τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 10. September 2022

Sommer-Dichter-Lektüre: Serres – Lukrez VI

 7. September 2022

 

Serres plädiert dafür, die alten „Meteorologien“ wieder zu lesen: die der jonischen Naturphilosophen, die von Platon, Aristoteles, der Renaissance-Gelehrten. Hinzufügen könnte man auch die des Albertus Magnus (1200-1280). Die Meteorologie laut Serres ist die Wissenschaft von heute, von morgen.

 

Sie ist jedoch aus dem Reich des Wissens vertrieben worden, als die Wissenschaftler sich auf die alte Idee des Gesetzes festgelegt haben. Der absoluten Kontrolle, der Herrschaft ohne Wenn und Aber. Doch die Zeit der Meteore, also der Himmelserscheinungen wie Kometen, Blitz, Donner, Wirbelwind, Regenbogen und Wolken ist eben eine andere, für die wir das verharmlosende Wort „Wetter“ einsetzen. Dabei geht es um eine Ordnung der Unordnung, des Unvorhersehbaren, des lokalen Zufalls.

 

Daher hat sich die Physik in die Kammer zurückgezogen. Das Laboratorium und das ganze geschlossene System bewahren vor den Turbulenzen. Die Wissenschaft hat sich eingesperrt, sie flüchtet vor den Meteoren zum warmen Herd. Und sie verläßt diese Einschließung nicht mehr, die den Zufall und das Unkontrollierbare ausschließt – wir sagen heute: die Hyperkomplexität.

 

Lukrezens Physik ist draußen. Die unsrige ist es wieder. Die alten geschlossenen Systeme sind Abstraktionen oder Ideale. Die Zeit der Öffnung ist jetzt gekommen, es ist wieder Zeit für den vormodernen Lukrez, und für die Sprengung der Entropie-Schließung, der thermodynamischen oder vielmehr metaphysischen.[1] Die natura rerum weist uns den Weg, hinaus ins Unwetter und in den Regen. Zu den Überschwemmungsgebieten des Nils.

 

Vorbei die Lobreden auf Athen, das fruchtbare und sprießende, bevor es von der Pest heimgesucht worden ist. Das Buch VI, das von den Meteoren handelt, greift auf die Theorie der Vase zurück. Der Körper ist eine Vase, welche die Seele als ein noch subtileres Fluidum enthält. Dieses Gefäß ist zunächst ein Modell. Da die Seele noch fluider ist als das Wasser, der Nebel, der Rauch, da sie eine Wolke ist, die ständig von den Simulakren beeindruckt wird, müssen wir Verbindungen zwischen den Wogen und den Festkörpern konzipieren wie den Verbindungsknoten oder den Reibungswiderstand. Andere Objekte, andere Modelle konstruieren. Die Vase ist konstruierbar, sie modelliert fluide Verbindungen. Sie ist ein hydraulisches Becken, ein Springbrunnenbecken. Sobald man die Vase schüttelt, spritzt und rinnt die Flüssigkeit heraus. Und das Becken kann Risse bekommen, porös ist es immer, und sein Inhalt tritt aus. So löst sich die subtile Seele durch die Risse des Körpers, der ein weniger fluides Gewebe ist, in der Luft und im gesamten Raum auf. Daher die Träume, der Tod.

Es ist eine stilistische Konstante bei Lukrez, also ein physikalisches Gesetz, daß die Ausfließung eine Auseinander-, eine Zer-, eine Verfließung ist. Denn die lateinischen Wörter diffluere, discedere, diffundere, dissolvere tun genau dies: die Atomisierung annähwerungsweise vorführen, eine unmögliche Mikrophysik ohne Mikroskop doch realisierbar machen. Das alles ist doch möglich, weil auch die festen Dinge sich abnutzen, zerfallen und sich ausbreiten, Wolken bilden und so weiter.

 

Die Vase also ist selber porös, sie ist selber ein offenes System und einem Automaten mit innerem Milieu an Komplexität weit überlegen. Das beseelte Fluidum tritt aus, zerstreut sich und flieht. Vom lokalen zum globalen Offenen. Überall und zufällig kehrt die Seele in die Welt und ins Chaos zurück. Sie ist sterblich – sie stirbt „physikalistisch“, löst sich auf. Sie kann zwar ohne den Körper nicht leben, der ihr Spritzbrunnenbecken ist, welches ihr für eine gewisse Zeit eine Konzentrierung ermöglicht.[2]

 

