τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 29. September 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez IX

28. September 2022

 

Wie im Lateinischen voluntas und voluptas so klingen auch im Deutschen die Wollung und die Wollust fast ähnlich, die gemeinsame griechische Schwester ist die elpis, die Hoffnung. Die Etymologie ist die Wissenschaft von der Verwandtschaft zwischen den Wörtern, auch zwischen verschiedenen Sprachen, und ihre genealogische Erkundung geht natürlich auch zurück zu früheren Sprachgebräuchen. Sie geht aber immer von der Gegenwart des Etymologen aus und wird kaum jemals irgendwelche frühesten Sprachen, nicht einmal die erste sogenannte indogermanische, vollumfänglich antreffen und rekonstruieren können. Derartige Einbildungen waren immer schon nur solche -aber deswegen ist nicht die Etymologie überholt, ebensowenig wie irgendeine andere Genealogie (auch nicht eine naturwissenschaftliche Genetik, die übrigens weiter zurückreicht als bis zum Augustinermönch Gregor Mendel).

 

Was wir „Wollust“ nennen, reicht jedenfalls ins Psychische hinein, auch wenn es ans Körperliche gebunden sein mag, und zwar an das Körperliche, das wir als Leibliches, Organisch-Lebendiges bezeichnen.

Die Frage ist, ob und wie die von Lukrez dargelegte Physik, die sich streng genommen als Mikrophysik versteht und daher Wahrnehmung und Beobachtung nach heutiger Auffassung nur mit dem Mikroskop sicherstellen könnte, dem Bereich des Animalisch-Physischen nahekommt. Sie entnimmt ihre Modelle nicht den Festkörpern (die archimedischen Sandkörner bilden da eine Übergangszone) sondern dem Luftigen und dem Flüssigen.

Das eben erwähnte Animalische existiert in den Lebewesen und die werden in der Natur von den diversen Strömungen aus erzeugt, die wiederum durch das clinamen, durch die declinatio, aus der Bahn der strikten Ursachen-Wirkungs-Verkettung abgelenkt werden.

Das Lebewesen, egal, ob mikro- oder mesoskopisch, stört die starre Ordnung der Dinge, es führt eine andere, eine supplementäre Ordnung ein. Lukrez benennt sie mit dem Namen Aphrodite – zweifellos eine „anthropogene“ und eine „anthropomorphe“ Benennung einer Kraft, die über das Menschliche hinausgeht, aber menschenverständlich ist. Zunächst nur eine menschliche Anrufung einer Kraft, eine Theoklesie, dann Theographie, die schließlich zu einer Theologie ausgebaut werden kann – da die Menschen zu den baufreudigsten Tieren gehören. Architektur als übermenschengroße Graphie.

 

Lukrez ist kein Atheist, weil er kein Theist ist. Wohl aber hat er Angst vor den Religionen – erstaunlich, da er doch das Christentum gar nicht kannte. Er hatte vor ihnen Angst, weil sie Angst machen, weil sie ein menschlicher Angsterzeugungsmechanismus sind. Seine Angst war eine politische.

 

Dagegen setzte er seine Physik, die auch die animalischen und die menschlichen Wesen, auch die seelischen und die leidenschaftlichen Bewegungen wissenschaftlich beschreiben und auf gut und weniger gut hin unterscheiden kann.

Der physikalische Zugang zu den Lebewesen mithilfe der declinatio, oder griechisch der Ektropie,  war ein anderer als der aristotelische. Aber das verbindet Aristoteles und Lukrez, daß sie die Lebewesen, die Tiere und die Menschen, mit ihren triebhaften und psychischen, mit ihren rätselhaften und erratischen Bewegungsmöglichkeiten klar und deutlich besprechbar machen. Die Zoologie (und nicht die Theologie) bildet bei Aristoteles faktisch die Hauptdisziplin unter den theoretischen Wissenschaften. 

 

Im epikureischen Brief an Pythokles findet sich die Abhandlung Vom Winkel im Atom, worin die foedera naturae von den foedera fati unterschieden werden.

 

Heute würde man, meint Michel Serres, da von einem „Paradigmawechsel“ sprechen. Die Wissenschaft bleibt Wissenschaft und die Gesetze bleiben die Gesetze. Aber es ändert sich die „Globalübereinkunft“. Man hat das clinamen für einen Fingerschnipser, für eine Fiktion gehalten, wie Cicero. Betrachtet man es von einem anderen Paradigma aus, so erscheint es als ganz anders – nämlich als ein schlichtes Phänomen.

