τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 28. März 2015

In der Metaphysik lesen (vor Ostern)

Anteskriptum 1:

Die Vortrags- und Diskussionsveranstaltung am 26. März „Zum Problem des Widerspruchs“ hat viele Aspekte zur Sprache gebracht. Für mich war das Hauptergebnis die Notwendigkeit einer Unterscheidung, die auf der Veranstaltung selber kaum durchgeführt wurde. Beim „Widerspruch“, der laut „Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch“ zu vermeiden ist, handelt es sich um einen „Selbstwiderspruch“: jemand sagt, vielleicht unabsichtlich, etwas und gleichzeitig das Gegenteil. Nach Aristoteles soll das vermieden werden, weil damit nichts gesagt wird. Und wenn nichts gesagt wird, sind Rede und Gegenrede blockiert. Zu unterscheiden sind also der genannte „Widerspruch“ und die „Widerrede“, die Gegenrede, die hoffentlich nicht ausgeschlossen wird. Philosophie und Politik und manches andere leben davon.

Anteskriptum 2:

Die Hermesgruppe, von der wohl nur bekannt ist, dass sie etwas macht – nämlich zur Zeit das Lesen „In der Metaphysik“ (in welchem Buch mehrmals die Frage auftaucht, ob „Hermes im Stein“ ist (vielleicht ist diese Frage der Anstoß zu der großen Textmasse)), kaum aber, wie viele Mitglieder sie zählt, beziehungsweise ob sie so recht eigentlich überhaupt existiert, hat nun eine Art Kollegen oder Kollegin bekommen.
Mit dem Namen HER, der außerdem besagen will: Hermetic Experimental Research. Der Philosoph Andreas L. Hofbauer (Wien/Berlin) und der Künstler René Luckhardt (Berlin) bezeichnen sich als „Hermetisches Labor“ oder als „Hermetikerin“. Sie haben neulich eine Art Manifest herausgegeben: HER (Wien 2014). Darin heißt es unter anderem: „The female is the altar and the priest(ess).“

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Zunächst kommen wir auf die beiden unterschiedlichen Antworten zurück, die Aristoteles auf seine Frage gibt, welche Linie die „einste“, also die einheitlichste sei. Im Abschnitt über die Kontinuen (als Typen von Einheit) sagt er, die gerade Linie sei die am meisten eine. Und als Begründung verweist er auf die damit gegebene Einheit der Bewegung. Zwei Seiten später sagt er, die Kreislinie sei die einheitlichste. Begründung: sie ist ganz und vollkommen. Diese Antwort fügt sich in einen anderen Einheitstyp ein: die Form, das Wesen, die Ganzheit. Und zwar ist das ein höherer oder stärkerer Einheitstyp. Er rekurriert auf die Wesensform, die Aristoteles von Platon übernommen hat (bei dem sie allerdings noch stärker in Richtung Vollkommenheit „idealisiert“ wird).

Beide Antworten können auch von uns noch nachvollzogen werden, ohne dass wir antike Theoreme heranziehen. Die Erscheinungen der beiden Linien sind so prägnant, dass sie uns zwei Gestalten vor Augen führen, zwei einprägsame Charaktere. Wie gesagt worden ist: die gerade Linie ist die kürzeste Verbindung zwischen mehreren Punkten, sie ist die einheitlichste aufgrund einer mathematisch-mechanischen Betrachtung. Die Kreislinie hingegen macht nur Umwege von Punkt zu Punkt, aber sie erreicht eine Form von ganz anderer Art (die übrigens auch wieder mathematisch definiert werden kann).

Aristoteles reflektiert nicht darauf, dass er diese beiden einander ausschließenden Antworten gibt. Ob er es überhaupt bemerkt hat? Irgendwer in seiner Schule wird es sicher bemerkt haben und vielleicht daraus einen Einwand gemacht haben. Aristoteles kann den Einwand zwar mit dem Hinweis „einerseits – andererseits“ abgewehrt haben. Doch im Text gibt es keine Erklärung dazu und so bleibt da ein gewisser „Widerspruch“ stehen. Widerspruch ist also irgendwie doch zugelassen: Selbstwiderspruch in einem Text. Widerrede ist sowieso zugelassen – sie gehört ja zu einer Hauptmethode der Philosophie: zum Diskutieren. Und meine Widerrede habe ich eben durchgeführt. Der kann wiederum widerredet werden.

