τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 26. Februar 2023

In der Metaphysik lesen (1086b 13 - 1087b 4)

 Protokoll vom 22. Februar 2023

 

 

Im Zwischenprotokoll vom 8. Februar 2023 hatte ich daran erinnert, daß Hermann von Kärnten in fünf kurzen Sätzen ein Thema anschneidet, das ein bißchen „neben“ seiner kosmologischen Hauptthematik liegt, und meine Frage, um welches Thema es sich handle, blieb unbeantwortet, weil die Gedanken-Umschaltung offensichtlich nicht funktioniert hat.

 

Um dieses Problem erneut zur Sprache zu bringen, ohne den alten Fall aufzuwärmen, erfinde ich ein ganz neues Beispiel: in einem Text taucht plötzlich folgende Passage auf: a b c d e . Wie kann man sagen, was in dieser Passage steht? Man kann es natürlich nur sagen, wenn man sie sieht. Man sollte es aber mit anderen Worten bzw. mit anderen Zeichen sagen. Nur wenn man das kann, hat man verstanden.

 

Maximilian Prechtl gibt auf Anhieb eine zutreffende Antwort: „die ersten fünf Buchstaben des Alphabets“.

Er sagt etwas, was gar nicht „da steht“. Denn seine sechs Wörter sehen ganz anders aus als die angegebenen fünf Buchstaben. Aber er sagt damit, „was“ sie sind, und mit dem „was“ hat er eine andere Ebene erreicht: die Ebene des Sagens, das etwas anderes sagt als das Gesehene – und dennoch das Gesehene richtig wiedergibt. Er hat die richtigen Begriffe gefunden, um die eher begriffslose Buchstabenreihe zu benennen.

 

Maximilian Prechtl ist heute zum ersten Mal in diesem Jahr wieder ins Seminar gekommen, das heißt er hat mehrere Monate ohne Aristoteles- und Hermann-Lektüre zugebracht. Was ihm offensichtlich nicht geschadet hat, eher genützt. Er hat einfach sein Alltagswissen, seinen common sense, sein durchschnittliches Bildungswissen eingeschaltet und seine Antwort aus dem bezogen, ohne irgendeine Angst, etwa eine zu wenig philosophische Antwort liefern.

 

Auf die Frage, ob der Psychoanalytiker Jacques Lacan einen Begriff für die Erfüllung des Begehrens hat, muß man nicht nur Lacan ein bißchen kennen, man muß auch den richtigen Begriff aus dem Gedächtnis abrufen können und den Mut haben, ihn auszusprechen. Man muß schalten, einschalten, umschalten können.

 

 

 

Die Architektonik der sogenannten Metaphysik sieht ungefähr so aus, daß ihre Hauptlinie, die theologische, zu dem einzigartigen Wesen führt, welches das einzige unkörperliche Wesen ist, das sich durch eine zu allen schon bekannten Ursachen hinzukommende Verursachungskraft, durch ein Höchstmaß an Erkenntisleistung (mitsamt Reflexion) und ein Höchstmaß an Lust (Freude) auszeichnet. Dieses Wesen wird laut Aristoteles von den Menschen bewundert, begehrt und geliebt. Es selber realisiert vom Begehren nur dessen Erfüllung, es ist selber „nur“ Lustprinzip. Beim Menschen herrscht laut Freud nicht nur das Lustprinzip (laut Aristoteles ähnlich).

 

Mit diesen Qualitäten steht jenes einzigartige Wesen an der Spitze der Realitätssorten, die von den vier Elementen über die Lebewesen (inkl. Menschen) bis zu den Himmelskörpern reichen. Die meisten Realitätssorten sind in den diversen Schriften zur Physik abgehandelt worden, die epistemischen und hedonischen Leistungen in den Schriften zur Logik, zur Ethik und zur Poetik.

 

Die Metaphysik selber ist so ein umfangreiches und unübersichtliches Buch geworden, weil sich neben der theologischen Linie oder quer zu ihr viel massiver noch eine andere bislang kaum vorhandene Wissenschaft ausbreitet, die von der Logik ausgehend die Seinsmodalitäten expliziert: formale Qualitäten und Nuancierungen an sämtlichen Entitäten. Die Wissenschaft vom Seienden als Seienden, später „Ontologie“ benannt. Als schwache Gegenteile zu Wirklichkeit, Selbständigkeit und Vollkommenheit werden von Aristoteles etwa genannt: das Mögliche, das Falsche, die Akzidenzien (so auch die Eigenschaft „verstümmelt“ (1024a 11ff.)).[1]

 

Im Buch XIII wird diese typisch aristotelische Spezialwissenschaft, die bereits in IV, V, VII, VIII, IX, X und XI ausgebreitet worden ist, fortgesetzt. Zuerst anhand von Gegenständen der Mathematik; von Kap. 10 an mit der Diskussion einiger ihrer Hauptbegriffe wie Wesen, Element, Prinzip, Allgemeines, Einzelding.

