τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 3. Februar 2023

In der Metaphysik lesen (1084b 2 – 1086b 12)

1. Februar 2023

 

Versucht man, in der Metaphysik so etwas wie Knotenpunkte und Linien ausfindig zu machen, so nähert man sich ihrem strukturalen Aspekt und man könnte sagen: ihrer „Architektonik“. 

 

Zieht man die menschlichen Tätigkeiten in Betracht, die in der Metaphysik die größten Rollen spielen, so wird man vor allem das Erkennen nennen müssen, das herkömmlicherweise als ästhetisches oder als noetisches aufgefaßt wird. Da im genannten Buch das wissenschaftliche Erkennen angestrebt wird, könnte man diesen Aspekt als „Epistemik“ bezeichnen.

 

Damit habe ich schon einen dritten Aspekt des Werks anklingen lassen, der neben dem kognitiven häufig übersehen wird, der aber zu seinem Zustandekommen unabdingbar ist: den dynamischen oder volitiven. Obwohl es in der Metaphysik um sogenannte objektive Sachverhalte geht, inkludieren diese auch Suchen und Streben. Diesen Aspekt nenne ich gemäß dem allerersten Satz des Buches jetzt einmal „Orektik“. 

 

Und da ich dem Erkenntnisstreben treu bleibe, setzen wir die Lektüre im Buch XIII fort, wo es ständig um die Frage geht, ob die Zahlen, deren Gegebenheit unstrittig ist, auch weil sie in der Mathematik, also in der zweiten theoretischen Wissenschaft, von Bedeutung sind, ob also die Zahlen „abgetrennt“, das heißt selbständig existieren. 

 

Wäre dies der Fall, so wäre man mit der aporetischen das heißt unlösbaren Frage konfrontiert, welche Zahl die frühere sei: das Eine oder die Dreiheit oder die Zweiheit. „Früher“ heißt „eher“ oder „vorrangig“. Das Eine wäre früher, sofern es den Stoff für die Zwei oder die Drei, die zusammengesetzt sind, liefert. Als Form ist jedoch die Zwei (beispielsweise) vorrangig. Doch nur das Zusammengesetzte aus Stoff und Form erreicht die Vollendung – obwohl es der Entstehung nach später ist. 

 

Eine analoge Überlegung widmet Aristoteles dem Verhältnis zwischen spitzem und rechtem Winkel, also einem geometrischen Problem, das vielleicht weniger einsichtig ist (mit dem Vollwinkel von 360 wohl eher). Weder der eine noch der andere können existieren. 

 

Diejenigen, die auf den Stoff setzen, das sind die Atomisten, deren Lehre auf Leukipp und Demokrit (460-370) zurückgeht. Diesem zufolge besteht die Realität aus geometrisch unterschiedlich geformten aber unsichtbaren Atomen, die sich bewegen und zusammenstoßen und damit Wirbel auslösen, die zu größeren Körperaggregaten führen, so zur ruhig gewordenen Erde und zu den beseelten Körpern, die zur Wahrnehmung, zur Erkenntnis und zu mehr oder weniger Gelassenheit fähig sind. 

 

Zumindest indirekt rührt also Aristoteles mit dem Atomismus auch an dessen späten Repräsentanten, den römischen Dichter-Philosophen Lukrez (99-55), den ich im letzten Sommer (vermittelt durch Michel Serres) gelesen und protokolliert habe.

 

Aristoteles setzt seine Kritik an den Lehren fort, welche die Entstehung der Körper aus den Akzidenzien der Quantität erklären wollen. 

 

Und er erwähnt auch die Realitätssorte, die ihn am meisten interessiert hat. Mit der störrisch-ironischen Frage, „ob das Lebewesen selbst im Lebewesen sei oder ob es etwas anderes sei als Selbst-Lebewesen“ (1085a 26). Diejenigen, die Letzteres annehmen, isolieren die Form. Diejenigen hingegen, die sagen, alles was aus demselben Stoff kommt, sei dasselbe, machen den entgegengesetzten Fehler. 

 

Es ist unmöglich, daß die Zahl und die Größen abgetrennt existieren. Es existieren aber die unterschiedlichsten Meinungen über die Zahlen und auf diese Weise entstehen „Sachverhalte, die nicht wahr sind und Verwirrung anrichten“ (1086a 1). Auf diese Weise bettet Aristoteles die Diskussion der Sachfragen in die Beobachtung der Diskussion, der Diskutanten ein.

 

Eine neuerliche Erwähnung der platonischen Ideenlehre präzisiert diese als Identifizierung von Allgemeinem, getrennt Existierendem und Einzelnem. Aristoteles gesteht nun dieser Auffassung einen plausiblen Grund zu: das Allgemeine müsse als abgetrennt von den Sinnesdingen betrachtet werden, weil diese ständig im Fluß seien. Dagegen habe Sokrates das Allgemeine als das Was der Dinge selbst verstanden und es nicht von diesen abgetrennt, „und das dachte er richtig, es wird klar aus den Tatsachen; denn ohne Allgemeines kann man keine Wissenschaft erreichen.“ (1086b 4f.)

 

Dieser Satz ist bemerkenswert, weil er das Denken als Handlung, mit Fichte könnte man sagen: als Tathandlung in die Welt stellt. Es wird klar aus den Tatsachen – damit meint er vielleicht bereits die Wissenschaft, eigentlich ein System von Tathandlungen, das akzeptable Resultate vorweisen kann. Argumentum ex post.

 

 

Ist die Sache wirklich klar?

 

Walter Seitter

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