τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 20. Juni 2024

De Anima Lesen - Zusatzprotokoll (404 a 26 - 404b 6)

den 29. Mai 2024

Zusatzprotokoll (404 a  26 - 404b  6)


Die genannten Autoren sind Homer, Demokrit, Anaxagoras.

Sie gehen wie die vorhin erwähnten mehr oder weniger davon aus, die Seele und ihre Leistungen in der Nähe des Körperlichen anzusiedeln, aber sie richten ihre  Aufmerksamkeit auf spezifisch menschliche Tätigkeiten - wenngleich nicht ohne Mehrdeutigkeiten.

Am interessantesten wohl die Anaxagoras  zugeschriebene Aussage, der Geist (der vielleicht mit der Seele identisch ist), sei die „Ursache des schön und richtig   (Agierens)“ (404b 2).

Schön und richtig hier adverbial - als Eigenschaften von menschlichem Tun, das damit der Beurteilung ausgesetzt wird. 

Und Aristoteles schreibt sich selber so eine Beurteilungskompetenz zu, indem er seinen historischen Überblick mit der Bemerkung einleitet, er wolle die „richtig gesagten (Dinge)“ von den „nicht richtigen“ unterscheiden. (403b 23).

Dabei handelt es sich um Aussagen, die sich zu den von ihm selber gemachten Aussagen kollegial verhalten: Aussagen ähnlichen Typs über gleiche oder selbe Gegenstände. 

Die Gegenstände heißen Seele - mitsamt angrenzenden Gegenständen wie Körper, Geist. 

Die Aussagen sind solche mit Wahrheitsanspruch - überwiegend im theoretischen Sinn, eventuell im medizinischen Sinn.

Wenn die Seele Ursache von richtigem Verhalten ist, wird wohl sie auch Ursache  von weniger richtigem Verhalten sein. Dann aber erweist sie sich als äußerst mächtige, aber auch gefährliche  Ursache - deren genauere Kenntnis aus pragmatischen Gründen sehr erwünscht wäre, wenn sie möglich sein sollte. 

Diese Selbstbezüglichkeit der Seelenkunde wird von Aristoteles damit angedeutet, daß er sie auf seine Kollegen, seine prominenten, bezieht - und damit kann er auch sich selber nicht aus der Problematik ausschließen. 

Wenn andere Berühmte in diese oder jene Fall getappt sind, warum sollte dann er davon ausgenommen  bleiben?

Und wenn wir selber uns „richtig“ verhalten wollen, dann müssen wir jede Gelegenheit dazu ausnützen.

Zum Beispiel Protokolle schreiben  - gegen das Vergessen. 

Diskutieren - gegen die Gleichgültigkeit. 

Und vielleicht die Entscheidung, die jetzige Lektüre mit dem lateinischen Buchtitel zu benennen, revidieren. Auf den Gedanken hat mich meine Erinnerung an den katastrophalen Kreuzzug des Jahres 1204 gebracht.
 
Walter Seitter

Sonntag, 9. Juni 2024

De Anima lesen 6 - (404a, 10 – 404a, 25)

 

Mittwoch, den 29. Mai 2024


In den Textteilen vor diesem Abschnitt hat Aristoteles mit der Darstellung der Positionen seiner Vorgänger zur Beschaffenheit und Funktion der Seele begonnen. Zuerst werden Demokrit und Leukipp behandelt und deren Annahme, dass die Seele den Lebewesen ihre Bewegung verschaffe, daher wird auch die Atmung zu einem Kriterium des Lebendig-Seins.

Das Atmen selbst ist ein Vorgang, wobei die Körper durch die Umgebung zusammengedrückt und dabei Formen (schemata) herausgepresst würden, die den Lebewesen ihre Bewegung verschaffen. Das Atmen sorgt aber dafür, dass gleichartige Formen oder Atome wieder in den Körper hineinkommen und die weitere Abstoßung der Formen verhindern und so das Verdichtende der Umgebung aufhalten. Die Lebewesen sind eben lebendig, solange sie fähig sind, diesen Austausch zu bewerkstelligen.