Aber die Vase ist selber ein Fluten – wenngleich ein festeres und dichteres. Bis es irgendwann der Pulverisierung, der Atomisierung (eigentlich der „Tomisierung“) anheimfällt, den Prozessen, die mit der Vorsilbe dis- eingeleitet werden und die sich im Gesang häufen wie ein physischer Sturzbach, die Zertrümmerung der Gefäße durch Windwirbel und Unwetter, die Abnutzung der Statuen unter den Lippen, die ihre Füße küssen, das Weitereilen des ganzen Gedichtes hin zur Pest von Athen, die Neigung des Textes, der Fall der Atome, der Wasserfall der Buchstaben. All das galt für offene Systeme. Daher ist Lukrezens Gedicht für den langen Zwischenakt der klassischen und der modernen Physik außer Gebrauch gekommen. [3]

Und jetzt ist der Morgen für sein Wiedererwachen gekommen.

Gefäße bilden fast feste aber offene Systeme, die Zuflüsse und Abflüsse ermöglichen. Auch die Simulakren, also Zeichen und Zeichensysteme, akustische und visuelle, gehen da ein und aus. In die Menschen dringt der Wein ein, der das Gewebe der Venen flutet, aber auch die noch subtilere philosophische Lehre Epikurs. Wer sein Wort und seine Schrift von den physikalischen oder materialistischen Gesetzen ausnimmt, wäre ein schlechter Materialist, meint Serres. Durch den Körper wandern Wellen von Nahrung und Getränk, von Eros oder Wahrnehmung, von intellektueller Information. Epikur ist die Quelle eines Flusses, der in meinen Körper mündet. Er kann ihn aber auch wieder verlieren – aufgrund der Undichte der Wände oder wegen eines Lochs, das in den Boden geschlagen worden ist. Aber gar keinen Boden kann ein Becken nicht gehabt haben, sonst wäre es kein Becken. Ein Gefäß ohne Boden – sowas wäre höchstens eine sexuelle oder metaphyische Träumerei. (!) Serres spielt da auf eine schlechte „klassische“ Lukrez-Übersetzung an, die den Sexus eskamotiert, und er betont, das Lehrgedicht beginne mit einem Gebet an Aphrodite und es empfehle bestimmte Positionen, die den Samenverlust hintanhalten.[4]

 

Ich versuche, den oftmals lyrischen, manchmal jubilatorischen, gelegentlich auch schnoddrigen Duktus wiederzugeben, mit dem Serres den Text des Lukrez paraphrasiert, wobei er die Ausführungen zu einer weit ausholenden Physik mit Andeutungen zu einer überraschenden Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik verbindet. Diese werden in späteren Passagen weitergeführt werden und müssen daher jetzt fragmentarisch bleiben.

Da er seine Erklärungen und Deklarationen auch mit Götternamen bestückt, ist es nicht unpassend sondern supplementär, wenn meine Protokollierung der Lektüre des Buches fallweise ein amerikanisches Venus-Foto appropriiert oder auf eine künstlerisch-theopoietische Aktion im Weinviertel verweist.

 

Es lassen sich aber schon ein paar wichtige Punkte resümieren:

 

Von der Antike bis zur Renaissance „herrschte“ in den Naturkunden eine Paradigmen-Gemengelage, die im 17. Jahrhundert geschlossen wurde. Es folgte der „klassisch-moderne“ Zwischenakt. Damit wurde ein rigider Gesetzes-Begriff etabliert, der den Zufällen keinen Raum ließ. Die Zone zwischen der vulkanträchtigen Erdkruste und den Himmelsniederschlägen wie Blitzen oder Schneeflocken, eine qualitativ bestimmte Zone von unkontrollierbaren Vorgängen, die ehedem den „Meteoren“ zugedacht war, wurde der Aufmerksamkeit entzogen. Die ziemlich unordentliche antike Elementen-Lehre wurde verabschiedet, doch unter der Hand, nämlich in den Techniken, sind die beiden gewaltträchtigeren Elemente Wasser und Feuer präferiert worden. Ergebnis ist der Industrialismus – eine sehr wirksame Option, die Serres mit dem mythischen Kriegsgott Mars assoziiert, der damit über Aphrodite und Venus gesiegt habe. Aber nicht unbedingt endgültig. Auf der Theorie-Ebene verbindet Serres mit dem klassisch-modernen Zwischenakt die Fixierung auf die Entropie. Für die Gegenwart das heißt für die Zukunft - aber dafür muß man weiterlesen.

