14. Dezember 2022
Das hiesige Aristoteles-Lesen insgesamt dauert
jetzt seit Anfang 2007 an, das hiesige Metaphysik-Lesen seit Anfang 2011, also
seit 12 Jahren. Recht viel länger dürfte Aristoteles an diesem Text, dessen
schriftliche Überlieferung von derartiger Unsicherheit gezeichnet ist, daß
allgemein angenommen wird, er sei vom Autor gar nicht fertigredigiert worden,
vielleicht nicht geschrieben haben.
Die im Buch enthaltene Angabe, es handle sich
dabei um eine „Theologie“, trifft nur ganz geringfügig zu; die den meisten
Platz einnehmende Ontologie wird zwar begrifflich definiert (Anfang von Buch
IV), aber nicht auf die Teile begrenzt, in denen sie tatsächlich zur Ausführung
kommt. Das Buch enthält zwar zwei längere Listen, eine Aporienliste und ein
Begriffsverzeichnis, aber es fehlt ihm eine stimmige Angabe seines
Gesamtinhalts.
Zur neulich aufgeworfenen Frage, ob Aristoteles
Wissenschaft macht oder Philosophie, kann gesagt werden, daß er mit Platon zu
denen gehört, die die abendländische Wissensordnung in dem Sinn begründet
haben, daß jemand, der Kunsthistoriker ist, aus logischen Gründen
notwendigerweise „auch“ Wissenschaftler ist. Speziell ist er Kunsthistoriker,
generisch ist er Wissenschaftler. Der logische Aufbau aus Gattung und Art hat
sich nun einmal im Abendland und das heißt – vorläufig – weltweit durchgesetzt.
Wenn wir Philosophen sind und das zur Kenntnis
nehmen, sind wir gewissermaßen „Analytische Philosophen“ (wenn wir wollen).
Ich selber bezeichne mich als Philosoph und daher
logisch vorrangig als Wissenschaftler. Daß ich mich innerhalb der Philosophie
als Physiker bezeichne, Philosophischen Physiker, das ist eine Sache meiner
persönlichen und philosophischen Idiosynkrasie.
Daß das Buch XIII unvermittelt mit einer hartnäckigen
Kritik an der pythagoreischen bzw. platonischen Geometrie- und
Algebra-Auffassung einsetzt, bestätigt den Eindruck einer mangelhaften
Organisation des dargebotenen Stoffs.
Was nun diese Kritik selber betrifft, so habe ich
im letzten Protokoll die Ansicht geäußert, ihre Stoßrichtung ziele auf eine
Aussage, die weit über die Mathematik hinausgehe. Meine Rede von der
„Stoßrichtung“ verdeutlicht dabei etwas, was mit „Kritik“ eigentlich schon
gesagt ist: daß nämlich die Aussagen, die auf der Ebene des Kognitiven liegen,
auch mit dem Volitiven zu „tun“ haben: sie sind selber Wollungen, Handlungen,
Aktionen und sie begnügen sich nicht damit, irgendwelche Aussagen zu
kritisieren. Vielmehr affirmieren sie andere schon gemachte Aussagen, nämlich
den Aussagenkomplex im Buch XI 1064a 29 – 1064b 14.
Darin werden vier bestimmte Wissenschaften – für
Aristoteles zählen nur Wissenschaften (mit allerdings sehr unterschiedlichen
und grundsätzlich wichtigeren Themen) – aneinander gerückt und in ihrem
Verhältnis zueinander festgelegt.
Nämlich die drei theoretischen Wissenschaften
(Physik: bewegliche und abgetrennte Dinge; Mathematik: Bleibendes und nicht
Abgetrenntes; Theologie: Unbewegtes und Abgetrenntes) und dazu noch die
Wissenschaft, die gewissermaßen jenseits der aristotelischen Wissensordnung
steht (oder vielmehr in ihrem jenseitigen Diesseits), nämlich die im Buch IV
sorgfältig definierte Wissenschaft vom Seienden als Seienden, die allgemeinste
Wissenschaft.
Wie verhalten sich diese vier Wissenschaften
zueinander? Mit ihren positiven bzw. negativen Eigenschaften gehören die drei
ersten logisch gesehen eng zusammen, während die Ontologie alle diese
Eigenschaften thematisiert und ordnet. Es sieht so aus, als wäre sie die
Metawissenschaft in dem neulich besprochenen Sinn (der übrigens von Alfred Tarski
(1901-1983) maßgeblich definiert worden ist).
Physik, Mathematik, Theologie bilden eine Reihe.