Betrachtet man die Geschichte der Strömungsdynamik, so sieht man, welche Schwierigkeiten die Physiker damit hatten, sich von der Theorie zu lösen und zu den Sachen selbst zurückzukommen.

 

Serres zögert nicht, Edmund Husserls Parole einzusetzen, wo es um die Dramatik der älteren Wissenschaftsgeschichte geht. Überhaupt injiziert er der antiken und der weiteren Philosophiegeschichte die Wissenschaftsgeschichte, weil es darum geht, die Verhaltensweisen zu realen Objekten zu erblicken, zu unterscheiden, zu vergleichen. Diese Verhaltensweisen, sofern sie als Wissenschaften auftreten, nennt man heute „Paradigmen“. Und sie treten nicht nur als Wissenschaften auf, sondern sind bedingend und bedingt verbunden mit anderen, mit noch machtvolleren Aktionsweisen. Eine davon hat Serres als „industrielle Produktionsweise“ bezeichnet.

 

Es ist ebenso schwer, „wieder Phänomenologe zu werden“, wie mit den foedera fati zu brechen. Epikur, Lukrez wechseln das Paradigma aus. Und Michel Serres, nicht als „Anhänger“ der Phänomenologie bekannt, erklärt es hier einfach für unvermeidlich, Phänomenologe zu werden, auch wenn das jetzt, also in den Siebzigerjahren, nicht mehr so modern sei …

Serres erwähnt auch die Frühschrift von Karl Marx Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (1840-41), wo der Paradigmenwechsel bereits zwischen den beiden antiken Philosophen angesiedelt wird und Epikur gegenüber seinem Lehrmeister sowohl die Rolle der sinnlichen Wahrnehmung wie die Macht des Zufalls verstärkt, wie Marx der hegelschen Vergötzung des „Selbstbewußtseins“ zum Trotz herausstellt. Ein Paradigmenwechsel, der mit der Antike anhebt und sich lange durchziehen sollte, enthält zwei Denkmöglichkeiten: Ersetzung eines Paradigmas durch ein anderes oder aber beziehungsweise und irgendwie parallel nebeneinander weiterlaufende Denkhaltungen.

Das neue Wissen ist für stochastische Phänomene aufgeschlossen: incerto tempore incertisque locis bedeutet nicht, daß Zeit und Orte unwichtig werden und sich die Seele über die Wahrnehmungsqualitäten erhebt, sondern daß diese zufallsartig auftreten. Seit Demokrit ist dieses Wissen mit den Problemen des Infinitesimalen befaßt. Es ist durch hydrodynamische Modelle inspiriert und wendet sich der Formierung der lebenden Systeme zu.

 

Die von Serres angedeutete phänomenologische Qualität jenes antiken Paradigmenwechsels geht also Hand in Hand mit einer Zuwendung zu bestimmten Objekten, die auch ohne Mikroskop erfaßt werden können. Und dabei betont Serres den Form- oder Gestaltaspekt, der ja bekanntlich für die aristotelische Physik, die hylomorphistische, unverzichtbar ist.

 

Und dieses Wissen, schreibt er weiter, ist „physikalistischer“, weniger mathematisiert, als das platonische Wissen; es ist „phänomenaler“, „weniger metrisch“ als jenes.

Die Schrift, die ich hier gerade lese und deren Lektüre ich hiermit protokolliere (womit ich mich, wenn ich es nicht schon wäre, zu einem philosophischen Schriftsteller mache (dies als Wink an eventuelle Philosophen, die schreibende Philosophen werden wollen)), bezeichne ich, da ich schon viele Bücher von Serres gelesen habe, als seine frechste, da sie jedweden Paradigmagehorsam eher in Frage stellt. Er formuliert da ungenierter, unvorsichtiger als irgendwo. Jetzt hat er gerade noch eine weitere philosophische Duftmarke aus dem frühen 20. Jahrhundert herbeizitiert und sich zueigen gemacht: den „Physikalismus“, der innerhalb des Wiener Kreises vornehmlich von Otto Neurath (1882-1945) propagiert worden ist.

Die Mars-Natur, die martialische Physik, wird von festen, von harten Körpern gebildet, die venerische Natur und Physik entsteht im Fließenden. Da das Atom unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt, kommt es in der Erfahrung, im Phänomen, im Experiment, auf die große Zahl, die Menge der Elemente, den unzähligen Wasserfall, das Spüren im Fließen an.