Es stellt sich die Frage, ob Aristoteles es richtig darstellt, denn er unterstellt den Pythagoreern eine ähnliche Position, wobei er einigen davon der Ansicht sein läßt, das sie die Sonnenstäubchen selbst für die Seele halten, andere betrachten die Seele als Beweger dieser Sonnenstäubchen. In dem einen Fall würde einen Seelenaustausch mit der Umgebung passieren und eine Einheit der Seele im einzelnen Körper wäre schwer zu denken. Im anderen Fall müsste die Seele die Sonnenstäubchen oder Atome auch außerhalb der Körper bewegen, da sie auch bei völliger Windstille in Bewegung zu sein scheinen.

Aristoteles fasst noch einmal die Gruppe derer zusammen, die die Seele für das sich selbst Bewegende halten, weil die Bewegung das der Seele im höchsten Grad Eigentümliche sei. Alle diese nehmen an, das alles andere durch die Seele bewegt werde, diese aber von sich selbst bewegt werde. Dabei ist die Seele selbst kein Unbewegt-Bewegendes, sondern ein selbst bewegtes-Bewegendes, denn ein Unbewegt-Bewegendes kann man nicht sehen.

Hier müsste die Seele auch außerhalb des Körpers Bewegungen verursachen und wäre damit keine ausschließliche Eigenschaft beseelter Körper. Eine solche Weltseele wird hier nicht vorgestellt.


Corcilius schreibt, das Aristoteles seinen Vorgängern vorhält, die Eigenschaften beseelter Körper zu den Eigenschaften der Seele selbst zu machen und das als Grundfehler der meisten Seelenvorstellungen bisher zu identifizieren sei. Hier würden das zu Erklärende und das Erklärende selbst nicht genug auseinandergehalten, Explanandum und Explanans. Man erkennt beseelte Körper an der Bewegung und zugleich ist das der Grund für die Bewegung die Seele selbst.

Diese Argumentation kommt erst später in der Darstellung.


Karl Bruckschwaiger







Sonntag, 26. Mai 2024

De Anima Lesen - Zwischenprotokoll

26. Mai 2024

 

Protokoll vom 22. Mai 2024

 

Die ersten bisher gelesenen Seiten von De anima erweisen sich als sehr komplex und dicht. Einerseits fassen sie  manches zusammen, was wir schon früher gelesen haben. Sozusagen rein zufällig aber auch das, was ich in den vergangenen Monaten an verschiedenen Orten (VINOE, Café Korb) vorgetragen habe,  nämlich die sehr weit auseinander spreizende aristotelische Wissenschaftsklassifikation. Und Aristoteles greift dabei – wie es scheint – zu ziemlich neuen Formulierungen.

Am 22. Mai habe ich mit Ivo Gurschler  eine selektive Rekapitulation vorgenommen und dabei folgende Punkte ausgeführt.

Im Abschnitt 1 des Ersten Buches führt Aristoteles gewissermaßen wissenschaftspragmatisch in die Erforschung der Seele beziehungsweise ihrer Affektionen im Zusammenwirken mit dem Körper ein, indem er deren Untersuchung auf mehrere Spezialisten aufteilt.

 

 Zuerst werden genannt der Naturforscher und der Dialektiker (403a 29) – wobei der erste sich für Körperveränderungen  wie das Sieden des Blutes und des Warmen rund ums Herz, der andere aber für Streben nach Rache für erlittene Kränkung interessiert. Tatsächlich zwei sehr unterschiedliche Phänomene – die aber auch für einen heutigen Begriff von „Psychologie" noch relevant sein könnten. Wenn der erste eher mit „Physiologie“ assoziiert wird – und der zweite: womit? Mit seelischer Aufregung ja. Aber woher kommt die und worauf bezieht sie sich? Auf „soziale“ Akte, Verhalten, Aktionswünsche.

 

Dieses Psychische im engeren Sinn scheint also gar nicht „rein“ psychisch im Innenleben zu beruhen; es bezieht sich auf die Außenwelt und zwar ein bestimmte Facette der Außenwelt, die man auch „Mitwelt“ nennen kann, wobei dieses „Mit“ hier leider die Form von „Gegen“, also Konflikt annimmt.

 

Ich sage dazu „leider“ und damit wird schon eine Problemrichtung angedeutet.

