Das Lehrgedicht des Lukrez ist eine Physik-Darlegung.
Die herkömmlichen Übersetzungen, Kommentare und Kritiken stellen das in Abrede, sie interessieren sich nicht für die Natur der Sachen selbst, sie ordnen den Text einer unwissenden Vorgeschichte, einer Ermahnung moralischer, religiöser, politischer Art zu. Lukrez wird kastriert, von der Welt abgeschnitten. Der Scholienschreiber will von der Welt nichts wissen.
Die Hymne an Venus ist ein Lied auf die Wollust. Auf die ursprüngliche Mächtigkeit, die über Mars und den Todestrieb triumphiert – ohne zu kämpfen. Auf die Lust am Leben, auf ein Wissen ohne Schuld. Das Wissen der Welt ist nicht schuldhaft, es ist friedlich und schöpferisch. Es ist generierend und nicht destruktiv.
Endlich von den Göttern befreit sein. Als ob Venus keine Gottheit wäre. Als ob der Vertrag nicht mit einem Gebet begänne. Atheistisch, gläubig?
Doch es geht um Immanenz. Venus sive natura. Mavors sive natura. Es handelt sich um Physik, nicht um Emotionen. Um die Natur und nicht um grausame Phantasmen.
Immanenz: die Welt ist von Gesetzen durchherrscht. Ohne Abstand ist sie von Gründen beherrscht. Aber mit dem Voranschreiten der Verse muß man zwischen zwei Gesetzen unterscheiden. Gesetz des Eros, Gesetz des Todes. Der Frühling oder die Pest. Die Vögel, die Leichen. Und die Verletzung der Liebe oder die zerfetzten Körper.
Es gilt also, zwischen zwei Physiken zu wählen und die ursprüngliche Hymne ist das Axiom der Entscheidung.[1]
Venus, das heißt: die Natur. Mars, das heißt: die Natur. Und beide bleiben wahr. Die Gewalt und die Pest, brechen sich die abschüssige Bahn. Wenn ich also Memmius die Gesetze der Natur erklären will, dann muß ich eine Entscheidung über ihre Natur, über ihren Namen treffen.[2]
Diese Entscheidung ist von allergrößter historischer Bedeutung und kulturellem Gewicht.
Es ist nämlich eine Tatsache, und ich bin ein Sklave dieser Tatsache, daß die Wissenschaft des Abendlandes niemals aufgehört hat, anders zu entscheiden als Lukrez. Und für den Krieg zu optieren, für die Pest. Für das Blut, den Streit, die Körper auf den Scheiterhaufen. Sie hat – von Heraklit bis Hiroschima – immer nur die martialische Natur gekannt.
Das nennt man verschämt den Pessimismus von Lukrez oder den Niedergang seines Aphrodite-Textes zur Pest von Athen. So bestätigt man ihm, daß er seine Wette verloren hat, daß seine Physik verloren hat.
So untersagt uns die Wissenschaft, oder was wir so nennen, diese verlorene Wissenschaft zu lesen. Die Gesetze der Venus sind für die Kinder des Mars nicht zu lesen.
Natürlich nimmt Michel Serres selber sich da aus und gesellt sich zweitausend Jahre später zu dem Memmius, von dem sonst noch bekannt ist, daß er die griechische Literatur weit höher geschätzt hat als die lateinische, womit er sich manche Sympathien verscherzt hat. Diese Hochschätzung wird man wohl auch dem Lukrez unterstellen dürfen, der aber mit seinem episch-philosophischen Gedicht die Reihe initiiert hat, welche bald nach ihm von Ovid und Vergil fortgesetzt werden wird.
Der Text des Gedichts ist die Natur selber. Die Natur der Venus. Er legt seine Locken rings um die martialische Aktion. Doch nicht in geschlossenem Kreis. Die Atome fallen nicht genau ins pandemische Athen. Die Zeit des clinamen fällt nicht mit dem Fall der Leichen zusammen. Ort und Moment fallen dahin und dorthin. Der Kreis findet nicht statt.