Da Aristoteles die Eigenschaft „ein“ in den Superlativ setzt, kommen wir noch einmal auf den Unterschied zwischen steigerbaren (minderbaren) und nicht-steigerbaren Bestimmungen zurück. Aus der lateinischen Aristoteles-Rezeption des Mittelalters habe ich ja neulich einen Satz herzitiert, der die Minderung von „menschlich“ in Abrede stellt.

In jenem Satz wird „menschlich“ als substanzielle Bestimmung aufgefasst und da gibt es kein Mehr oder Weniger. Alle anderen Bestimmungen sind steigerbar (minderbar) – also alle akzidenziellen. Und sogar die transzendentalen Eigenschaften wie „seiend“, „ein“. Deren parallel-laufende Steigerbarkeit (oder Konvertibilität) mag uns merkwürdig erscheinen, weil sie zu sehr allgemeinen Hierarchisierungen führt. Aber irgendwelche Hierarchisierungen werden sowieso vollzogen – und da ist es besser, man weiß darum, als dass man sie rein unbewußt vollzieht. Unbewußtes Tun ist nämlich keineswegs ein besseres.

Eine Substanz wie Wein (wir setzen das als Beispiel – unabhängig davon, ob die antike Physik oder die moderne Chemie damit einverstanden sind) ist mit Steigerungen und Minderungen vielfältiger Art kombinierbar: sauer, weniger sauer, fruchtig, fruchtiger, gut, weniger gut .... Das sind lauter akzidenzielle Variationen – die aber sowohl für den Genuß (Gebrauchswert) wie auch fürs Geschäft (Tauschwert) sehr wichtig, ja entscheidend sein können. Akzidenziell heißt nicht unbedingt „unwichtig“. „Substanzielle“ Steigerungen würden lauten: weinhaft, weinhafter, noch weinhafter. Wein, Weiner, Weinst. Gibt es so etwas? So wohl nicht. In gewissem Sinn aber doch bei der Weinentstehung, die ja ein paar Monate lang und mit einigen Zwischenstufen vor sich geht: und zwar der Übergang von Nicht-Wein über Fast-Wein zu Wein. Aber wenn die Wesensform „Wein“ erreicht ist, gibt es nur noch akzidenzielle Variationen.

Schlechter Wein (allerdings auch zuviel guter Wein) kann dazu führen, dass dem Weintrinker schlecht wird. Wir haben es jetzt mit zwei Substanzen zu tun: eine Substanz W und eine Substanz M. Das „Schlecht-Werden“ vollzieht sich an der Substanz M. Ist das nun eine substanzielle Änderung? Keineswegs bzw. hoffentlich nicht. Selbst wenn die Substanz M ernsthaft erkranken würde und wenn sich daraus medizinische oder finanzielle Komplikationen ergeben würden, wären das „nur“ akzidenzielle Veränderungen. Wer solche Änderungen für „substanziell“ erklärt, darf das natürlich tun – aber er verabschiedet sich vom aristotelischen Begriff. Der aristotelische Substanzbegriff bezeichnet nicht alles mögliche Wichtige oder Dramatische. Das Dramatische zunächst überhaupt nicht – denn „Drama“ ist eine Kombination aus Akzidenzien (an Substanzen).

Der aristotelische Substanzbegriff hat nun aber leider die komplizierende Eigenschaft, dass er im Doppelaspekt auftritt. Erste Substanz ist ein existierendes Individuum mit einer bestimmten Wesensform. Zweite Substanz ist: nur so eine Wesensform. Diese Aspekte können auch im Deutschen beide mit „Wesen“ bezeichnet werden, aber die Zweideutigkeit gibt es auch da. Wir haben darüber schon ausführlich gesprochen und gesagt: Wesen, Wesenheit. „Erste Substanz“ ist also gar nichts Geheimnisvolles oder Rares. Sowas kommt massenhaft vor, millionenhaft ist untertrieben, man denke an die vielen Leute, Bakterien, Sterne, Insekten, vielleicht sogar Bücher – lauter Erste Substanzen. Zweite Substanzen gibt es nicht ganz so viele – denn das sind die Typen. Die aristotelischen Kategorien haben viel Präzises, manchmal vielleicht auch Chaotisches, aber wenig Mysteriöses. Aristoteles war ein analytischer Philosoph.