 

Ich würde sagen, dieses winzige Beispiel für das Auseinanderdriften der „Psychologie“ zeigt schon die Reichhaltigkeit des aristotelischen Textes. Sie zeigt sich aber nur dann, wenn man an den Text wie einen Fremden herangeht – und ihn nicht als selbstverständlich brav akzeptiert.

 

Denn die andere Seite der Psychologie, die physiologische, die ihrer Einordnung in die aristotelische „Physik“ (als erste Theoretische Wissenschaft) entspricht, die bezieht sich ebenfalls und wesensmäßig auf die Außenwelt, die Außenwelt der Körper überhaupt.

 

 

Die beiden hier „personalisiert“ genannten Wissenschaften werden dann sehr knapp auch rein begrifflich charakterisiert: die eine liefert den Stoff, die andere die Form und den Begriff.  

 

Die Physik den Stoff, die Dialektik Form und Begriff.

 

Können wir diese Charakterisierung der Dialektik ins bisher  Bekannte einordnen?

So ohne weiteres wohl nicht. Wenn die Dialektik über die Physik hinausgeht  - wohin geht sie dann?  Zu einer anderen Theoretischen Wissenschaft – und zu welcher?

 

Oder zu irgendeiner ganz anderen Wissenschaft?  Welche gibt es noch?

 

Die Angabe „Form und Begriff“ – hilft die weiter?

 

Anstatt die Frage direkt, gradlinig oder irgendwie „höher“ weiter zu erörtern, führt Aristoteles auf einen Seitenweg, er führt zu einem Nebenbeispiel, das den Vorteil bietet, etwas noch Bekannteres als den irgendwie aufgeregten Nebenmenschen (bis zum Jahre 1938 sprach man in Österreich, in den gebildeten Kreisen (siehe Sigmund Freud, Erich Voegelin) nicht vom Mitmenschen sondern vom Nebenmenschen), zu irgendeinem Haus, und er ist so freundlich dieses jetzt unter einen ganz bestimmten Begriff zu stellen, der bei Aristoteles keineswegs zu den prominenten Begriffen gehört, etwa den sogenannen metaphysischen. Nämlich unter den Begriff des Dinges (der dann eher bei Heidegger und Seitter) Karriere macht.  

 

 

Und da teilt Aristoteles den Begriff des Hauses drei verschiedenen Spezialisten zu.  Der eine interessiert sich für die Schutzfunktion, der andere  für Baumaterialien, ein dritter für deren zweckmäßige Bearbeitung.

 

Und Aristoteles stellt die Frage:

 

Wer von ihnen ist  nun der Physiker?

 

Diese Wer-Frage zeigt uns die Stoßrichtung an, die hier eingeschlagen wird, und der aufmerksame Leser zeichnet sich dadurch aus, daß er auf diese Frageform aufmerksam wird, anstatt sie einfach als selbstverständlich abzunicken.

 

Es könnte ja sein, daß so eine Wer-Frage hier oder anderswo vom Leser damit beantwortet wird, daß der sich sagt – ach so vielleicht ich?

 

(Oder es könnte sein, daß zum Beispiel der berühmte erste Satz der Metaphysik so ein Fangsatz ist, der beim Leser, natürlich auch bei der Leserin, wenn sie eine interessierte ist, die Frage auslöst: Stimmt das überhaupt, trifft das auf mich zu?  (Wenn kein Satz der Metaphysik so eine oder eine ähnliche Reaktion auslöst, dann ist alles vergeblich!))

 

Hier, in der „Psychologie“, scheint Aristoteles seine Redeweise in diese Richtung zu lenken.

 

Ist der Physiker derjenige, der nur vom Begriff redet, oder derjenige, der nur vom Stoff redet, oder derjenige, der von beidem ausgeht?

Wie sind die beiden ersten zuzuordnen? Wer ist der Fachmann für die Bauzwecke? Und wer der für die Baustoffe? Oder gibt es einen dritten, der sich für die unabtrennbaren  Zustände der Stoffe interessiert? Was sind das für Zustände?

 

Die Antwort, die jetzt kommt, scheint nicht gerade weiterzuführen: denn Aristoteles schreibt nun dem  Physiker die  Zuständigkeit für alle Funktionen und Zustände eines so bestimmten Körpers und eines solchen Stoffes zu. 