 

Da der Protokollant alles ins Protokoll setzt, was er darein setzen will, will ich auch nicht verschweigen, daß es mir nicht leicht gefallen ist, diese kleine holprige Resümierung zu formulieren, die immerhin einen Umsturz in der europäischen Wissenschaftsgeschichte andeutet.

 

 

Serres schiebt auf Seite 96 ein Diagramm ein, das die lukrezianische Epistemologie schematisch zusammenfassen soll. Im Zentrum des Diagramms ein Viereck, dessen Seiten aus gegeneinander orientierten Linien bestehen, das mir jedoch gar nicht klar zu sein scheint. Ich habe sogar den Eindruck daß da „agrégation“ und „désagrégation“ verwechselt werden. Im freien Fall durch Schwerkraft bilden sich Stabilitätsinseln oder -verdichtungen, die nur temporär Bestand haben. Dafür setzt Serres den Begriff „Dynamisches Gleichgewicht“ oder „Fließgleichgewicht“ ein.[5]

 

Serres reformuliert dann einige Erklärungen, die vielleicht doch etwas Klarheit schaffen.

 

Er meint, die lukrezianische „déclinaison“ sei für die klassischen und modernen Physiker ein Skandal gewesen, da sie Universalität der Gesetze breche; da sie die geschlossenen Systeme aufbreche; da sie die Gesetze der Physik unter die Herrschaft der Ausnahme setze; unter das schützende Dach des bestimmten Winkels. Aber so ist es eben, und Lukrez hat recht.

Er hatte bereits die Revolution durchgeführt, die von den heutigen Wissenschaftn praktiziert und von der Philosophie weiterhin ignoriert wird. Wenn der freie Fall universal ist, wenn sein Gesetz keine Ausnahme duldet, dann wird jede Konstruktion unmöglich: dann gibt es keine Welt, dann kann es keine Physik geben. Und das trifft auch für die geschlossenen Systeme zu.

 

Nun ist es aber so, daß es doch zumindest etwas und für einige Zeit gibt. Zum Beispiel diesen Kieselstein da, auch wenn er immer nur den Talweg hinunterrollt, wenn er einen findet.[6]

Oder dieses Haus, errichtet mit der Kraft meiner Hände. Oder den glatten Leib dieser Frau. Und die Welt unter der Sonne.

Unsere Wissenschaft sagte, ohne es wirklich zu wissen, das darf es nicht geben, das ist unmöglich.

Mit einer Vernunft, die sich dem Todestrieb und der Chaosneigung ergeben hat. Und gemäß der jeder Diskurs unmöglich ist.[7]

Tatsache ist, schreibt Serres, daß du sprichst und daß ich verstehe. Und ich schreibe dazu, daß das zumindest manchmal passiert. Und ich schreibe noch dazu, daß ich all das hier schreibe, auch wenn es nur ein Protokoll ist, und daß es unmöglich ist, daß nichts davon verstanden wird.

 

Also gibt es offene Systeme. Also gibt es Ausnahmen von der Regel. Also gibt es eine Natur, gibt es Natalität, Geborenwerden, Gebären. Es gibt die Wasserspritzer, die zufällig gestreuten Turbulenzen, die unsicheren Orte, die unwahrscheinlichen Zeiten, die Singularitäten, die gerade jetzt geboren werden.

 

Und in der Nähe der Gebäranstalten immerzu der allgegenwärtige Tod.

 

Im strengen und im statistischen Sinn gibt es ohne die Natur keine Physik. Ohne die Natur, ohne die Geburt, die Öffnung, die Ausnahme, ohne das Wunder, den Abstand.

 

Die Wissenschaft ist nicht mehr in der Ordnung, wenn Ordnung Gleichgewichtszustand heißt und Tod und Chaos.

Sie ist vielmehr im Außerordentlichen. Die Wissenschaft ist zur Gänze ein Organon des Mirakels und der Diskurs ist ein mirakulöser.

Die Wissenschaft ist nicht eine Sache des Generals, pardon, jetzt habe ich doch wohl eine Übersetzungsvariante gewählt, die zwar ebenso richtig ist wie die eher zutreffende: sie ist nicht das Allgemeine, sondern das Rarste, das Rarissimum. Der Diskurs ist nicht etwas Ordentliches; Sinn und Zeichen sind Ausnahmen.

 

Und die Minimalbedingung dieser Verschiebung, im Vergleich zu der die kopernikanische Revolution nur ein Kinderspiel war, ist die „declinatio“.

Die atomistische Physik ist eine Kritik der geschlossenen Vernunft. Nein, nicht eine Kritik, sondern eine Architektonik mit Scheinlot auf ständiger Flucht des Stabilen.