Was müsste geschehen, damit aus dem Genuß von schlechtem Wein mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen doch eine substanzielle Veränderung resultiert? Der einfachste Fall: Tod der Person, also Ende von Substanz M. Oder aber Substanz M1 (Sophia) verwandelt sich in Substanz M2 (Gesche). Tatsächlich eine substanzielle Veränderung? Die Wesensform Mensch bliebe ja erhalten. Doch unter dem Gesichtspunkt der Ersten Substanz, also der individuellen, wäre das eine substanzielle Änderung. Doch eine Änderung der Wesensform wäre eine substanzielle im vollen Sinn des Wortes. Wenn aus der Substanz M eine Substanz F (Fuchs) würde. Gilles Deleuze schwärmte vom Tier-Werden; doch soviel ich weiß, hat er das zu Lebzeiten nicht vollbracht. Wohl aber lässt sich sagen, dass aristotelisch gesprochen jeder Mensch als Gattungswesen schon, d. h. a priori, ein Tier ist – nicht ein Fuchs oder ein Schmetterling sondern eben ein Mensch-Tier. Aristoteles sagt es gelegentlich so flapsig: wenn Mensch und Pferd und Gott gleichermaßen zoon ist (woraus auch erhellt, dass Aristoteles den Menschen weniger von der Theologie aus denkt, sondern eher Gott von der „Zoologie“ aus).

Läßt man den Wein bei bestimmten Luftbedingungen und Temperaturen lange stehen, so wird daraus bestimmt schlechter Wein – und irgendwann „kippt“ der Wein und es wird so etwas wie Essig draus. Setzen wir Essig als ein anderes Wesen, so hat sich damit eine substanzielle Änderung vollzogen.

Jetzt gehen wir vom Normalfall des genussreichen und unschädlichen Weintrinkens aus. Was passiert da? Der Wein dringt in den Körper ein, die Verdauungsorgane bearbeiten ihn. Die Substanz W wird innerhalb der Substanz M transformiert – zu was? Zur Substanz M und ein Rest wird als Exkrement ausgeschieden. So geschieht es mit allen aufgenommenen Nahrungsmitteln: also Substanz W oder Substanz B (Brot). Es vollzieht sich innerhalb weniger Stunden eine echte substanzielle Veränderung, besser gesagt eine doppelte: eine in Substanz M und eine in Substanz E (Exkrement).

Im Mittelalter haben die aristotelischen Theologen dafür die treffende Bezeichnung „Transsubstantiation“ gefunden. Aber nicht für die normale Nahrungsaufnahme haben sie sie erfunden, sondern für die kultisch-sakramentale Wandlung, die mit den Substanzen Brot und Wein und bestimmten Wörtern auf dem Tisch namens Altar durchgeführt wird: „Dies ist mein Leib“, „Dies ist mein Blut“. Dieser Leib und dieses Blut, beide künstlich hergestellt zu dem Zweck, dass sie dann von Menschen gegessen und getrunken und in sie verwandelt werden. Begründet wurde dieses Ritual am „Gründonnerstag“ des Jahres 33 von demjenigen, in dessen Fleisch und Blut seither Brot und Wein verwandelt werden. Sicherlich, das geschieht nur für die, die daran glauben; aber diejenigen, die daran glauben, glauben an substanzielle Wandlungen. Es ist gut, wenn diejenigen, die glauben, wissen, was sie glauben.

Nächste Sitzung: Mittwoch, 8. April 2015.