Das mag ja den Physiker freuen, daß er jetzt diese Allzuständigkeit bekommt.

 

Aber es ist gar keine Allzuständigkeit, denn Aristoteles sagt, daß es auch andere Körperfunktionen und -zustände gibt, nämlich solche, die jetzt noch nicht bestimmt sind.

 

Und für die nennt er zwei andere Spezialisten, die gerade nicht für die Betrachtung bestimmter Zustände zuständig sind – sondern für was?

 

Sieht man, welche beiden er meint – er meint den Handwerker und den Arzt, dann sieht man hoffentlich, wodurch sich die beiden vom Physiker unterscheiden, sie sind nicht Betrachter, sondern Bearbeiter und Behandler.  Sie verändern vorliegende Körper – in einer gewünschten Richtung. Hier kommt das Wünschen zum Zug und man braucht nicht bei Lacan anfragen, ob man da vom Wünschen sprechen darf.

 

Der Handwerker bearbeitet Steine im einzelnen und setzt sie zu einem größeren Ganzen zusammen, das erwünscht ist. Und der Arzt schaut sich einen Menschenkörper an, an dem etwas zu verbessern ist – denn der Menschenkörper war schon bei den Griechen etwas Verletzbares und manchmal Reparierbares.

 

Neben den physikalischen Wissenschaften gibt es die poietischen Wissenschaften, die die poietischen oder technischen Künste wissenschaftlich unterstützen sollen, und diese Unterscheidungen sind wesentlicher als alles metaphysische Gerede.

 

Auch dieses war Aristoteles bekannt – doch nennt er es „dialektisches“  Gerede  (403a 1). Er war in seiner Terminologie nicht immer konsequent.

 

Dazu gibt es dann noch die praktischen Wissenschaften, die wohl die handlungsmäßige Bearbeitung der oben genannten sogenannten psychischen oder sozialen Probleme unterstützen sollen. 

 

Mit der  Dialektik  im seriösen Sinn des Wortes waren  vielleicht beide nicht-theoretischen Wissenschaften gemeint.

 

Wen aber meint Aristoteles mit dem hier und nur hier genannten Ersten Philosophen (304b 17)?

 

Die Singularität der Nennung könnte auf Selbstnennung verweisen.

 

Ist der Erste Philosoph derselbe wie der Dialektiker – nur daß er sich auch über die Unterscheidung von „abgetrennt“ und „nicht-abgetrennt“  definiert?

Die Erste Philosophie als Disziplin oder etwa als persönliche Qualifikation ist uns ja in der Lektüre der Metaphysik begegnet – ist sie uns wirklich begegnet? 

Wenn wir diese Lektüre wirklich betrieben haben, wenn sie uns wirklich umgetrieben haben würde – müßten wir dann nicht zu Ersten Philosophen geworden sein? Oder braucht man dazu länger?

Jedenfalls brauchen wir noch ein paar ältere und neuere Protokolle und Kommentare.

Walter Seitter

 

De Anima lesen 5 - 403b, 20 – 404a, 10

 

Mittwoch, den 15. Mai 2024


Nach dem Lesen des Protokolls beschäftigt sich Walter Seitter mit der, wie er es nennt, Personalisierung im Text von De Anima, der Dialektiker und der Physiker würden die Widerfahrnisse der Seele anders beurteilen oder definieren. So wäre der Zorn für den einen der Wunsch nach Vergeltung, für den anderen das Sieden des Blutes. Das ist eine Unterscheidung nach Form oder Zweck und Materie. Das nächste Beispiel des Hauses bringt die Frage nach dem Zweck und den Materialien mit der Hinzufügung der Frage nach der Form in den Materialien zu einem bestimmten Zweck willen. Aber wer befasst sich mit dem Zusammengesetzten, der Physiker beschäftigt sich mit den nicht abgetrennten, das meint selbständigen Eigenschaften der Körper und mit den anderen Eigenschaften hat der Techniker zu tun, bei Aristoteles werden der Architekt und der Arzt genannt.