Sondern in Raum und Zeit tauchen stochastisch Turbulenzen auf. Der gesamte Text turbuliert und erzeugt allerorten Turbulenzen. Venus, circumfusa, verströmt sich um den liegenden Körper des Mars herum, der endlich dahin gefallen ist, wo er fallen sollte. Sie verwirrt ihn, sie bringt sein Gesetz durcheinander. Die Physik des Falls, der Wiederholung und der strengen Verkettung wird durch die kreative Wissenschaft des Zufalls und der Umstände ersetzt.
Weder Gerade noch Kreis; sondern Spirale, Volute, Schnecke.
Die Ordnung der Vernunftgründe ist eine Ordnung der Wiederholung. Das dergestalt verkettete Wissen ist eine Todeswissenschaft. Eine Wissenschaft der toten Dinge und eine Strategie der Tode. Die Ordnung der Vernunftgründe ist eine martialische. Die Welt ist in Ordnung für diese mathematisierte Physik, mit der die Stoiker nach rückwärts an Platon anknüpfen und nach vorwärts auf Descartes verweisen. Und in der schließlich zwischen den Leichenstücken Ordnung herrscht. Die Gesetze sind überall dieselben die thanatokratischen Gesetze. In diesem Wiederholungssystem gibt es nichts zu wissen, zu entdecken, zu erfinden. In dem Parallelen des Identischen gibt es nur den Fall. Nichts Neues unter der Herrschaft desselben. Null Information, nur Redundanz. Die Verkettung der Ursachen, der Fall der Atome, die endlose Wiederholung der Buchstaben: drei Figuren der Null-Wissenschaft. Bestimmung, Identität, Wiederholung, null Information, nicht ein Jota Wissenschaft. Auslöschung, kein Schatten von einem Leben, Tod bei vollendeter Entropie.
Dann regiert Mars, er zerteilt die Körper in Atomstücke, die nur fallen. Foedus fati: Gesetz im Sinn der Physik. So ist es, so sei es, amen. So auch der Sinn der dominanten Gesetzgebung: man will, daß es so sei.
Mars hat diese Physik gewählt, die Wissenschaft vom Fall, die Wissenschaft vom Schweigen.
Serres‘ Kommentar zu Wittgenstein?
Dies ist die Pest: die Epidemie breitet sich aus zur Pandemie, die Gewalt hört nicht auf, sie rieselt den Talweg hinunter, die Atome fallen unablässig, die Vernunftgründe wiederholen sich endlos. Die Beulen, die Waffen, die Miasmen und die Ursachen. Es ist immer dasselbe Gesetz: die Wirkung wiederholt die Ursache, und zwar identisch. Nichts Neues unter der Herrschaft desselben und unter derselben Herrschaft, der konservierten.
Nichts Neues und keine Geburt, keine Natur. Tod, ewig. Tod der Natur, Tod der Geburt! Die Wissenschaft von dem da ist – nichts. Errechenbar nichts. Stabil, unbeweglich, redundant. Sie kopiert dieselben Schriften, mit denselben Buchstaben-Atomen. Das Gesetz, das ist die Pest. Die Vernunft ist, was der Fall ist. Die wiederholte Ursache, das ist der Tod. Das Repetitive ist die Redundanz. Und die Identität ist der Tod. Alles fällt gegen null: Nullität an Information, nichts an Wissen, Inexistenz. Dasselbe: nicht sein.
Der Winkel heilt die Pest, zerbricht die Gewaltkette, unterbricht die Herrschaft desselben, erfindet die neue Vernunft und die neue Satzung, foedera naturae, (er)zeugt die Natur, so wie sie wirklich ist. Der minimale Turbulenzwinkel produziert, da und dort, die ersten spiraligen Voluten. Buchstäblich die Re-Volution. Oder die erste Evolution – zu etwas anderem als demselben. Die Turbulenz perturbiert die Kette. Sie stört den Abfluß des Identischen – wie Venus den Mars verstört hat.