Walter Seitter


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Sitzung vom 25. März 2015 

Donnerstag, 19. März 2015

In der Metaphysik lesen (1016b 12 – 18)

Anteskriptum:

Wissenschaftszuwachs für Wien

Der Schweizer Philosophiehistoriker Christophe Erismann erhielt vom Europäischen Forschungsrat eine an die Universität Wien gebundene Projektförderung über die frühmittelalterliche Pflege der aristotelischen Logik durch griechische, lateinische, syrische und arabische Gelehrte. 
Beim Lateiner handelt es sich um den aus Irland stammenden und im heutigen Frankreich tätigen Scotus Eriugena (815-877), der als Neuplatoniker gilt und die griechische Philosophie mit der christlichen Theologie zu vermitteln suchte. Sozusagen trotzdem hat er die aristotelische Logik sehr scharf analysiert und auch ihre ontologischen Konsequenzen in einer Weise formuliert, die ihresgleichen sucht.

Erismann zitiert in einem Aufsatz folgenden Eriugena-Satz: „Nullus homo alio homine humanior est.“[1]

Dieser Satz sperrt sich gegen so manche moderne Sentimentalitäten – die allerdings die traurige Eigenschaft haben, dass sie still und leise Sexismus und Rassismus und ähnliche Entgleisungen auf den Weg bringen. Hierzu erinnere ich an die deutsche Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die im Jahre 2014 von „Halbwesen“ und „zweifelhaften Geschöpfen, halb Mensch, halb künstlichem Weißnichtwas“ sprach, wobei sie sich auf jetzt lebende Menschen bezog, die ihr Leben sogenannten nicht natürlichen Zeugungsmethoden verdanken (aber doch wohl natürlichen Keimzellen). Im 18. Jahrhundert musste sich der deutsche Aufklärungsphilosoph(!) Christoph Meiners (1747-1810) immerhin um ein paar hundert oder tausend Kilometer nach Osten versetzen, um die mongolischen Völker als „Mittelwesen zwischen den Europäeern und den unvernünftigen Thieren, oder als eine Art von Halbmenschen“ einzustufen.

Der zitierte lateinische Satz geht direkt auf eine Passage in den aristotelischen Kategorien zurück(3b – 4a), welche doch im allgemeinen modernen Bewusstsein nur als scholastisch und längst überholt gelten. Tatsächlich formuliert er eine notwendige logische und sogar ontologische Voraussetzung für die politischen Errungenschaften, die wir für unsere kulturellen Optionen beziehungsweise für gültige Normen halten.

Im Unterschied zu Wesenheiten können akzidenzielle Bestimmungen mit den Vorzeichen „mehr“ oder „weniger“ auftreten: ein Mensch kann eifriger sein als ein anderer oder als er selber früher war; er kann sogar ganz uneifrig sein, dann wird man ihm eine positive Eigenschaft zusprechen, die auf demselben Parameter das Gegenteil darstellt, zum Beispiel: faul. Möglicherweise wird man jedem Menschen einen Grad auf dem Parameter „Arbeitsfreude“ zusprechen. Andere Parameter wie etwa Hautfarbe sind bei allen Wesen mit Haut notwendige Akzidenzienparameter – mit nicht-notwendigen Farbnuancen.


In der Metaphysik lesen (1016b 12 – 18)

Aristoteles setzt wiederum mit einem „subjektiven Faktor“ ein, formuliert ihn aber jetzt nicht mehr mit einem theoretischen Begriff wie logos oder noesis, sondern umgangssprachlich, indem er sich und seine Zuhörer als Subjekte des subjektiven Faktors setzt – das Wort „Subjekt“ kommt ja aus der Grammatik: wir nennen Eines ... ein Quantum oder ein Kontinuum. So bereits in 1016a 1. Doch jetzt zieht er diese Zusage zurück und behält sie dem Ganzen vor, das eine Form hat. Womit er die Passage 1016a 32 – 1016b aufgreift. Am Beispiel von „Schuhzeug“ unterscheidet er zwischen bloß irgendwie Zusammengeleimtem und der Einheit der Schuhform.