Walter Seitter legt hier Wert auf die Unterscheidung zwischen Kunst und Lehre, als dem Baukünstler und dem Baukunstlehrer oder dem Heilkundigen und dem Heilkundelehrer. Beide sind  Vertreter der poietischen Wissenschaften. Die theoretischen Wissenschaften beschäftigen sich als Mathematik mit den Eigenschaften von Körpern, die aus Abstraktion gewonnen (aphairéseos) wurden und als Erste Philosophie mit Eigenschaften, die abgetrennt sind. Wie diese Abgetrenntheit, dieses Selbständig-sein zu verstehen ist, wurde mir noch nicht verständlich, ist hier der Zorn vom Zornigen abgetrennt oder ein Zorniger von der den anderen Zornigen, oder ist Zornig-sein ohne einen bestimmten Körper oder Zweck denkbar?

In der an diesem Tag gelesenen Stelle handelt es sich um den Anfang des 2.Kapitels des 1.Buches, wo sich Aristoteles den Meinungen (doxas) seiner Vorgänger in der Untersuchung der Seele zuwendet. Einerseits wird die die Beschäftigung mit den Vorgängern damit gerechtfertigt, dass bei den Schwierigkeiten der Untersuchung, deren Fehler vermieden werden könnten, andererseits gebe es auch etwas zu übernehmen. Nun scheint dem Beseelten von Natur aus zweierlei zuzukommen, die Bewegung und das Wahrnehmen. Daher seien zwei Positionen dazu auszumachen, wobei die eine die Seele als das primär Bewegende annimmt wie es Demokrit tut. Er nennt unter den vielen Formen und Atomen die kugelförmigen Feuer und Seele – und hier kommt ein für uns bildhaft poetisches Bild (wobei man sich fragt was es beweisen will) wie die Sonnenstäubchen in der Luft, die durch die im Fenster einfallende Sonnenstrahlen sichtbar werden. Die Gesamtmasse dieser Stäubchen seien die Elemente der Natur, die nach Leukipp kugelförmig sein müssen, damit sie alles durchdringen und damit bewegen könnten. Diese Sonnenstäubchen bilden also das Bewegende und die Seele, daher wird die Atmung zu einem Kriterium des Lebendig-Seins.


Corcilius meint, dass Aristoteles an diesen Punkt des Textes Demokrit und Leukipp vorwirft, dass sie die Unterscheidungsmerkmale zwischen beseelten und unbeseelten Gegenständen zu den grundlegenden Eigenschaften der Seele gemacht hätten und darin die Gesamtleistung und die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Seele verfehlen würden. Selbst bei der Selbstbewegung der Seele würde man in Widersprüche geraten.

Die weitere Lektüre wird es uns verraten.


Karl Bruckschwaiger




Sonntag, 5. Mai 2024

De Anima lesen 1 - 402a 1- 6 - Nachtrag


Sonntag, 5. Mai 2024



Nach der  Poetik (2007-2010)  und der Metaphysik  (2011-2024)  lesen wir nun, auf Vorschlag von Sophia Panteliadou und Karl Bruckschwaiger,  Peri psyches -  also gewissermaßen die aristotelische Psychologie, die allerdings nach Auffassung aller Kommentatoren, da die Körper ihr Gegenstandsfeld bilden, der Physik zuzurechnen ist, welche die erste der sogenannten theoretischen Wissenschaften ist - aber an anderer Stelle als Zweite Philosophie bezeichnet wird. Diese Zugehörigkeiten kommen auch in unserem Text gleich zur Sprache - und ebenso werden sie differenziert. 

Das erste Kapitel führt in die Seelenkunde ein, indem es hauptsächlich wissenschaftsanalytisch die Tätigkeiten bespricht, die mit ihr verbunden  sind - wobei der Begriff „Wissenschaft“  zunächst gar nicht genannt wird. Daraus zu schließen, daß Aristoteles diese Untersuchung von vornherein unter den Titel „Philosophie“ stellt , wäre allerdings voreilig. 

Der Text beginnt mit zwei verschiedenen  und entschiedenen „Wertungen“ - was erstaunen mag, insofern er eigentlich keine praktische Wissenschaft darlegen soll, in der es darum geht, wie „gut“ gelebt, gehandelt oder sonstwie getan werden kann.

