel. Die Theorie der Simulakren ist ein Sonderfall der Theorie der Strömungen, die Kommunikation ist eine der Zirkulationen, das Erkennen ist nicht etwas anderes als das Sein.

 

Wie alle Philosophen, die von Leidenschaft fürs Objektiv-Reale hingerissen sind, ist Lukrez ein Genie des Taktes, nicht der Vision, welche die Gnoseologien modelliert, die auf Distanz gehen, sei es aus Widerwillen, sei es aus Ekel.

 

Wissen ist nicht Sehen. Sondern in direkten Kontakt mit den Dingen treten. Und übrigens: sie kommen zu uns. Die Physik Aphrodites ist die Wissenschaft von den Zärtlichkeiten. Die Objekte, zunächst auf Distanz, wechseln ihre Haut: sie schicken einander Küsse.

Das Wissen wird Wollust, die Phänomenologie Zärtlichkeit.

 

 Walter Seitter




[1] Mein momentaner Computerzustand erlaubt es mir nicht, bestimmte Wörter kursiv zu setzen; daher füge ich ihnen so ein Sternchen an und bitte Ivo Gurschler, die mit Sternchen versehenen Wörter im Blog kursiv zu setzen (und das Sternchen wegzulassen). Und es scheint mir gar nicht unpassend, dieses Ersuchen in den Text aufzunehmen. Denn der rechnet sich – wiewohl er ein philosophischer sein will, der Textsorte „Protokoll“ zu, die ihrerseits auch das Niedrigste nicht verschmäht. Und es entspricht der lukrezischen Auffassung von Physik, Schriftzeichen (wie auch Bildformen) als materielle, körperliche Tatsachen zu betrachten. Immerhin können sie betrachtet werden, da sie wahrgenommen werden müssen – folglich sind sie nicht etwas „Immaterielles“.

[2] Damit dürfte Serres auf die „Autopoiesis“ anspielen, die von Humberto Maturana (1928-2021) in die Biologie eingeführt worden ist. Kein Wunder, daß hier der Begriff „Form“ auftaucht, der eher der aristotelischen, der hylomorphistischen Tradition angehört.

[3] Siehe Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische (Frankfurt 1998)

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