Anteskriptum
1:
Die Vortrags-
und Diskussionsveranstaltung am 26. März „Zum Problem des Widerspruchs“ hat
viele Aspekte zur Sprache gebracht. Für mich war das Hauptergebnis die
Notwendigkeit einer Unterscheidung, die auf der Veranstaltung selber kaum
durchgeführt wurde. Beim „Widerspruch“, der laut „Satz vom (ausgeschlossenen)
Widerspruch“ zu vermeiden ist, handelt es sich um einen „Selbstwiderspruch“:
jemand sagt, vielleicht unabsichtlich, etwas und gleichzeitig das Gegenteil.
Nach Aristoteles soll das vermieden werden, weil damit nichts gesagt wird. Und
wenn nichts gesagt wird, sind Rede und Gegenrede blockiert. Zu unterscheiden
sind also der genannte „Widerspruch“ und die „Widerrede“, die Gegenrede, die
hoffentlich nicht ausgeschlossen wird. Philosophie und Politik und manches
andere leben davon.
Anteskriptum
2:
Die
Hermesgruppe, von der wohl nur bekannt ist, dass sie etwas macht – nämlich zur
Zeit das Lesen „In der Metaphysik“ (in welchem Buch mehrmals die Frage
auftaucht, ob „Hermes im Stein“ ist (vielleicht ist diese Frage der Anstoß zu
der großen Textmasse)), kaum aber, wie viele Mitglieder sie zählt,
beziehungsweise ob sie so recht eigentlich überhaupt existiert, hat nun eine
Art Kollegen oder Kollegin bekommen.
Mit dem Namen
HER, der außerdem besagen will: Hermetic Experimental Research. Der Philosoph
Andreas L. Hofbauer (Wien/Berlin) und der Künstler René Luckhardt (Berlin)
bezeichnen sich als „Hermetisches Labor“ oder als „Hermetikerin“. Sie haben
neulich eine Art Manifest herausgegeben: HER (Wien 2014). Darin heißt es
unter anderem: „The female is the altar and the priest(ess).“
<>
Zunächst
kommen wir auf die beiden unterschiedlichen Antworten zurück, die Aristoteles
auf seine Frage gibt, welche Linie die „einste“, also die einheitlichste sei.
Im Abschnitt über die Kontinuen (als Typen von Einheit) sagt er, die gerade
Linie sei die am meisten eine. Und als Begründung verweist er auf die damit
gegebene Einheit der Bewegung. Zwei Seiten später sagt er, die Kreislinie sei
die einheitlichste. Begründung: sie ist ganz und vollkommen. Diese Antwort fügt
sich in einen anderen Einheitstyp ein: die Form, das Wesen, die Ganzheit. Und
zwar ist das ein höherer oder stärkerer Einheitstyp. Er rekurriert auf die
Wesensform, die Aristoteles von Platon übernommen hat (bei dem sie allerdings
noch stärker in Richtung Vollkommenheit „idealisiert“ wird).
Beide
Antworten können auch von uns noch nachvollzogen werden, ohne dass wir antike
Theoreme heranziehen. Die Erscheinungen der beiden Linien sind so prägnant,
dass sie uns zwei Gestalten vor Augen führen, zwei einprägsame Charaktere. Wie
gesagt worden ist: die gerade Linie ist die kürzeste Verbindung zwischen
mehreren Punkten, sie ist die einheitlichste aufgrund einer
mathematisch-mechanischen Betrachtung. Die Kreislinie hingegen macht nur Umwege
von Punkt zu Punkt, aber sie erreicht eine Form von ganz anderer Art (die
übrigens auch wieder mathematisch definiert werden kann).
Aristoteles
reflektiert nicht darauf, dass er diese beiden einander ausschließenden
Antworten gibt. Ob er es überhaupt bemerkt hat? Irgendwer in seiner Schule wird
es sicher bemerkt haben und vielleicht daraus einen Einwand gemacht haben.