Den Anfang machen  die „schönen und wertvollen“ Dinge.  „Schön“ ist ohnehin die Qualität, die in der griechischen Kultur an erster Stelle steht, und das Wort für „wertvoll“ stammt direkt aus der politischen Sphäre,  es stammt von der „Ehre“ ab, die in aristokratischen Gesellschaften das Um und Auf ist. 

Welche Sache wird nun unter die schönen und wertvollen Dinge gezählt - ausgerechnet diejenige, um die es in so einem psycho- oder sonstwie -logischen Buch geht: das Wissen, das im Griechischen hauptsächlich vom Sehen herkommt.

Beim Wissen wird gleich unterschieden zwischen dem und jenem und je nach dem, um welches Wissen es sich handelt, gilt es als mehr oder weniger schön und wertvoll. 

Aber das hängt wiederum von zwei Gesichtspunkten ab:  Qualität des Wissens als Leistung:  mehr oder weniger „genau“.  Die Genauigkeit ist bei Aristoteles - wie im heutigen Zeitalter der sogenannten exakten Wissenschaften - die performative Wissenschaftsqualität. 

Fußnote 1

Siehe Che-Han Huang: Die aristotelische Exaktheit: Von der Medizin zur Prinzipienlehre (Baden-Baden 2024)



Der zweite Gesichtspunkt zur Unterscheidung und Rangzuweisung für die Wissen liegt darin, welche Gegenstände „besser und erstaunlicher“ sind.  Also zwei andere Wertbegriffe,  die für das griechische Realitätsverständis ebenso entscheidend sind. 

In beiden Hinsichten gehört die Erforschung der Seele zu den „ersten“ Dingen. „Erst“ im Sinne von „vorrangig“  — wobei die Steigerungsstufen der Eigenschaftswörter  Positiv, Komparativ, Superlativ hier ihre Plätze haben. 

Warum die  Seele als Gegenstand so vorrangig ist, das wird dann ausgeführt. Warum  jedoch ihre Erforschung - dafür steht historia  -  „akribischer“  sein soll als andere Forschungen,  das sehe ich im Moment nicht.

Schön  und gut,  ehrenhaft und erstaunlich.  Ordnet man die hier eingesetzten Wertbegriffe etwas um, betrachtet man sie genauer, so  kann man nicht umhin, sich daran zu erinnern, sofern man nicht schon alles vergessen hat, daß am Anfang der Metaphysik und an ihrem Ende  ähnliche Wörter für Wertqualitäten und Wertschätzungen stehen -  dort aber müssen sie eine riesige Spannung über viele und diverse Themen aufrechterhalten.

Hier scheint es nur um „die Seele“ zu gehen. Aber gleich im ersten Satz des folgenden Leseabschnitts (2)  wird angedeutet, daß mit der „Erkenntnis“  der Seele „große Dinge“ zur „gesamten Wahrheit“ beigetragen werden.
 
Postskriptum zum Leseabschnitt 4.

Zum Wortfeld noein und nous ist tatsächlich zu überlegen, ob es eher etwas Produktives - denken, erwägen, meinen -  oder etwas Rezeptives -  vernehmen, verstehen, einsehen -  bedeutet.   Meine etymologische Hypothese, das das Wort über  gignosko, gnosis an nose, schnüffeln, riechen  annähert, ist zwar witzig, aber witzig im  Sinn von Witz, witness, video und oida- ich habe  gesehen, also eidisis.

Schon mit der Behauptung, die  Seele sei „Prinzip der Lebewesen“  rückt Aristoteles sie in die Physik ein,  denn die aristotelische Physik als Lehre von den Körpern hat ihr spezifisches Objekt nicht in einer Lehre von der trägen Materie, die unbedingt irgendwelche „Ursachen“ braucht, um zu Bewegungen angestoßen zu werden.  Sondern die Körper (nicht die geometrischen) sind Wesen, die je nach  ihrer Gattungszugehörigkeit sich bewegen, ändern, mischen. 

Aufgrund ihrer Affektionen müssen auch qualifizierte Seelen, wie die menschlichen,  als mit dem Körper verbunden gedacht werden. „Zorn ist eine Art von Bewegung eines ganz bestimmten Körpers oder Teiles oder Vermögens unter einer bestimmten Einwirkung zu einem bestimmten Zweck.“  Daher hat der Physiker über die Seele Begrenzungen, Bestimmungen, Definitionen zu machen, indem er das „Sieden de Blutes und das Warme ums Herz herum“ aufklärt.