 

Aristoteles behauptet, daß die Auffassung der Wesen als Einzeldinge und nicht als Allgemeines dazu führen würde, daß es nur so viele Dinge gäbe wie Elemente und diese wären dann nicht wissenschaftlich erfaßbar. Und er versucht, diese Behauptung mit einem anschaulichen Beispiel zu belegen, indem er für die Wesen die Wörter einsetzt und für die Elemente die Silben. Tatsächlich eine Annäherung an die Atomisten, weil diese ihre Physik auch auf das Phänomen der Sprache ausgedehnt haben. Die Buchstaben, die ich in meinem didaktischen Beispiel zur Erscheinung gebracht habe, weiten das Feld der Mesophysik in Richtung Mikrophysik aus.

 

Aristoteles geht es darum, die Allgemeinheit der Elemente zu retten - und damit auch die der anderen Dinge, etwa der Dreiecke, die alle dieselbe Winkelsumme aufweisen, oder der Menschen, die alle Lebewesen sind (auch dann, wenn sie sich angeblich darüber erheben (dies eine Bemerkung im Jahr 2023 nach Chr.)).

 

Aus der Allgemeinheit der Prinzipien ergebe sich, so Aristoteles, daß das Nicht-Wesen früher sei als das Wesen.

 

Auf den Begriff des Nicht-Wesens stoße ich hier zum ersten Mal, zweifellos eine Art Ereignis, das stutzig machen sollte. Worum handelt es sich?

 

Der angebliche Begriff des Nicht-Wesens wird gleich im folgenden Satz zurechtgerückt: „Denn das Allgemeine ist nicht Wesen, doch das Element und das Prinzip sind früher als das, wovon sie Prinzip und Wesen sind.“ (1087a 3f.)

 

Mit Nicht-Wesen ist das gemeint, was vor dem Wesen zu denken ist: dasjenige, woraus es besteht, also Prinzip und Element.

 

Wir haben festgestellt, daß es in der Philosophie -bis heute – ein Gerangel zwischen substantivischen und verbalen Wortformen gibt. So stellt auch Aristoteles „Wissenschaft“ und „Wissen“ unmittelbar nebeneinander. Die beiden Begriffsformen wechseln von Anfang an einander ab: „Streben nach Wissen“, „gesuchte Wissenschaft“. Andererseits ist das Wissen ständig getragen von sinnlicher Wahrnehmung. Der Gesichtssinn sieht diese Farbe, die auch die allgemeine Farbe ist. Der Grammatiker, das ist der Linguist, der die geschriebene Sprache untersucht, sieht diesen Buchstaben A, der auch der Buchstabe A überhaupt ist.

 

Eine Zusatzfrage an den common sense: hängen diese beiden Sehen, diese beiden Sichtbarkeiten zusammen?

 

Nach Beantwortung dieser Frage gehen wir über zum Buch XIV.

 

Um den Begriff „Prinzip“ zu klären, greift Aristoteles nun auf den Begriff „Gegenteil“ zurück, der notwendigerweise pluralisiert wird, womit auch das Prinzip aus seiner Singularisierung herausgeholt wäre. Er bezieht sich damit auf ältere Prinzipienlehren wie diejenigen von Pythagoras oder Empedokles.

 

Aristoteles betont jedoch, daß die Gegenteile nicht selbständig existieren, sie hängen einem Substrat an. Daher können sie nicht eigentlich Prinzip sein.

 

Für das Wesen, wie es sich zeigt, und wie der Begriff es bezeugt, gibt es kein Gegenteil.

 

Dieser Satz rückt das Wesen, also die Wesen, aus dem Spiel der Gegenteile heraus.

 

Aber zuvörderst rückt er es epistemisch in die Spannung von Erscheinung und Begrifflichkeit hinein.

 

Walter Seitter

 

 


[1] Im Laufe unserer Lektüre habe ich oft auf die Spannung zwischen Minimal- und Maximalontologie hingewiesen, die nicht mit der eventuellen Hierarchie zwischen niedrigen und höheren Wesen zu verwechseln ist.