Da die fundamentalen Tatsachen der Epikur-Natur in der traditionellen Wissenschaft eher marginal geblieben sind, haben wir sie kaum in die Wissenschaftsgeschichte einbezogen. Ja wir haben ihre Natur eher außerhalb der Natur situiert, irgendwo in der Seele, im Subjekt. Da sie aber das nicht zulassen wollten, wurden sie zur Begründung des „Materialismus“ herangezogen. Die Atome sind keine Seelen – die Seele aber ist atomisch.

Die Gegenpartei versammelte sich unter dem Banner des „Spiritualismus“, mit dem die martialischen Wissenschaften sich ein gutes Gewissen aufbauen konnten.

Wir aber wollen klären, was es mit der lukrezianischen Vertragsänderung auf sich hat. Warum werden die Gesetze der Natur oder die Notwendigkeit des Schicksals foedera genannt: foedera naturae oder foedera fati? Allianzen, Verträge, Pakte? Warum diese politische Terminologie, wozu diese Götternamen in einer Abhandlung, die der objektiven Wissenschaft (!) gewidmet ist und die uns aus der Unterwerfung unter Götter zu einer Weisheit jenseits politischer Ambitionen und Machinationen führen soll?

 

Was die Verwendung der Götternamen betrifft, so kann Serres sie auch mit dem von Georges Dumézil formulierten Modell der Funktionenteilung zwischen magischer und juridischer Souveränität, Krieg und Fruchtbarkeit verständlich machen.[1] In diesem Modell hat jede gesellschaftliche Funktion ihren Platz, um ihre begrenzte Rolle zu spielen. Ein Krieg sollte durch einen Vertrag, womöglich durch eine Allianz beendet werden, um der Fruchtbarkeit ihr Wirken zu ermöglichen.

Es gibt aber auch den Fall, daß der Krieg in totale Zerstörung übergeht, wofür bei Lukrez die Pandemie steht oder aber der verallgemeinerte Kampf gegen die Natur – mythisches Gleichnis: die „Arbeiten des Herkules“. Nach Serres der erste Fall des generalisierten Krieges, der der friedlichen Wirtschaftstätigkeit eine andere Qualität beschert. Und plötzlich eine Formulierung direkt aus den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts: „Hier ist der Arbeiter identisch der Soldat.“

Die industrielle Revolution wird allerhöchste Staatssache, magische und juridische Souveränität konvergieren allerhöchst, Krieg und Fruchtbarkeit konvergieren mit. Serres nennt den französischen Historiker Jules Michelet als denjenigen, der Herakles zu seinem Gott erhoben habe. Aber mit dem einen Satz hat er Ernst Jünger (ohne ihn zu nennen) als den Schriftsteller festgeschrieben, der viel „realistischer“ schreibt als die Surrealisten.[2]

 

Epikur hingegen legt die Waffen nieder. Er spricht, er sagt die neue Allianz mit der Natur. Er beschließt die heraklitische Periode, in der der Krieg der Vater und sogar die Mutter aller Dinge ist, und die Physik unter der Ägide des Ares.

Lukrez kritisiert Heraklit mit Strenge, Empedokles mit Milde: denn dieser Sizilianer hatte mit seiner Einführung der Freundschaft und Liebe das Heraufdämmern des Vertrags herbeigesehen.

 

Gegenüber dem Haß und der Zwietracht, hatte sich bereits Aphrodite fröhlich erhoben. Epikur und Lukrez haben die Waffen beiseite geräumt, haben Mars aus der Physik hinausgescheucht. Können wir das, außerhalb der Mythologie und ihrer Naivitäten verstehen? Ja und im Übermaß.

Zum Hereinbrechen der modernen Wissenschaft, dekretiert Francis Bacon, daß man der Natur nur befehlen kann, indem man ihr gehorcht. Descartes, daß die Menschen ihre Herren und Besitzer zu werden haben. Damit wird der Allianzvertrag gebrochen. Der Krieg wird unabsehbar ausgeweitet, verfeinert und produktiv gemacht – der Krieg gegen die Natur.

Epikur scheitert, ebenso die Aphrodite des Lukrez. Die Methode ist nun eine Strategie und nicht ein Vertrag, eine Taktik und nicht ein Pakt, ein Spiel auf Leben und Tod und nicht ein Koitus. Bei Bacon kehrt Herakles zurück, der die Kolonnen abschreitet, auch die Kolonnen der absolut folgsamen Paradigmafunktionäre; bei Descartes ist es Archimedes, der sich anschickt, die Erde aus den Angeln zu heben. Daher sind die antiken Figuren Personifikationen von Prinzipien und Bedingungen.