Das folgende Beispiel aus der Geometrie schließt anscheinend direkt daran an. Doch indem er die Kreislinie als die „einste“ von allen Linien bezeichnet, indem er den Superlativ von „ein“ bildet, verlässt er die mit dem Wesen verbundene Alternative von „Wesen“ und „Nicht-Wesen“. Eigenschaften, die im Positiv, Komparativ oder Superlativ auftreten, fallen gewöhnlich unter die Akzidenzien: süß, süßer, noch süßer .....  Der Kreislinie spricht er den Superlativ zu, weil er da die einfache Eigenschaft von Ganzheit und Vollkommenheit unterstellt. Eine platonisierende Wesensunterstellung für den Superlativ – siehe dazu Luigi Segalerbas „Stufenontologie“ vom 25. Februar. In 1016a 12 hat Aristoteles allerdings die unterschiedlichen Formen der Linie bezüglich der Einheit andersherum bewertet.

Abgesehen von dieser inneraristotelischen Unklarheit wird die Einheit dennoch nicht als akzidenzielle Eigenschaft gelten können und schon gar nicht als eine Wesenheit. Sondern als eine „transzendentale“ Eigenschaft, die allen Entitäten zukommt – aber stufenweise je nach dem Grad der Seiendheit: ens et unum convertuntur.


Postskriptum:

Im Buch IV hat Aristoteles hartnäckig und verbissen den „Satz vom Widerspruch“ gegen Vorsokratiker und Sophisten verteidigt – allerdings gibt es den dort explizit gar nicht ...

Am Donnerstag, dem 26. März 2015, findet um 18.30 Uhr im Hörsaal 3E im NIG, Universitätsstr. 7, eine Vortrags- und Diskussionsveranstaltung
                                                                           Zum Problem des Widerspruchs

statt. Leitung: Werner Gabriel.


Walter Seitter


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Sitzung vom 18. März 2015 



[1] Zit. in: Christophe  Erismann: The logic of Being: Eriugena’s Dialectical Ontology, in: J.Marenbon (Hg.): Vivarium 45: The Many Roots of Medieval Logic: The Aristotelian and the Non-Aristotelian Traditions (Leiden 2007): 217. 

Freitag, 13. März 2015

In der Metaphysik lesen (1016b 8 – 11)

Das Kapitel über das Eine gehört insofern in die Ontologie, als die Einheit eine Eigenschaft ist, die jedem Seienden als solchem zukommt (also eine „Transzendentalie“: „ens et unum convertuntur“). Aristoteles fragt, wieso und inwieweit diese Eigenschaft verschiedenartigen Entitäten zukommt, und er beginnt bei solchen, bei denen es mit der Einheit nicht besonders gut aussieht. Erstes Beispiel: Verbindungen von Substanz mit Akzidenzien. Zweites Beispiel: Kontinuen mit Ausdehnung. Drittes Beispiel: mehrere Dinge, die nur das gemeinsam haben, dass sie aus demselben Material bestehen (oder gar auf einen einzigen Urstoff zurückgeführt werden können). Viertes Beispiel: viele Dinge, die immerhin derselben Gattung angehören (etwa Lebewesen). Fünftes Beispiel: Dinge, die durch ein einheitliches Wesen zusammengeh alten werden. Meint er damit – analog zur Gattung – alle Dinge, die derselben Art angehören oder doch eher das Einzelding, das durch ein bestimmtes Was-Sein bestimmt ist? Diese Einheit wäre zweifellos die selbstverständlichste, aber auch die stärkste von allen bisher erwähnten. Er meint wohl diese.
Denn der nächste Typ von Einheit deckt sich sachlich mit dem zuerst genannten: der Verbund aus Substanz und Akzidenzien. Dem wird dann wieder die reine Wesenseinheit gegenübergestellt (doch differenziert nach Kontinuität und Art). Und erst jetzt die Gegenbegriffe zum Einen: die Tätigkeit des Zählens und das Wort „pleio“: mehrere.
Mit der Tätigkeit des Zählens schließt Aristoteles die Reihe der subjektiven kognitiven Leistungen ab, die den jeweiligen Objekten zugeordnet sind:

aisthesis:                                   hyle

logos legon, noesis noousa:                  to ti en einai

arithmein:                                   pleio                     


PS.: Vortrag
Aristotle’s Rejection of Virtue Ethics
Prof. Terence Irwin (Oxford)
Montag, 16. März. 2015, 18 Uhr
NIG, 2. Stock, Hörsaal 2G
Universitätsstr. 7
1010 Wien