 

Die Minimalontologie thematisiert die Absetzung der Entitäten vom Nichts bzw. die „wenig“ seienden Entitäten. Der französische Philosoph Tristan Garcia widmet sich dem Bereich des Minimalen in Laisser etre et rendre puissant (Paris 2023). 

Dienstag, 14. Februar 2023

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 24 (71rA - 72rH) Seite 176, Z 18 bis Seite 180, Z 7 bei Burnett

Mittwoch, den 8. Februar 2023 

 

Eingangs wurde wieder besprochen, mit welchem Selbstverständnis Hermann seine Schriften verfasst habe. Walter Seitter will darauf hinaus, das Hermann sein Projekt als Wissenschaft verstanden habe und fragt mich, wie Hermann es selbst benannt hat, ob er es selbst als Wissenschaft bezeichnen würde. Ich meinte kurz, ohne zu lange zu überlegen und genau zu erinnern, das er es zumindest als Untersuchung benannt habe. Aber eine kurze Überprüfung ergibt, das Hermann weder das Wort „quaestio“ noch „investigatione“, sondern „studium“ „opus“ oder „tractatus“ verwendet, was nicht ganz die wissenschaftliche Untersuchung trifft. Dennoch benennt er viele wissenschaftliche Tätigkeiten, die er als Selbstbeschreibung seines Projekts anführt, wie einteilen - dividere, Vorschläge machen - propositiones, beschreiben - describere, Beobachtungen machen - observationes, er zitiert aus anderen Werken und polemisiert gegen andere Ansichten.

Das Wort „scientia“ wird von Hermann, laut index verborum von Burnett, genau zweimal verwendet, an Stellen, wo er Autoritäten zitiert, einmal Boethius auf 68vD, das andere Mal Ptolemäus auf 78rD. Damit zielt dieser Begriff bei Hermann weniger auf die forschende Tätigkeit in einem Bereich, sondern mehr auf das Einbringen von gesichertem Wissen. Das Begründen und Ordnen von Wissen überlässt Hermann anderen Autoritäten oder aber Gott, der neben Schöpfer – creator eben auch Gründer – conditor und Handwerker – artifex genannt wird. Weil die Welt aus handwerklicher Tätigkeit entstanden, kann sie auch verstanden werden, weil Gott diese Möglichkeit offen gelassen hat. Man muss die Zusammensetzung – compositio der Welt erkennen wollen, indem man die richtigen Unterscheidungen – differentiae trifft. So ist man in der Lage den Aufbau – constitutio der Welt zu verstehen, wenn man die Konstruktion der Dinge – rerum constructione aus den Elementen der Welt, der Materie oder Körper (elementa mundi) erklären kann. Dazu kommen noch geometrische und logische Hilfsmittel wie Kreise, Kugel, Längen, Intervalle, Durchmesser oder Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit.

Man kann mit einigen Recht sagen, dass sich Hermann als Wissenschaftler versteht, wenn er sich auch von einigen Wissenschaften distanziert, wie der Medizin, und andere bevorzugt wie Astronomie und Astrologie.

Im vorgelesenen Abschnitt bringt er die Unterschiede zur Sprache, die die Essenz der Einfachheit der Substanz einprägt. Dadurch treten neue Teilungen auf, zwischen körperlich und unkörperlich. Das Körperliche teilt sich wieder in beständig und vergänglich. So hat ein Lebewesen sowohl eine körperliche wie eine unkörperliche Substanz, die allgemeine Konstitution beider Gattungen von Substanz ist fühlendes Lebewesen. Dass ich hier sensibilis nicht mit fühlbar, sondern mit fühlend (wie auch Burnett) übersetzt habe, wird von Walter Seitter eigens gelobt, denn auch Hermann kann sich irren. Aber Hermann stellt sich die Frage, was es bedeutet, wenn wir beide Gattungen als fühlende Dinge bestimmen, für die materiellen Körper ist es klar, für die Seele nicht. Daher muss das Fühlen der Seele untersucht werden.

Zuerst wurde noch festgestellt, dass die Seele die Vernunft aus der eigenen Natur hat, der Körper aber von der Seele. Aber Hermann stellt sich die Frage nach der Gefühls- und Wahrnehmungsverbindung von Körper und Seele. So scheint es ihm, dass die Seele von den Schmerzen des Körpers beeinflusst wird. Er fragt weiter nach den Wahrnehmungen der Seele ohne die körperlichen Organe (instrumentis), ob die Seele ohne Augen sehen kann. Er bejaht die Frage und meint sogar, das die Seele weiter sehen kann und auch Macht über die potentielle Existenz von Dingen hat, da die Sicht durch kein körperliches Hindernis begrenzt wird. Dass die Seele dennoch körperliche Kraft spürt oder erleidet, hat mit ihrer Verwandtschaft mit einem tierischen Geist zu tun.