Soweit also eine naturwissenschaftliche oder materialistische Seelenkunde.  Aber Aristoteles will sich damit nicht begnügen. Vielmehr postuliert er, daß noch eine weitere, bisher kaum genannte, auch in meinem Vortrag vom 6. November 2023 gar nicht erwähnte Wissenschaft sich mit dem Zorn beschäftigt, von dem übrigens Aristoteles anderswo sagt,  daß er zur  Natur des Menschen gehört.   

Auch der „Dialektiker“ hat etwas zum Zorn zu sagen: „Der sieht im Zorn ein Streben nach Rache für erlittene Kränkung.“  Was ist damit gemeint - wenn nicht irgendetwas Politisches oder Mikropolitisches?

Oben kam „Dialektik“ als leeres Gerede vor - und  schon seit der Antike hat das Wort auch diese Bedeutung, die sich in  den Wortkämpfen des 19.  (bis 20.) Jahrhunderts neuerlich bewährt hat. 

Aber hier soll der Dialektiker  ein seriöser und ernsthafter Wissenschaftler sein,  der den „menschlichen“  Sinn des Zornes ernst nimmt und etwa gar etwas zur Entschärfung des Situation beitragen zu können meint? Ist er vielleicht  gar ein Pychotherapeut und insofern ein Seelenspezialist? 

Das Wort „Dialektik“ stammt aus der Generation von Zenon und Platon und bezeichnet ursprünglich eine Art von Wissenserweiterung, Wissenserwerb also Wissenschaft durch Beweisführung und Diskussion. 

In der „Dialektik“ ist der Wissenschaftler nicht mit sich und einem eventuellen stillschweigenden Gegenstand allein,  sondern konfrontiert mit einem ebenso aktiven, demonstrativen, eventuell offensiven oder gar aggressiven und unbedingt siegen wollenden Gegenspieler.  

Wiederum eine Übertragung aus der vorphilosophischen Welt der Aristokratie mit ihren Zweikämpfen und  Mengenkämpfen - aber jetzt in der Welt der Reden und der Wahrheit oder Wahrheiten. 

Sobald  dieses Wahrheitsspiel erfunden war und regelmäßig als Sport beliebt wurde und wiederholt wurde, geriet es selber als Kampfzone in den Verdacht,  ein Kampfmittel zu sein, das mit Wissenschaft nichts zu tun habe, sondern nur Rechthaberei sei. Sophistik und Eristik bezeichnen solche Deutungen - mit denen das Politische direkt in die Wissenschaft eingeführt wird und zwar oftmals als feindselige,  ja unerträgliche Größe. 



Doch Aristoteles meint mit seiner Einführung des „Dialektikers“  einen Wissenschaftler, der die Analyse des Zorns  wesentlich weiter bringt als der „Physiker“ mit seiner Blutdruckmessung. 

Welche sonstwie bekannten aristotelischen Wissenschaftsrichtungen würden sich an diesen Dialektiker  annähern lassen?  

Möglicherweise könnten die folgenden Ausführungen des Aristoteles Hinweise dafür liefern.  Obwohl sich die auf einen ganz anderen Gegenstand beziehen, der eigentlich nur als Vergleichsbeispiel, als Parallelgegenstand ,  eingeführt wird:  nämlich der Begriff des Hauses. 

Der wird von Aristoteles in drei Versionen aufgespalten - auch so eine Unterscheidung, die  bei Platon oder Aristoteles unter „Dialektik“ fällt - und  zwar im seriösen Sinn des Wortes. 


Erstens Schutz vor Verderben durch Wind, Regen, Sonnenglut;  zweitens Steine, Ziegeln, Holz; drittens deren zweckmäßige Formierung.   Welcher dieser drei  Haus-Begriffe ist Sache des Physikers, fragt Aristoteles. 

Der Physiker befasse sich mit allen Funktionen  und Affektionen eines bestimmten Körpers und eines bestimmten Stoffes. Mit allen anderen Aspekten befassen sich andere Fachleute - etwa die Techniker, zum Beispiel der Architekt oder der Arzt. 