Aristoteles kann den Einwand zwar mit dem Hinweis „einerseits – andererseits“
abgewehrt haben. Doch im Text gibt es keine Erklärung dazu und so bleibt da ein
gewisser „Widerspruch“ stehen. Widerspruch ist also irgendwie doch zugelassen:
Selbstwiderspruch in einem Text. Widerrede ist sowieso zugelassen – sie gehört
ja zu einer Hauptmethode der Philosophie: zum Diskutieren. Und meine Widerrede
habe ich eben durchgeführt. Der kann wiederum widerredet werden.
Da Aristoteles
die Eigenschaft „ein“ in den Superlativ setzt, kommen wir noch einmal auf den Unterschied
zwischen steigerbaren (minderbaren) und nicht-steigerbaren Bestimmungen zurück.
Aus der lateinischen Aristoteles-Rezeption des Mittelalters habe ich ja neulich
einen Satz herzitiert, der die Minderung von „menschlich“ in Abrede stellt.
In jenem Satz
wird „menschlich“ als substanzielle Bestimmung aufgefasst und da gibt es kein
Mehr oder Weniger. Alle anderen Bestimmungen sind steigerbar (minderbar) – also
alle akzidenziellen. Und sogar die transzendentalen Eigenschaften wie „seiend“,
„ein“. Deren parallel-laufende Steigerbarkeit (oder Konvertibilität) mag uns
merkwürdig erscheinen, weil sie zu sehr allgemeinen Hierarchisierungen führt.
Aber irgendwelche Hierarchisierungen werden sowieso vollzogen – und da ist es
besser, man weiß darum, als dass man sie rein unbewußt vollzieht. Unbewußtes
Tun ist nämlich keineswegs ein besseres.
Eine Substanz
wie Wein (wir setzen das als Beispiel – unabhängig davon, ob die antike Physik
oder die moderne Chemie damit einverstanden sind) ist mit Steigerungen und Minderungen
vielfältiger Art kombinierbar: sauer, weniger sauer, fruchtig, fruchtiger, gut,
weniger gut .... Das sind lauter akzidenzielle Variationen – die aber sowohl
für den Genuß (Gebrauchswert) wie auch fürs Geschäft (Tauschwert) sehr wichtig,
ja entscheidend sein können. Akzidenziell heißt nicht unbedingt „unwichtig“.
„Substanzielle“ Steigerungen würden lauten: weinhaft, weinhafter, noch weinhafter.
Wein, Weiner, Weinst. Gibt es so etwas? So wohl nicht. In gewissem Sinn aber
doch bei der Weinentstehung, die ja ein paar Monate lang und mit einigen
Zwischenstufen vor sich geht: und zwar der Übergang von Nicht-Wein über
Fast-Wein zu Wein. Aber wenn die Wesensform „Wein“ erreicht ist, gibt es nur
noch akzidenzielle Variationen.
Schlechter
Wein (allerdings auch zuviel guter Wein) kann dazu führen, dass dem Weintrinker
schlecht wird. Wir haben es jetzt mit zwei Substanzen zu tun: eine Substanz W
und eine Substanz M. Das „Schlecht-Werden“ vollzieht sich an der Substanz M.
Ist das nun eine substanzielle Änderung? Keineswegs bzw. hoffentlich nicht.
Selbst wenn die Substanz M ernsthaft erkranken würde und wenn sich daraus
medizinische oder finanzielle Komplikationen ergeben würden, wären das „nur“
akzidenzielle Veränderungen. Wer solche Änderungen für „substanziell“ erklärt,
darf das natürlich tun – aber er verabschiedet sich vom aristotelischen
Begriff. Der aristotelische Substanzbegriff bezeichnet nicht alles mögliche
Wichtige oder Dramatische. Das Dramatische zunächst überhaupt nicht – denn
„Drama“ ist eine Kombination aus Akzidenzien (an Substanzen).
Der
aristotelische Substanzbegriff hat nun aber leider die komplizierende
Eigenschaft, dass er im Doppelaspekt auftritt. Erste Substanz ist ein
existierendes Individuum mit einer bestimmten Wesensform. Zweite Substanz ist:
nur so eine Wesensform. Diese Aspekte können auch im Deutschen beide mit
„Wesen“ bezeichnet werden, aber die Zweideutigkeit gibt es auch da. Wir haben
darüber schon ausführlich gesprochen und gesagt: Wesen, Wesenheit. „Erste
Substanz“ ist also gar nichts Geheimnisvolles oder Rares. Sowas kommt
massenhaft vor, millionenhaft ist untertrieben, man denke an die vielen Leute,
Bakterien, Sterne, Insekten, vielleicht sogar Bücher – lauter Erste
Substanzen. Zweite Substanzen gibt es nicht ganz so viele – denn das sind
die Typen. Die aristotelischen Kategorien haben viel Präzises, manchmal
vielleicht auch Chaotisches, aber wenig Mysteriöses. Aristoteles war ein
analytischer Philosoph.