Wenn es darum geht, ob die Seele die höllischen Strafen der ewigen Flammen spüren kann, verweist er auf die Autorität der Theologen, wobei er sich dabei keine eigene Autorität zumisst. Neben der Frage nach dem Verzehr einer unlöslichen Substanz wie der Seele durch materielle höllische Flammen, wird noch die irdische Frage nach dem Brennmaterial gestellt. Da führt Hermann die unaufhörlichen Feuer der Vulkane Ätna und Vesuv an, die seit frühester Zeit unaufhörlich Feuer ohne Einbuße an Materie ausstoßen.

Es folgt eine dreiteilige Spekulation über die Materie, in der Hermann Boethius folgt, geteilt in Zusammensetzung, Anordnung und kontrollierende Ursachen – compositiodispositiocausa moderante. Die Zusammensetzung ist eine Mischung aus den konstituierenden Ursachen, während die Anordnung die geordnete Habitudo des Gemischten ist. Deren Vereinigung führt zur Bildung und Vervollkommnung jeder körperlichen Substanz.

 

 

Karl Bruckschwaiger

 

Nächster Termin:  22. Februar 2023

Aristoteles, Metaphysik, XIII. Buch, ab 1086 b 12

Samstag, 11. Februar 2023

Zwischenprotokoll zur Wissenschaftlertätigkeit … vom 8. Februar 2023

10. Februar 2023

 

Die Hermann-Lektüre gestaltete sich schwierig, obwohl der Text relativ offenherzig, frisch von der Leber weg geschrieben ist.  

 

Im großen und ganzen sachbezogen handelt er von Bestandteilen des Kosmos, die uns allen bekannt sind, weil sie real sind und auch heute noch existieren.

 

Fremde Autoren, uns bekannte und weniger bekannte, zitiert er oder referiert er, zumeist mit Nennung der Namen. Neulich hat er eine Gruppe von Autoren mit der Sammelbezeichnung „Theologen“ genannt, weil sie von der Hölle sprechen. Den christlichen Schöpfergott setzt er voraus und baut ihn in seine Kosmologie ein. Philosophisch interessant ist die Art und Weise, wie er die beiden Begriffe essentia und substantia, die herkömmlicherweise als zwei verschiedene Übersetzungen des griechischen Begriffs ousia aufgefaßt werden, deutlich voneinander absetzt und damit auch die aristotelische Kategorienlehre durcheinanderbringt. 

 

Hier aber nun fünf Zeilen, die auf den ersten Blick kaum eine tiefere theoretische Problematik aufwerfen, wohl aber in unserer Sitzung am 8. Februar Verständnisschwierigkeiten bereitet haben.

 

72r 1-5: 

 

an et animal recte dixerimus et recte animalis speciem. In quo primum discutiendum videtur quonam speculationis modo in his agendum sit. Videtur enim, ut Boetius distribuit, tripertitus omnis speculationis modus. Quod ut constet altius sumi oportet. Tripertita est omnis speculationis materia:

 

Diese Sätze beziehen sich offensichtlich gar nicht oder kaum auf die objektiven Sachverhalte, die das hauptsächliche Thema des Buches De essentiis ausmachen. Um das noch deutlicher sichtbar zu machen, schreibe ich bestimmte Wörter noch einmal extra heraus:

 

recte dixerimus, discutiendum, speculationis, agendum, distribuit, tripertitus omnis speculationis modus, altius sumi

 

Die isoliert gereihten Wörter liegen bedeutungsmäßig auf einer einzigen Ebene: sie bezeichnen intellektuelle Tätigkeiten, deren Subjekte oder Akteure überwiegend einem „wir“ angehören; nur der antike Philosoph Boethius wird als ein fremdes Subjekt genannt. Aber auch er wird – als Autorität – der Bemühung des „wir“ zugeordnet, damit „unsere Erkenntnistätigkeit“ ihren richtigen Weg finde. 

 

Der Autor des ganzen Buches thematisiert an dieser Stelle – und keineswegs nur an dieser Stelle ! – für sich beziehungsweise für eine größere Gruppe von Erkennen-Wollenden eben diese intellektuelle Tätigkeit und Bemühung.