Mit diesen knappen Angaben sprengt Aristoteles den Rahmen der Physik - aber nicht mit so einem undeutlichen eigentlich „dialektischen“ das heißt verwirrenden Hinweis auf den sogenannten „Dialektiker“.  Sondern mit der Benennung einer Gattung, die eigentlich außerhalb der Wissenschaft liegt, dafür aber lebensweltlich, das heißt pragmatisch vorgeordnet ist:  nämlich die Künstler oder Techniker, die mit Sachverstand die Umwelt so gestalten können, daß nützliche und schöne Dinge zustandekommen. 

Diese Leute haben ein Wissen auch, ohne Wissenschaftler zu sein.   Aber sie müssen ihr Wissen gelernt haben  - und da in ihrer Lernphase könnte bereits Wissenschaft im Spiel gewesen sein, denn durch die Lehrtätigkeit kann Wissenschaft entstehen, die dann wiederum für die Lehre eingesetzt wird.


Für die Techniker oder Künstler nennt Aristoteles zwei Beispiele: den Architekten und den Arzt, von denen der erste direkt mit dem Hausbau zu tun hat (denn der ist die Kunst), ,  der zweite vielleicht auch,  denn das  Verderben, das abgewendet wird, betrifft die Gesundheit. 

Für die Wissenschaften, die solche Kunstfertigkeiten befördern können,  hat Aristoteles eine eigene Wissenschaftsgattung oder -richtung entworfen - er nennt sie die poietischen oder hervorbringenden Wissenschaften, man könnte sie auch die technischen nennen.

Für die Ausbildung des Arztes braucht  es die Wissenschaft namens Medizin - zur Verdeutlichung empfehlen sich die beiden zu unterscheidenden Ausdrücke „Heilkunst“ und „Heilkunde“, die ich in meinem Vortrag vom 6. November 2023 eigens genannt habe und die auch Lacan deutlich zu unterscheiden pflegt, da er klare Unterscheidungen liebt. 

Wie nennt man die Wissenschaft zur Kunst des Architekten - Architektonik oder Architekturlehre?   Wie die Wissenschaft zur Kunst der Poesie?  Die heißt seit Aristoteles  Poetik

Fußnote 2

Im Rahmen meiner Philosophischen Physik habe ich mit nur ungefährer Anlehnung an Aristoteles eine „Physik des Hauses“  ausgeführt in Walter Seitter:  Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002): 145-163






So weit so klar - aber dann wird es ein bißchen unklarer, denn es werden die Begriffe „abgetrennt“ und „nicht abgetrennt“ eingeführt - der erste wird dem Mathematiker, der zweite dem Ersten Philosophen zugeordnet.  Gleichzeitig sollen die Affekte der Seele - wie Zorn und Furcht - vom natürlichen Stoff der Lebewesen  nicht zu trennen sein.  Deren wissenschaftliche Behandlung war dem sogenannten Dialektiker zugewiesen worden - insofern einem sozusagen geborenen Fachmann, weil sie aus Streit und Rache, also aus Politik bestehen.

Aber wie soll der Erste Philosoph für das Abgetrennte der Affektionen zuständig sein? Als Ontologe oder als Theologe? Als Ontologie eher nicht - denn die Ontologie interessiert sich für das Nicht-Abgetrennte wie auch für das Abgetrennte nur als Metawissenschaft.

Die Theologie interessiert sich - in Fortsetzung der  Physik - für abgetrennte Wesen, die nicht oder nicht nur Körper sind  -  also  Götter. 


Wo gibt es so etwas  wie Zorn und Furcht? Auf der Straße oder im Supermarkt sind sie direkt nicht zu finden.   Sondern bei und zwischen Menschen - in deren gelungener oder weniger gelungener Praxis. Die Wissenschaften davon sind die Ökonomie, die Ethik, die Politik, vielleicht die Rhetorik oder eben doch die Dialektik, sofern diese  in die konfliktuellen Verhältnisse die Wahrheit einschmuggeln kann. Vielleicht könnten Rhetorik oder Dialektik die Kontrahenten als Personen hervortreten lassen, als extra existierende. Denn „abgetrennt“  heißt „extra existierend“.  Und die handelnden Personen sind so etwas wie Götter - im Glücksfall.


 
 
Walter Seitter