Wenn die Physik als die erste Wissenschaft von den existierenden Dingen und
Ursachen sich als unvollständig erweisen sollte, stellt sich die Frage, welche der
anderen Wissenschaften als notwendige Ergänzung oder Vollendung in Frage kommt.
Die Mathematik mit ihren bekannten Formen und Gesetzen oder aber die Theologie
mit einer mehr oder weniger aus der Religion übernommenen Lehre von einer noch
höheren Wirklichkeit oder aber die Ontologie mit ihrem Überblick über sämtliche
Wirklichkeitsstufen?
Oder etwa eine poietische Wissenschaft als
Anleitung zur Anfertigung von vollkommenen Dingen oder eine praktische
Wissenschaft zur Verbesserung zwischenmenschlicher Verhältnisse?
Wohlgemerkt die beiden zuletzt genannten
Möglichkeiten werden von Aristoteles gar nicht, jedenfalls hier nicht, in
Erwägung gezogen – da müßte man sich vielleicht bei Nietzsche oder Kant oder ?
umschauen.
Aristoteles entscheidet sich dann für die
sogenannte Theologie, und zwar deswegen, weil sie ihm auf der Linie der Physik
zu liegen scheint: beide sind Wissenschaften von real Existierendem. Auf dieser
Linie hält er es sogar für angemessen, abermals von „Natur“ zu sprechen: es
würde sich dabei um eine „andere Natur“ handeln: eine stofflose, körperlose,
unwahrnehmbare. Wohl aber eine denkbare, das heißt eine erkennbare, ja wissbare
und höchst gewisse. Ja, um eine denkende Natur. Cogitatio cogitationis.
Und um eine begehrbare, bewunderbare, erstrebbare Natur. Ja, um eine permanent
lustvolle, eine mangellos begehrende, eine durch und durch sich freuende Natur.
Außerdem um eine lebendige. Also um eine ziemlich anthropomorphe (aber ich weiß
nicht, ob Aristoteles das gern hören würde).
Da es sich dabei um eine frühere Natur handelt,
nennt Aristoteles die entsprechende Wissenschaft eine allgemeine Wissenschaft,
obwohl sie doch nur von einer einzigen Natur handelt. Aber diese Natur ist
derart früher, ursächlich wirksam, Mitursache aller Dinge überhaupt, daß die
entsprechende Wissenschaft auch eine allgemeine ist. Frage, welche Wissenschaft
die allgemeinere ist: die vom Seienden als Seienden oder diese von der
früheren, von der frühesten, also ersten Natur?
Diese „andere Natur“ wäre nicht irgendeine
andere, nicht eine ganz und gar andere Natur. Sondern eine „Heteronatur“ – eine
Steigerung der Natur, eine gesteigerte Natur. Eine Natur mit ungefähr gleichen
Eigenschaften, Vorzügen, Leistungen – aber eben gesteigerten.
Diese Natur wäre eine suchbare weil schon
gesuchte.
Gesucht ist sie, da Aristoteles ihre Erkenntnis
im Buch I zunächst der „gesuchten Wissenschaft“ (983a 20) zuordnet, womit er
die bescheidenste, die minimalste, aber doch schon ordentliche Bezeichnung
wählt.
„Gesuchte Wissenschaft“ statt oder als
„Metaphysik“.
Mit der Bezeichnung als Wissenschaft stellt er
sie neben alle schon bekannten Wissenschaften, die vorhin genannten und die
anderen.
Als „gesuchte Wissenschaft“ stellt er sie unter
die schon gegebenen Wissenschaften wie Medizin, Astronomie und so weiter. Sie
hingegen muß erst zusammengebastelt, entwickelt, durch Aporien, Irrtümer,
Sackgassen, Illusionen hindurch durchgekämpft werden. Sie sollte schließlich,
um den Titel „Wissenschaft“ zu verdienen, übersichtlich, kohärent, irgendwie
vollständig durchgeführt werden. Auf jeden Fall muß sie erarbeitet werden. Als
wir im Buch III die Liste der Aporien gelesen haben, ist uns, wenn wir
aufmerksam gelesen haben, aufgefallen, daß Aristoteles darauf insistiert, die Aporien
sollten durchquert, durchgearbeitet und so „aufgelöst“ werden, und nicht
handstreichartig erledigt werden. Damit hatte sich Aristoteles, trotz seines
Verständnisses für die Sklavenhaltung auf die Seite der Arbeitenden gestellt
(allerdings der denkenden, also der sehenden, der sagenden und schreibenden
Arbeiter).