 

Will man diese paar Sätze verstehend lesen, so muß man sich fragen, was hier gesagt wird, man muß sehen, was hier gesagt (1) wird, und man muß sich sagen (2), daß das und das gesagt (1) wird. Sagen (2) bezieht sich zwar auf Sagen (1). Aber es tut gut daran, dabei andere Wörter zu verwenden. Womöglich Wörter der heutigen wissenschaftlichen Umgangssprache. Womöglich Wörter, die gegenüber dem alten Text fremd sind, eigene Wörter, neuere Wörter. Der Leser muß selber eine Sprache finden – eine fremde gegenüber der alten. 

 

Der Leser muß bei so einem Text nicht nur lesen – sondern zusätzlich ein eigenes Sehen und Sagen entwickeln, erfinden, leisten.

 

Ansonsten bleibt er im alten Text hängen und leistet nichts Zusätzliches. Und dann leistet er nichts, schafft nichts Neues. Den alten Text gibt es ohnehin schon. Der Erstleser, der Herausgeber, der Transkriptor, der muß nur den alten Text überhaupt herstellen, damit es ihn für uns gibt. 

 

Der philosophische Leser muß sein Sehen und Sagen dazu tun. Ich drücke mich absichtlich so schlicht aus. Irgendwelche methodischen Vorschriften, die mit irgendwelchen Ismen Eindruck machen, bringen gar nichts. 

 

*

 

Der Zufall will es, daß ich gleichzeitig mit der Nachbemerkung zum Mittwoch auf einen Artikel des amerikanischen Platon-Forschers (und selbsternannten Voegelianers) Kenneth Quandt mit dem Titel The Consciousness of the Researcher stoße.[1] Dieser Titel faßt das zusammen, was der mittelalterliche Gelehrte Hermann von Kärnten im zitierten Passus, aber auch in anderen, auf seine Weise ausgedrückt hat. 

 

Die von der Wissenschaft erwartete „Objektivität“ wird nicht dadurch erreicht, daß die Wissenschaftler „nichts“ tun, sondern dadurch, daß sie ihr Suchen, ihre Fragestellungen, ihre Unterscheidungen, ihre Blickeinstellungen, ihre Antwortversuche, ihre Zusammenstellungen so anlegen, daß die untersuchten Sachverhalte sich zeigen, zur Erscheinung kommen können.

 

In der Physik des 20. Jahrhunderts ist diese Erkenntnisbedingung schon deutlich zutage getreten. Im 21. Jahrhundert hat sich gezeigt, daß die Natur auf die wissenschaftlichen Zugriffe nicht nur durch ihr Erscheinen reagiert, sondern auch durch Verhaltensänderungen, wenn jene Eingriffe durch größeren Machteinsatz durchgesetzt werden. 

 

Wissenschaften wollen zeigen, wie sich die untersuchten Sachen verhalten. Je nach Art der Sachen und je nach Art der wissenschaftlichen Eingriffe können die Sachen ihr Verhalten verändern. Es entstehen neue Sachverhalte, die sich auch außerwissenschaftlich zeigen und die wiederum wissenschaftlich untersucht – oder auch wieder verändert werden können. Aber irgendeine Allmachtsinstanz gibt es nicht – jedenfalls nicht aufseiten des menschlichen Agierens. 

 

 

Walter Seitter

 




[1] https://sites01.lsu.edu/faculty/voegelin/wp-content/uploads/sites/80/2015/09/Quandt.pdf [PDF]

Freitag, 3. Februar 2023

In der Metaphysik lesen (1084b 2 – 1086b 12)

1. Februar 2023

 

Versucht man, in der Metaphysik so etwas wie Knotenpunkte und Linien ausfindig zu machen, so nähert man sich ihrem strukturalen Aspekt und man könnte sagen: ihrer „Architektonik“. 

 

Zieht man die menschlichen Tätigkeiten in Betracht, die in der Metaphysik die größten Rollen spielen, so wird man vor allem das Erkennen nennen müssen, das herkömmlicherweise als ästhetisches oder als noetisches aufgefaßt wird. Da im genannten Buch das wissenschaftliche Erkennen angestrebt wird, könnte man diesen Aspekt als „Epistemik“ bezeichnen.

 

Damit habe ich schon einen dritten Aspekt des Werks anklingen lassen, der neben dem kognitiven häufig übersehen wird, der aber zu seinem Zustandekommen unabdingbar ist: den dynamischen oder volitiven. Obwohl es in der Metaphysik um sogenannte objektive Sachverhalte geht, inkludieren diese auch Suchen und Streben. Diesen Aspekt nenne ich gemäß dem allerersten Satz des Buches jetzt einmal „Orektik“. 