Walter Seitter


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Sitzung vom 4. März 2015 

Freitag, 6. März 2015

In der Metaphysik lesen (1016a 17 – 1017a 7)

Das Kontinuum, welches die zweite Bedeutung des Begriffes „ein“ (oder die zweite Verwendung des Begriffs) begründet hat, spielt sich innerhalb des Akzidens „Quantität“ ab.
Eine weitere Begriffsbedeutung (oder -verwendung) von „ein“ wird durch Unterschiedslosigkeit im Substrat veranlasst, worunter Aristoteles das Material versteht, wie aus den Beispielen (Wasser, Wein) hervorgeht und aus der erkenntnistheoretischen Bestimmung: wo bei einer Zerlegung kein qualitativer Unterschied für die Sinneswahrnehmung entsteht: wenn bei der Zerteilung von Wasser immer Wasser übrigbleibt, hat man es mit dem einheitlichen Stoff „Wasser“ zu tun. Wie schon in 1015a 9ff. erwähnt Aristoteles auch hier die Möglichkeit, dank dem Schmelzprozeß zu einem Urstoff „Wasser“ aufzusteigen, den wir eher als den Aggregatzustand „Flüssigkeit“ bezeichnen würden. Damit wäre eine sehr weitreichende, geradezu universale „Einheit“, erreicht.
Eine andersartige Begründung, viele Dinge als „eines“ zu bezeichnen, sieht Aristoteles, wenn sie einer gemeinsamen Gattung angehören. Er nennt übrigens auch die Gattung ein „Substrat“ – aber ein logisches, und er vergleicht ausdrücklich den Stoff und die Gattung bezüglich ihrer Einheitsstiftungsfunktion. Verschiedenartige Lebewesen – darunter auch der Mensch – bilden „eines“ aufgrund der gemeinsamen Gattung. Man könnte hier von einer Parallele  zu Darwin sprechen, auch wenn Aristoteles die „Verwandtschaft“ nicht als Nacheinander sondern als Nebeneinander betrachtet.

Und wie beim Stoff spricht Aristoteles auch bei der Gattung vom Aufstieg zu umfassenderen Gemeinsamkeiten, woraus sich noch größere Einheitsbildungen ergeben.
Fünftens werden Dinge „eines“ genannt, wenn der Logos ihr Was-Sein (Was(es war)Sein) so aussagt, daß er es ununterscheidbar vom einen wie vom anderen darlegt. Das heißt wohl: Dinge, denen die Wesensform oder Wesensart gemeinsam ist, sind „eines“. Eine Selbstverständlichkeit, wenn sogar die gemeinsame Gattungsform, die ja etwas Dünneres ist, dies bewirkt. Bemerkenswert, wie das Besitzen der Wesensform auf subjektartige Aktivitäten zurückgeführt wird: einmal sozusagen tautologisch mit logos legon sowie mit „die Sache darlegend“. Und außerdem wird der Sachverhalt ausdrücklich auf ein Erkenntnisvermögen zurückgeführt – wie das ja auch schon bei den Materialien der Fall war: aisthesis. Vielleicht ist aber mit noesis gar nicht bloß das Erkenntnisvermögen gemeint, sondern der Erkenntnisvollzug – der im Deutschen zumeist mit „Denken“ wiedergegeben wird. Besser aber vielleicht mit Erfassen, Verstehen, Erfassung. Dazu kommt, daß dieser Ausdruck, so wie oben logos, mit dem entsprechenden Partizip Präsens nicht nur verdoppelt, sondern ausdrücklich „verbalisiert“ wird: die das Was-Sein erfassende Erfassung. Noesis noousa – eine beinahe feierliche um nicht zu sagen jubelnde Formel. Spielt sie etwa auf eine ähnlich klingende und viel berühmtere Formel an? Also doch ein tiefsinniger Text? Erinnern wir daran, daß noesis laut Hermes-Motto keineswegs das Ganz Andere zur aisthesis ist.

Walter Seitter


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Sitzung vom 4. März 2015