 

Sie ist keine Kritik, sondern eine Klinik. Das Stabile flieht, nur das Instabile hält. Das clinamen.

 

Es gibt zwei Naturgesetzlichkeiten. Das Gesetz des Todes, wonach alles dem Gleichgewichtszustand zuströmt. Und die stochastisch verteilte Ausnahme, in der das Fluten abbiegt, zu einem Wirbel wird, sich diversifiziert, sich lokal verdichtet und ein zeitweilig stabiles weil instabiles Aggregat errichtet. Unter geneigtem Dach, wo die Balken sich biegen. Das Gebälk zeichnet die Welt, die sich neigt. (Siehe 85ff.)

 

*

 

Da passiert heute etwas Unvorhergesehenes. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet von einem kürzlich aufgetauchten Liebesgedicht Martin Heideggers - irgendwann aus dem 20. Jahrhundert. Rosarotes Papier, deutsche Schreibschrift, gewidmet einer Frau, mit der Heidegger durch viele Jahrzehnte hindurch in Briefwechsel stand. Darin spricht Heidegger davon, daß ein Flügelschlag des Gottes Eros ihn jedesmal berühre, wenn er im Denken einen wesentlichen Schritt tue.

 

Michel Serres hat Heidegger kaum geschätzt, aber er hat die Anrufungen oder die Einwirkungen bestimmter Gottheiten mit bestimmten Weggabelungen assoziiert, die nicht nur im Denken einzelner sondern im Agieren ganzer Zivilisationen entscheiden.

 

Die rosarote Farbe, die heute in der Zeitung abgebildet ist, ist eine ähnlich artifizielle Erscheinung wie irgendeine gewagte architektonische Konstruktion, die jemandem gefallen kann oder sogar nützlich sein kann. So eine Farbe kann auch von irgendeiner Venus aufgetragen, getragen und vorgetragen werden – aber so, daß sie einschlägt wie ein Blitz.

 

 

Walter Seitter

 




[1] Daß Serres hier das geschlossene System, das der Entropie zum Endsieg verhelfen würde, als „metaphysisch“ etikettiert, mag überraschen, verwundern, befremden. Jedenfalls im hiesigen Rahmen, nämlich dem Protokoll, das den Obertitel „In der Metaphysik lesen“ trägt, der wiederum auf sein Hauptobjekt, nämlich die aristotelische Metaphysik, zurückgeht.

Wichtiger ist, daß er damit, (wie üblich) ohne sie mit ihrem übrigens lukrezianischen Namen zu nennen, die Ektropie aufruft.

[2] Gelegentlich setze ich das ältere Wort „Spritzbrunnen“ ein, um dem Lied „Der Spritzbrunnenaufdreher“ von Karl Valentin und Liesl Karlstadt die gebührende Textautoritätsanerkennung zu erweisen. Solche notorischen Nicht-Philosophen haben mir schon mehrmals Lichter aufgesetzt – etwa für die Physik der Autobahn.

[3] „Klassisch“ und „modern“ – diese Epochenbezeichnungen beziehen sich einerseits auf das sogenannte „klassische Zeitalter“, andererseits auf die „modernen Zeiten“. Beide zusammen erstrecken sich vom Anfang des 17. Jshrhunderts bis irgendwann ins 20. Jahrhundert hinein – und bilden dennoch für Michel Serres nur einen „Zwischenakt“ in der Physik.

[4] Wie aus dem Lektüre-Protokoll zu Hermann von Kärnten hervorgeht, kann sogar ein mönchischer Schriftsteller des 11. Jahrhunderts von solchen Dingen mehr Ahnung gehabt haben, als ihm mancher im 21. Jahrhundert zutraut.

[5] Begriffe, die von dem österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy (1901-1972) geprägt worden sind.

[6] Da scheint Serres auch an die „Einführung in den Kieselstein“ von Francis Ponge zu denken. Von dem habe ich vor einem Jahr in dieser Sommer-Dichter-Lektüre das „Sonnenbuch“ gelesen und in seinem „Tischbuch“ fand ich den Hinweis auf Lukrez, der die Moral nicht auf die Metaphysik gegründet habe, sondern nur auf die Physik.

[7] Hier eine kleine Fußnote einfach von mir – zu der unaufhörlichen Begeisterung fürs Schweigen und Schweigenmüssen, dem sich alle unterwerfen müssen, die eine höhere Vernunft für sich beanspruchen. Doch ihre Namen verschweige ich, denn ich will sie ja nicht festlegen auf ihre Begeisterung.

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