 

Und da ich dem Erkenntnisstreben treu bleibe, setzen wir die Lektüre im Buch XIII fort, wo es ständig um die Frage geht, ob die Zahlen, deren Gegebenheit unstrittig ist, auch weil sie in der Mathematik, also in der zweiten theoretischen Wissenschaft, von Bedeutung sind, ob also die Zahlen „abgetrennt“, das heißt selbständig existieren. 

 

Wäre dies der Fall, so wäre man mit der aporetischen das heißt unlösbaren Frage konfrontiert, welche Zahl die frühere sei: das Eine oder die Dreiheit oder die Zweiheit. „Früher“ heißt „eher“ oder „vorrangig“. Das Eine wäre früher, sofern es den Stoff für die Zwei oder die Drei, die zusammengesetzt sind, liefert. Als Form ist jedoch die Zwei (beispielsweise) vorrangig. Doch nur das Zusammengesetzte aus Stoff und Form erreicht die Vollendung – obwohl es der Entstehung nach später ist. 

 

Eine analoge Überlegung widmet Aristoteles dem Verhältnis zwischen spitzem und rechtem Winkel, also einem geometrischen Problem, das vielleicht weniger einsichtig ist (mit dem Vollwinkel von 360 wohl eher). Weder der eine noch der andere können existieren. 

 

Diejenigen, die auf den Stoff setzen, das sind die Atomisten, deren Lehre auf Leukipp und Demokrit (460-370) zurückgeht. Diesem zufolge besteht die Realität aus geometrisch unterschiedlich geformten aber unsichtbaren Atomen, die sich bewegen und zusammenstoßen und damit Wirbel auslösen, die zu größeren Körperaggregaten führen, so zur ruhig gewordenen Erde und zu den beseelten Körpern, die zur Wahrnehmung, zur Erkenntnis und zu mehr oder weniger Gelassenheit fähig sind. 

 

Zumindest indirekt rührt also Aristoteles mit dem Atomismus auch an dessen späten Repräsentanten, den römischen Dichter-Philosophen Lukrez (99-55), den ich im letzten Sommer (vermittelt durch Michel Serres) gelesen und protokolliert habe.

 

Aristoteles setzt seine Kritik an den Lehren fort, welche die Entstehung der Körper aus den Akzidenzien der Quantität erklären wollen. 

 

Und er erwähnt auch die Realitätssorte, die ihn am meisten interessiert hat. Mit der störrisch-ironischen Frage, „ob das Lebewesen selbst im Lebewesen sei oder ob es etwas anderes sei als Selbst-Lebewesen“ (1085a 26). Diejenigen, die Letzteres annehmen, isolieren die Form. Diejenigen hingegen, die sagen, alles was aus demselben Stoff kommt, sei dasselbe, machen den entgegengesetzten Fehler. 

 

Es ist unmöglich, daß die Zahl und die Größen abgetrennt existieren. Es existieren aber die unterschiedlichsten Meinungen über die Zahlen und auf diese Weise entstehen „Sachverhalte, die nicht wahr sind und Verwirrung anrichten“ (1086a 1). Auf diese Weise bettet Aristoteles die Diskussion der Sachfragen in die Beobachtung der Diskussion, der Diskutanten ein.

 

Eine neuerliche Erwähnung der platonischen Ideenlehre präzisiert diese als Identifizierung von Allgemeinem, getrennt Existierendem und Einzelnem. Aristoteles gesteht nun dieser Auffassung einen plausiblen Grund zu: das Allgemeine müsse als abgetrennt von den Sinnesdingen betrachtet werden, weil diese ständig im Fluß seien. Dagegen habe Sokrates das Allgemeine als das Was der Dinge selbst verstanden und es nicht von diesen abgetrennt, „und das dachte er richtig, es wird klar aus den Tatsachen; denn ohne Allgemeines kann man keine Wissenschaft erreichen.“ (1086b 4f.)

 

Dieser Satz ist bemerkenswert, weil er das Denken als Handlung, mit Fichte könnte man sagen: als Tathandlung in die Welt stellt. Es wird klar aus den Tatsachen – damit meint er vielleicht bereits die Wissenschaft, eigentlich ein System von Tathandlungen, das akzeptable Resultate vorweisen kann. Argumentum ex post.

 

 

Ist die Sache wirklich klar?

 

Walter Seitter