Was müsste
geschehen, damit aus dem Genuß von schlechtem Wein mit negativen
gesundheitlichen Auswirkungen doch eine substanzielle Veränderung resultiert?
Der einfachste Fall: Tod der Person, also Ende von Substanz M. Oder aber
Substanz M1 (Sophia) verwandelt sich in Substanz M2 (Gesche). Tatsächlich eine
substanzielle Veränderung? Die Wesensform Mensch bliebe ja erhalten. Doch unter
dem Gesichtspunkt der Ersten Substanz, also der individuellen, wäre das eine
substanzielle Änderung. Doch eine Änderung der Wesensform wäre eine
substanzielle im vollen Sinn des Wortes. Wenn aus der Substanz M eine Substanz
F (Fuchs) würde. Gilles Deleuze schwärmte vom Tier-Werden; doch soviel ich
weiß, hat er das zu Lebzeiten nicht vollbracht. Wohl aber lässt sich sagen,
dass aristotelisch gesprochen jeder Mensch als Gattungswesen schon,
d. h. a priori, ein Tier ist – nicht ein Fuchs oder ein Schmetterling sondern
eben ein Mensch-Tier. Aristoteles sagt es gelegentlich so flapsig: wenn Mensch
und Pferd und Gott gleichermaßen zoon ist (woraus auch erhellt, dass
Aristoteles den Menschen weniger von der Theologie aus denkt, sondern eher Gott
von der „Zoologie“ aus).
Läßt man den
Wein bei bestimmten Luftbedingungen und Temperaturen lange stehen, so wird
daraus bestimmt schlechter Wein – und irgendwann „kippt“ der Wein und es wird
so etwas wie Essig draus. Setzen wir Essig als ein anderes Wesen, so hat sich
damit eine substanzielle Änderung vollzogen.
Jetzt gehen
wir vom Normalfall des genussreichen und unschädlichen Weintrinkens aus. Was
passiert da? Der Wein dringt in den Körper ein, die Verdauungsorgane bearbeiten
ihn. Die Substanz W wird innerhalb der Substanz M transformiert – zu was? Zur
Substanz M und ein Rest wird als Exkrement ausgeschieden. So geschieht es mit
allen aufgenommenen Nahrungsmitteln: also Substanz W oder Substanz B (Brot). Es
vollzieht sich innerhalb weniger Stunden eine echte substanzielle Veränderung,
besser gesagt eine doppelte: eine in Substanz M und eine in Substanz E
(Exkrement).
Im Mittelalter
haben die aristotelischen Theologen dafür die treffende Bezeichnung
„Transsubstantiation“ gefunden. Aber nicht für die normale Nahrungsaufnahme
haben sie sie erfunden, sondern für die kultisch-sakramentale Wandlung, die mit
den Substanzen Brot und Wein und bestimmten Wörtern auf dem Tisch namens Altar
durchgeführt wird: „Dies ist mein Leib“, „Dies ist mein Blut“. Dieser Leib und
dieses Blut, beide künstlich hergestellt zu dem Zweck, dass sie dann von
Menschen gegessen und getrunken und in sie verwandelt werden. Begründet wurde
dieses Ritual am „Gründonnerstag“ des Jahres 33 von demjenigen, in dessen
Fleisch und Blut seither Brot und Wein verwandelt werden. Sicherlich, das
geschieht nur für die, die daran glauben; aber diejenigen, die daran glauben,
glauben an substanzielle Wandlungen. Es ist gut, wenn diejenigen, die glauben,
wissen, was sie glauben.
Nächste
Sitzung: Mittwoch, 8. April 2015.
Walter Seitter
--
Sitzung vom 25. März 2015
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