In den Elementen des objektiven Wissens wie an seinen historischen Anfängen gibt es eine zumeist nicht wahrgenommene Gemengelage von vorgängigen Entscheidungen. Eine von ihnen lautet: entweder die vertragliche Übereinkunft oder die militärische Strategie. Wer oder was leitet die Wissenschaft, wer entscheidet darüber? Die Antwort darauf kann lauten: Mars oder Venus, Herakles oder Quirinus. Dann scheint sie eine religiöse oder mythologische Antwort zu sein. Die Modernen fragen: was und wie? Und sie antworten: durch Vertrag oder durch Strategie. Und die Zeitgenossen kommen wieder auf die Frage nach dem Wer zurück: die Klasse der Produzenten oder die Klasse der Herrschenden? Lukrez nennt bedeutungsgeladene Namen; Descartes und Bacon nennen metaphorisch schillernde Prinzipien. Serres selber behauptet, als Historiker zu sprechen – und als solcher erwähnt er auch die anderen Sprechweisen. Das gehört zum historischen Handwerk und vor allem gehören zu den jeweiligen Verhaltensweisen oder Entscheidungen auch „entsprechende“ Sprechweisen, weil alle Dinge, Ereignisse und so weiter irgendwie erscheinen müssen, entweder mehr wahr oder mehr trügerisch. Dafür haben Michel Foucault und Jacques Lacan auch den Begriff Diskurs eingeführt, den man allerdings im Deutschen besser vermeidet, weil er da eine andere semantische Nuance aufweist.

Es geht um Möglichkeitsbedingungen der Wissenschaft, die Serres als Entscheidungszwänge beurteilt. Davon gibt es verschiedenartige, höchstwahrscheinlich gehört die Alternative zwischen „wahr“ und „trügerisch“, Wille zur Wahrheit oder eben nicht - auch dazu.

Dem Willen zur Wahrheit steht aber nicht nur die offensive Lüge entgegen, sondern auch ein paar raffiniertere erkenntnispsychologische Verhalten. Wie etwa die Alles- und Besserwisserei, die es immer gegeben hat, die aber in letzter Zeit an Beliebtheit zugenommen hat, und die vielleicht eine Spielart des Hochmutes ist: gescheiter sein als alle - wer sich auf diesen Einbildungsweg begibt, dem wird ein starkes „Selbstbewußtsein“ zufallen. Allerdings hat schon Sokrates bemerkt, daß er als der Dümmste davonkommen wird.

In Sachen Natur geht es darum, ob sie als Feindin, Sklavin, Gegnerin oder als Partnerin eines Vertrages gesehen wird, den Lukrez unter den Schutz der Venus stellen würde. Dabei handelt es sich nicht um eine naive, leichtfertige Angelegenheit. Sondern um eine mit Konsequenzen. Wird das Wissen den Weg der Zerstörung, der Gewaltsamkeit und der Pest gehen oder den des Friedens, des Genießens? Leben oder Tod - das ist die Frage. Das ist der Schrei des Lukrez, den unser Wissen, Serres meint damit unsere heutige und globale Wissenschaftskultur, wieder hört. Damit scheint er zu unterstellen, daß irgendeine Wissenschaftskultur diesen Frageschrei schon einmal gehört hat.

 

Wenn ich in der apriorischen Entscheidungsstruktur, die zu so etwas wie „Erkenntnispolitik“ zwingt, zur Alternative Leben – Tod die andere Alternative Wahrheit – Unwahrheit hinzufüge beziehungsweise sie darüberstelle, dann mag es zwar sein, daß die Wahrheit dem Leben nähersteht als dem Tod, aber identisch müssen sie nicht sein.

 

In der dumézilschen Funktionenteilung steht die Souveränität über dem Gegensatz zwischen Fruchtbarkeit und Krieg. Daher scheint mir die von Eric Voegelin aus Platon herausgeschriebene Trias von Eros, Thanatos, Dike ein gute Kurzfassung der vorgängigen Entscheidungsstruktur. Sie spricht mit den beiden Polen Eros und Thanatos der Natur ein Übergewicht in dem Spielfeld zu, verengt es aber nicht auf einen feindseligen Dualismus, sondern mit der Dike wird der Aspekt des Vertrages, den Serres in späteren Büchern würdigen sollte und der mit der Wahrheit strukturell verwandt ist, hervorgehoben.[3] Eine schlichte Identifizierung von Venus und Dike entspricht - soll ich sagen: leider ? – nicht den Erfahrungen.