Immerhin setzt die gesuchte Wissenschaft voraus,
daß es Suchende gibt. Zumindest den einen, der von gesuchter Wissenschaft
spricht bzw. schreibt. Aber der – nämlich Aristoteles – hat zumindest einen
gefährlichen illusionären Irrweg schon vermieden. Nämlich den solistischen,
monopolistischen und fanatischen, der die gewünschte oder versprochene
Erkenntnis allein für sich und von sich beansprucht, allein sich selber als
Erkenntnisträger anpreist. Mit dem ersten Satz des Buches werden alle Menschen
als Erkenntnissucher behauptet und mit schlichten geradezu kindlichen
Beispielen auch an ihre eigenen Erfahrungen erinnert. Der Leser des ersten
Satzes darf sich direkt angesprochen fühlen und sich selber fragen, ob es
stimmt, daß auch er nach Wissen strebt. Und er wird eingeladen, durch sein
Lesen und Weiterlesen die Frage performativ zu bejahen.
Womöglich durch hartnäckiges, aber auch
geduldiges Lesen mit Weiterfragen, Nachdenklichkeit oder und Gesprächigkeit.
Der Protokollschreiber kann, sofern er auch sonst
schon philosophisch geschrieben hat, jetzt eine andere, vielleicht banalere,
eine niedrigere philosophische Schreibweise erproben. Die es ihm erlaubt, die
Nacherzählung philosophischer Lektüre und Lektüregespräche mit anderen
Eindrücken und Erfahrungen zu komponieren.
Immerhin habe ich am 9. März 2022 die niedrigere Schreibweise
des Aristoteles-Protokolls zu einer litaneiartigen Paraphrase seiner Beschreibung
des Permanenten Motors (UB) erhoben.
Mag sein, daß da noch weitere
postprotokollarische oder paraprotokollarische Schreib- oder Zeichenarbeiten,
also Graphiken oder Graphismen, nachgeliefert werden müssen, die das
Verständnis der Paranatur, auch ihre Assoziierung mit dem Wort „Gott“,
plausibilisieren könnten.
An dieser Stelle ein Einschub zu einem real schon
existierenden Paraprotokoll. Das ist dasjenige, das Karl Bruckschwaiger seit
über einem Jahr zu Hermann von Kärnten anfertigt. Eine Parallelaktion, die ich
vorgeschlagen habe, damit die Aristoteles-Lektüre nicht zu schnell „fertig“
wird. Und obendrein liefert sie die Kenntnis von einer ungefähren
Aristoteles-Rezeption ungefähr in der zeitlichen Mitte zwischen jenem und uns.)
Allerdings wissen diejenigen, die da seit dem
Jahre 2011 lesen und diskutieren, daß es nicht leicht ist, das Streben wirklich
durchzuhalten. Das Buch macht einem das Lesen nicht leicht. Es endet in einem Höhepunkt
oder in einer Kadenz oder in noch einer.
Protokolle schreiben und lesen – das ist das
Mindeste, was man dazu tun muß, um nicht das Meiste wieder und wieder zu
vergessen. Wie zum Beispiel die minimalistische Formel von der „gesuchten
Wissenschaft“.
Die möglichen Illusionen, Täuschungen und
Selbsttäuschungen bestehen darin, daß man sich mit vornehmen Wörtern wie
„Philosophie“ oder „Metaphysik“ über die dürren und wenig zusammenhängenden
Begriffsanalysen hinwegschwindelt.
Buch XIII und XIV warnen davor, auf die denkerischen
Möglichkeiten der Mathematik auszuweichen und darin die Erkenntniserfüllung zu
sehen, zu der Aristoteles herausfordert und die wohl nicht ohne Mühe und
existenzielle Erschütterung zu haben ist. Man muß sich von etwas bewegen
lassen, man muß sich selber bewegen. Motivieren, agitieren, agieren. All das
ohne die von der Moderne angepriesene Beherrschung der Natur,
Weltveränderungsleidenschaft, Allmachtsphantasie und Vermenschlichung von allem
und jedem. Innerhalb einer vita contemplativa, die sich mit
geringfügigen Handlungsmöglichkeiten begnügt.
Andere schon vorliegende Parallelprotokolle sind
diejenigen zur aristotelischen Poetik. Diejenigen zur
Lektüre der Sonne von Francis Ponge sowie die noch nicht
vollendeten zur Lukrez-Lektüre von Michel Serres.
Walter Seitter
Nächste
Sitzung: 21. Dezember 2022.
Aristoteles:
Metaphysik, Buch XIII, ab 1084b 3