Die ersten Wirbel. Turbantibus aequora ventis: die in einem abfließenden Fluidum - Luft oder Meer - verstreuten Turbulenzen brechen den Parallelismus seiner wieder und wieder holenden Wellen. Sanfte Wirbel der Venus-Physik. Wie kann man sein Herz zurückhalten, wenn man sieht, wie das Meer auf und ab und hin und her schlägt? Wie die ersten Wasser sich formen und bauen. Von dessen Höhen aus man den martialisch geordneten Schlachtreihen entkommt. Von den Höhen aus, die durch das Wissen der Weisen befestigt sind.
Es geht darum, zwischen den beiden Physiken zu wählen.
Der heraklitischen und soldatischen, in Reih und Glied, in Ketten und Sequenzen, in Kolonnen und Divisionen aufgestellten Physik des Krieges, der Rivalität, der Konkurrenz, welche die Finsternisse ihres redundanten Gesetzes zu Tode wiederholt.
Und jener der Turbulenzen, der Sanftheit, der heiteren, vielleicht auch der raffinierten – denn Serres setzt hier das Adjektiv ein, das die Gioconda des Leonardo qualifiziert – Wollust.
Die antike Göttin wird sowohl mit ihrem griechischen wie mit ihrem römischen Namen genannt, bleibt aber nicht unbedingt in die Antike eingesperrt. Serres schreibt seine französische Lukrez-Paraphrasierung im späten 20. Jahrhundert nach Christus, also ein halbes Jahrhundert vor meiner hiesigen Serres-Lukrez-Lektüre-Protokollierung, die übrigens in den Blog namens „Hermesgruppe“ aufgenommen wird, wozu auch noch angemerkt werden darf, daß die Schrift von Serres erst entstanden ist, nachdem er eine Vielzahl von Aufsätzen in mehreren Hermes*-Bänden publiziert hatte. Und wenn ich jetzt diesen Serres lese, merke ich, daß er nicht bloß etwas Antikes referiert, sondern etwas geschrieben hat, was erst im frühen 21. Jahrhundert ganz deutlich und verständlich wird. Das heißt dieser Hermes hört nicht auf, die Sachen hin und her und weiter und weiter zu transportieren – aber nur wenn man selber götterbotenartig, folglich auch götterartig agiert. Zum Göttinnenartigen später.
Serres, der hier nur seine „persönliche“ Paraphrasierung zum besten gibt, zögert auch nicht, seine wirkliche oder angebliche Seefahrer-Erfahrung in seinen Text einzufügen, wenn er schreibt, daß die Seefahrer inmitten der Wirbel arbeiten: sie werden von den langen Wellenlinien hin und her geschleudert, sie werden geworfen, geschlagen, gequält und gefoltert. Aber diese Quälerei ist nur für die Landleute grausam, die die See scheuen. Oh ihr Seeerschütterungen der verwirrten Liebenden! Oh ihr Wolluststöße des Schlingerns auf hoher See!
Hört den Vers, der seine Voluten rollt: suave, ventis, vexari, voluptas! Die Revollution der Wollust!
Venus-Physik gegen Mars-Physik. (136ff.)
Walter Seitter
[1] Diese Rede erinnert mich natürlich an den von mir herausgegebenen Band TUMULT. Schriften zur Verkehrswissenschaft 23: Physiken (1998). Wo also die Physik nicht zum allerersten Mal in den Plural gesetzt worden ist. Für die aktive Mitarbeit daran danke ich Gerhard Grössing. Physiken im Plural - und nicht nur in riesigen epochalen sowie geographischen Distanzen, kann es nur geben, wenn der Begriff der „Erkenntnispolitik“, den Serres mit der „Entscheidung“ andeutet, nicht weit weg ist und das geht nur dort, wo der Paradigmazwang, das Paradigmamonopol keine schlichte Geltung besitzt.
[2] Serres verbindet die Notwendigkeit der Entscheidung zwischen den Physik-Richtungen mit der Tatsache, daß Lukrez sein Lehrgedicht auch in der Hinsicht nicht ganz allein geschrieben hat, daß er es seinem Zeitgenossen, dem Politiker Gaius Memmius, gewidmet hat, um ihm die epikureische Lehre ans Herz zu legen.
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