 

Nun weiter Serres zu den erkenntnispolitischen Vorbedingungen der Wissenschaft. Diese „orientieren“ zwar die Wissenschaft – doch deren Theoreme und Protokolle (!) bleiben von jenen Entscheidungen unberührt.

 

Darin liegt ein schwieriges Problem: ein rigoroses und exaktes Wissen soll durch Venus oder durch Mars auf diesen oder auf jenen Weg geführt worden sein. Die Wissenschaft soll so oder so bedingt, gerichtet sein, gleichzeitig sind ihre Ergebnisse unabhängig von ihren sozialen oder geographischen Entstehungen.

Nehmen wir einmal an, für eine bestimmte Wissenschaft gelten bestimmte Methoden oder Vorgangsweisen. Was aber wird durch jene dazukommenden oder vielmehr unterschwellig wirksamen Bedingungen oder Entscheidungen bewirkt? Diese Bedingungen sind Weichenstellungen, die die Kartographie der Wissenschaft prägen: ihre Disposition, die Verteilung ihrer Glieder, die Strukturierung ihres Raumes, ihre globale Form und ihr lokales Relief.

 

Diese „topografische“ Dimension der Erkenntnispolitik kommt ohne jede Polarisierung zwischen „gut“ und „böse“ aus. Darin trifft sie sich mit einer anderen, die als banal gelten kann. Es ist der Zwang, sich die Gegenstände der wissenschaftlichen Erkenntnis selber wählen zu können. Macht man Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft – oder Wirtschaftswissenschaft? Und innerhalb dieser weiträumigen Gebiete: welche Spezialisierung wählen? Innerhalb der vorgegebenen Spezialisierung: welche Schwerpunkte wählen? Bereits definierte Schwerpunkte oder solche, die man selber definiert, weil man sie für wichtiger, interessanter, gewinnbringender hält? Für welche Art von Gewinn?

 

Mit diesen Fragen kann man an den Rand eines schon bestehenden Paradigmas geraten, an den Rand eines Paradigmagehorsams beziehungsweise -ungehorsams. Und damit vielleicht auch in eine Grauzone zwischen den von Serres benannten Wissensorientierungen.

 

Eine neuerdings akut gewordene erkenntnispolitisch „kritische“ Zone ist diejenige, in der das „Subjekt“ der Wissenschaft oder Philosophie sich zum Objekt machen will oder nicht will oder kann oder nicht kann.

Das Subjekt, das man wohl nicht anders denn als „Mensch“ bezeichnen kann – es sei denn, man stellt auch diese Notwendigkeit in Abrede, weil man dem modisch gewordenen anti-anthropologischen Affekt verfallen ist.

Der ist im 20. Jahrhundert von Martin Heidegger, Jacques Lacan oder Michel Foucault ausgerufen worden. Neulich fragte ich eine Philosophin, ob sie für ein Buchprojekt namens „Anthropographie“ einen Beitrag liefern wolle. Ihre Antwort bezog sich nicht unmittelbar auf den Titelvorschlag „Anthropographie“, vielmehr hat sie ihre Bedenken damit begründet, daß sie eher „post-anthropologisch“ oder „post-humanistisch“ denke.

Diese Option in der Gegenstandswahl hat neuerdings einen Auftrieb bekommen, der mit dem Begriff „Anthropozän“ umschrieben werden kann, welcher doch wohl eine globale Machtsteigerung des Menschen gegenüber – gegenüber wem? – indiziert. Aber er tut das, indem er das Begriffselement „Mensch“ in sich hineinnimmt.

Wer das bisherige Serres-Lukrez_Protokoll gelesen hat, wird feststellen, daß diese Problematik ihm – dem Protokoll – keineswegs fremd ist. (138ff.)

 


Walter Seitter


[1] Siehe dazu Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 18: Georges Dumézil - Historiker, Seher (1993); sowie Walter Seitter: „Ist das Politische am Ende? Zum gegenwärtigen Schicksal der indoeuropäischen Trifunktionalität Souveränität-Krieg-Fruchtbarkeit (Dumézil-Foucault)“. In: Bilder-Fotonachrichten 48 (1989)

[2] Siehe Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung (1930); Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932)

[3] Siehe Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik (München 1966): 59, 324; Plato’s myth of the Soul (München 2001): 9ff.

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