τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 11. Februar 2023

Zwischenprotokoll zur Wissenschaftlertätigkeit … vom 8. Februar 2023

10. Februar 2023

 

Die Hermann-Lektüre gestaltete sich schwierig, obwohl der Text relativ offenherzig, frisch von der Leber weg geschrieben ist.  

 

Im großen und ganzen sachbezogen handelt er von Bestandteilen des Kosmos, die uns allen bekannt sind, weil sie real sind und auch heute noch existieren.

 

Fremde Autoren, uns bekannte und weniger bekannte, zitiert er oder referiert er, zumeist mit Nennung der Namen. Neulich hat er eine Gruppe von Autoren mit der Sammelbezeichnung „Theologen“ genannt, weil sie von der Hölle sprechen. Den christlichen Schöpfergott setzt er voraus und baut ihn in seine Kosmologie ein. Philosophisch interessant ist die Art und Weise, wie er die beiden Begriffe essentia und substantia, die herkömmlicherweise als zwei verschiedene Übersetzungen des griechischen Begriffs ousia aufgefaßt werden, deutlich voneinander absetzt und damit auch die aristotelische Kategorienlehre durcheinanderbringt. 

 

Hier aber nun fünf Zeilen, die auf den ersten Blick kaum eine tiefere theoretische Problematik aufwerfen, wohl aber in unserer Sitzung am 8. Februar Verständnisschwierigkeiten bereitet haben.

 

72r 1-5: 

 

an et animal recte dixerimus et recte animalis speciem. In quo primum discutiendum videtur quonam speculationis modo in his agendum sit. Videtur enim, ut Boetius distribuit, tripertitus omnis speculationis modus. Quod ut constet altius sumi oportet. Tripertita est omnis speculationis materia:

 

Diese Sätze beziehen sich offensichtlich gar nicht oder kaum auf die objektiven Sachverhalte, die das hauptsächliche Thema des Buches De essentiis ausmachen. Um das noch deutlicher sichtbar zu machen, schreibe ich bestimmte Wörter noch einmal extra heraus:

 

recte dixerimus, discutiendum, speculationis, agendum, distribuit, tripertitus omnis speculationis modus, altius sumi

 

Die isoliert gereihten Wörter liegen bedeutungsmäßig auf einer einzigen Ebene: sie bezeichnen intellektuelle Tätigkeiten, deren Subjekte oder Akteure überwiegend einem „wir“ angehören; nur der antike Philosoph Boethius wird als ein fremdes Subjekt genannt. Aber auch er wird – als Autorität – der Bemühung des „wir“ zugeordnet, damit „unsere Erkenntnistätigkeit“ ihren richtigen Weg finde. 

 

Der Autor des ganzen Buches thematisiert an dieser Stelle – und keineswegs nur an dieser Stelle ! – für sich beziehungsweise für eine größere Gruppe von Erkennen-Wollenden eben diese intellektuelle Tätigkeit und Bemühung.

 

Will man diese paar Sätze verstehend lesen, so muß man sich fragen, was hier gesagt wird, man muß sehen, was hier gesagt (1) wird, und man muß sich sagen (2), daß das und das gesagt (1) wird. Sagen (2) bezieht sich zwar auf Sagen (1). Aber es tut gut daran, dabei andere Wörter zu verwenden. Womöglich Wörter der heutigen wissenschaftlichen Umgangssprache. Womöglich Wörter, die gegenüber dem alten Text fremd sind, eigene Wörter, neuere Wörter. Der Leser muß selber eine Sprache finden – eine fremde gegenüber der alten. 

 

Der Leser muß bei so einem Text nicht nur lesen – sondern zusätzlich ein eigenes Sehen und Sagen entwickeln, erfinden, leisten.

 

Ansonsten bleibt er im alten Text hängen und leistet nichts Zusätzliches. Und dann leistet er nichts, schafft nichts Neues. Den alten Text gibt es ohnehin schon. Der Erstleser, der Herausgeber, der Transkriptor, der muß nur den alten Text überhaupt herstellen, damit es ihn für uns gibt. 

 

Der philosophische Leser muß sein Sehen und Sagen dazu tun. Ich drücke mich absichtlich so schlicht aus. Irgendwelche methodischen Vorschriften, die mit irgendwelchen Ismen Eindruck machen, bringen gar nichts. 

 

*

 

Der Zufall will es, daß ich gleichzeitig mit der Nachbemerkung zum Mittwoch auf einen Artikel des amerikanischen Platon-Forschers (und selbsternannten Voegelianers) Kenneth Quandt mit dem Titel The Consciousness of the Researcher stoße.[1] Dieser Titel faßt das zusammen, was der mittelalterliche Gelehrte Hermann von Kärnten im zitierten Passus, aber auch in anderen, auf seine Weise ausgedrückt hat. 

 

Die von der Wissenschaft erwartete „Objektivität“ wird nicht dadurch erreicht, daß die Wissenschaftler „nichts“ tun, sondern dadurch, daß sie ihr Suchen, ihre Fragestellungen, ihre Unterscheidungen, ihre Blickeinstellungen, ihre Antwortversuche, ihre Zusammenstellungen so anlegen, daß die untersuchten Sachverhalte sich zeigen, zur Erscheinung kommen können.

 

In der Physik des 20. Jahrhunderts ist diese Erkenntnisbedingung schon deutlich zutage getreten. Im 21. Jahrhundert hat sich gezeigt, daß die Natur auf die wissenschaftlichen Zugriffe nicht nur durch ihr Erscheinen reagiert, sondern auch durch Verhaltensänderungen, wenn jene Eingriffe durch größeren Machteinsatz durchgesetzt werden. 

 

Wissenschaften wollen zeigen, wie sich die untersuchten Sachen verhalten. Je nach Art der Sachen und je nach Art der wissenschaftlichen Eingriffe können die Sachen ihr Verhalten verändern. Es entstehen neue Sachverhalte, die sich auch außerwissenschaftlich zeigen und die wiederum wissenschaftlich untersucht – oder auch wieder verändert werden können. Aber irgendeine Allmachtsinstanz gibt es nicht – jedenfalls nicht aufseiten des menschlichen Agierens. 

 

 

Walter Seitter

 




[1] https://sites01.lsu.edu/faculty/voegelin/wp-content/uploads/sites/80/2015/09/Quandt.pdf [PDF]

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