τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 20. Oktober 2016

In der Metaphyik lesen (Buch I bis V)


Da unser Aristoteles-Seminar bis zum Jahresende 2016 eine Pause einlegt, machen wir heute eine „Zwischensitzung“ und versuchen eine Bilanz über die Lektüre der Metaphysik, Buch I bis V, zu ziehen.
Um diesem Resumé eine gewisse Exaktheit zu verleihen, möchte ich nicht nur eine „Inhaltsangabe“ machen, sondern auch formale Aspekte einbeziehen.

Solche sind:

Textform (z. B. Abhandlung, Dialog, Liste, Geschichtserzählung, Hymnus, Aphorismus)

Textduktus, Vorgangsweise, Operation (Beschreibung, Kritik, Gründung, Beweisführung)

Was an den Büchern I bis V auffällt, ist, dass sie sehr unterschiedlich gebaut sind – gerade hinsichtlich der eben genannten Kategorien.

Buch I liefert in Abschnitt 1 und 2 eine sorgfältige Konstruktion des Begriffs einer irgendwie neuen und daher gesuchten Wissenschaft, die sich an der Weisheit orientiert und auch schon Hinweise auf die Entstehung dieser Wissenschaft gibt. Die Abschnitte 3 bis 10 bieten eine gegliederte Historie und Kritik der bisherigen Versuche zu dieser Wissenschaft: Wissenschaft von den allgemeinen und höchsten Prinzipien und Ursachen – oder Philosophie.
Buch II fügt einige systematische Aspekte dazu, so den Begriff der Wahrheit.

Buch III führt den erkennntispsychologischen Begriff der Aporie ein. Nennt dann 14 Aporien, die sich um Prinzipien und Ursachen, Wesen und Akzidenzien drehen, und behandelt alle 14 in jeweils kurzen Abhandlungen – sodaß die Textform der Liste zweimal zum Zug kommt.

Buch IV vollzieht in Abschnitt 1 und 2 ganz explizit den Gründungsakt einer betrachtenden Wissenschaft vom Seienden als Seienden, d. h. von den Modalitäten des Seins. In Abschnitt 3 bis 8 indirekte Beweisführung für das allgemeinste Axiom, das inhaltlich mit den Abschnitten davor zusammenhängt, aber prozedural anders geartet ist.

Buch V hat die Form eines Lexikons: 30 Begriffe, die teilweise in I und IV schon vorgekommen sind, teilweise engere Spezifizierungen darstellen, werden in ziemlich gleichförmiger Weise analysiert: und zwar nach dem Vorbild aus Buch IV: n wird in vielfältiger Weise ausgesagt, n bedeutet einerseits dies, andererseits das ... Bei diesen Analysen handelt es sich um Operationen. Führt man einen Begriff wie „Operation“ für das Sprechen von Aristoteles ein, so erhöht man schlagartig die Klarheit dieses Sprechens. Denn man sagt, was man bei ihm sieht.

Das Buch, das wir lesen, heißt seit dem 1. Jahrhundert vor Christus Metaphysik; im 17. Jahrhunderte entstand die Disziplinbezeichnung „Ontologie“. Wie können wir die beiden Begriffe inhaltlich unterscheiden und wie auf die Bücher I bis V verteilen? Buch I, wo Anthropologie, Kosmologie, Theologie angeschnitten werden, kann man der Metaphysik zuordnen, obwohl dieser Begriff in vielfacher Weise aufgeladen, auch verzerrt worden ist. Die reinste Zuordnung lässt sich meines Erachtens mit dem Begriff „Ontologie“ vornehmen: und zwar in erster Linie zu Abschnitt 1 und 2 von Buch IV.
Das Buch V mit seinen 30 Begriffsanalysen lässt sich ebenfalls der Ontologie zuordnen, in manchen Punkten aber auch der Physik, in manchen der Logik oder der Ethik.
Frage, ob sich die Bezeichnung „Ontologie“ heute noch sinnvoll bzw. „nützlich“, d. h. mit Klarheit und Deutlichkeit verwenden lässt. Sophia Panteliadou ist eher skeptisch. Gianluigi Segalerba hält die Bezeichnung für verwendbar, setzt sie auch in seinen Schriften ein. Eine mögliche Alternative sieht er in „Entitätenlehre“ – der Vorteil dieses Ausdrucks liegt in der Pluralform „Entitäten“.

Tatsache ist, dass die Bezeichnung „Ontologie“ im aristotelischen Sinn heute nicht nur in der Aristoteles-Forschung, sondern auch bei anderen Philosophen im Gebrauch ist, so etwa bei Analytischen Philosophen. „Ontologie“ tendiert zu neutralen Bedeutungen, weniger zum Guten oder zum Göttlichen. Diese Sachverhalte haben eher in der „Metaphysik“ ihren Platz.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 19. Oktober 2016