τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 26. Februar 2023

In der Metaphysik lesen (1086b 13 - 1087b 4)

 Protokoll vom 22. Februar 2023

 

 

Im Zwischenprotokoll vom 8. Februar 2023 hatte ich daran erinnert, daß Hermann von Kärnten in fünf kurzen Sätzen ein Thema anschneidet, das ein bißchen „neben“ seiner kosmologischen Hauptthematik liegt, und meine Frage, um welches Thema es sich handle, blieb unbeantwortet, weil die Gedanken-Umschaltung offensichtlich nicht funktioniert hat.

 

Um dieses Problem erneut zur Sprache zu bringen, ohne den alten Fall aufzuwärmen, erfinde ich ein ganz neues Beispiel: in einem Text taucht plötzlich folgende Passage auf: a b c d e . Wie kann man sagen, was in dieser Passage steht? Man kann es natürlich nur sagen, wenn man sie sieht. Man sollte es aber mit anderen Worten bzw. mit anderen Zeichen sagen. Nur wenn man das kann, hat man verstanden.

 

Maximilian Prechtl gibt auf Anhieb eine zutreffende Antwort: „die ersten fünf Buchstaben des Alphabets“.

Er sagt etwas, was gar nicht „da steht“. Denn seine sechs Wörter sehen ganz anders aus als die angegebenen fünf Buchstaben. Aber er sagt damit, „was“ sie sind, und mit dem „was“ hat er eine andere Ebene erreicht: die Ebene des Sagens, das etwas anderes sagt als das Gesehene – und dennoch das Gesehene richtig wiedergibt. Er hat die richtigen Begriffe gefunden, um die eher begriffslose Buchstabenreihe zu benennen.

 

Maximilian Prechtl ist heute zum ersten Mal in diesem Jahr wieder ins Seminar gekommen, das heißt er hat mehrere Monate ohne Aristoteles- und Hermann-Lektüre zugebracht. Was ihm offensichtlich nicht geschadet hat, eher genützt. Er hat einfach sein Alltagswissen, seinen common sense, sein durchschnittliches Bildungswissen eingeschaltet und seine Antwort aus dem bezogen, ohne irgendeine Angst, etwa eine zu wenig philosophische Antwort liefern.

 

Auf die Frage, ob der Psychoanalytiker Jacques Lacan einen Begriff für die Erfüllung des Begehrens hat, muß man nicht nur Lacan ein bißchen kennen, man muß auch den richtigen Begriff aus dem Gedächtnis abrufen können und den Mut haben, ihn auszusprechen. Man muß schalten, einschalten, umschalten können.

 

 

 

Die Architektonik der sogenannten Metaphysik sieht ungefähr so aus, daß ihre Hauptlinie, die theologische, zu dem einzigartigen Wesen führt, welches das einzige unkörperliche Wesen ist, das sich durch eine zu allen schon bekannten Ursachen hinzukommende Verursachungskraft, durch ein Höchstmaß an Erkenntisleistung (mitsamt Reflexion) und ein Höchstmaß an Lust (Freude) auszeichnet. Dieses Wesen wird laut Aristoteles von den Menschen bewundert, begehrt und geliebt. Es selber realisiert vom Begehren nur dessen Erfüllung, es ist selber „nur“ Lustprinzip. Beim Menschen herrscht laut Freud nicht nur das Lustprinzip (laut Aristoteles ähnlich).

 

Mit diesen Qualitäten steht jenes einzigartige Wesen an der Spitze der Realitätssorten, die von den vier Elementen über die Lebewesen (inkl. Menschen) bis zu den Himmelskörpern reichen. Die meisten Realitätssorten sind in den diversen Schriften zur Physik abgehandelt worden, die epistemischen und hedonischen Leistungen in den Schriften zur Logik, zur Ethik und zur Poetik.

 

Die Metaphysik selber ist so ein umfangreiches und unübersichtliches Buch geworden, weil sich neben der theologischen Linie oder quer zu ihr viel massiver noch eine andere bislang kaum vorhandene Wissenschaft ausbreitet, die von der Logik ausgehend die Seinsmodalitäten expliziert: formale Qualitäten und Nuancierungen an sämtlichen Entitäten. Die Wissenschaft vom Seienden als Seienden, später „Ontologie“ benannt. Als schwache Gegenteile zu Wirklichkeit, Selbständigkeit und Vollkommenheit werden von Aristoteles etwa genannt: das Mögliche, das Falsche, die Akzidenzien (so auch die Eigenschaft „verstümmelt“ (1024a 11ff.)).[1]

 

Im Buch XIII wird diese typisch aristotelische Spezialwissenschaft, die bereits in IV, V, VII, VIII, IX, X und XI ausgebreitet worden ist, fortgesetzt. Zuerst anhand von Gegenständen der Mathematik; von Kap. 10 an mit der Diskussion einiger ihrer Hauptbegriffe wie Wesen, Element, Prinzip, Allgemeines, Einzelding.

 

Aristoteles behauptet, daß die Auffassung der Wesen als Einzeldinge und nicht als Allgemeines dazu führen würde, daß es nur so viele Dinge gäbe wie Elemente und diese wären dann nicht wissenschaftlich erfaßbar. Und er versucht, diese Behauptung mit einem anschaulichen Beispiel zu belegen, indem er für die Wesen die Wörter einsetzt und für die Elemente die Silben. Tatsächlich eine Annäherung an die Atomisten, weil diese ihre Physik auch auf das Phänomen der Sprache ausgedehnt haben. Die Buchstaben, die ich in meinem didaktischen Beispiel zur Erscheinung gebracht habe, weiten das Feld der Mesophysik in Richtung Mikrophysik aus.

 

Aristoteles geht es darum, die Allgemeinheit der Elemente zu retten - und damit auch die der anderen Dinge, etwa der Dreiecke, die alle dieselbe Winkelsumme aufweisen, oder der Menschen, die alle Lebewesen sind (auch dann, wenn sie sich angeblich darüber erheben (dies eine Bemerkung im Jahr 2023 nach Chr.)).

 

Aus der Allgemeinheit der Prinzipien ergebe sich, so Aristoteles, daß das Nicht-Wesen früher sei als das Wesen.

 

Auf den Begriff des Nicht-Wesens stoße ich hier zum ersten Mal, zweifellos eine Art Ereignis, das stutzig machen sollte. Worum handelt es sich?

 

Der angebliche Begriff des Nicht-Wesens wird gleich im folgenden Satz zurechtgerückt: „Denn das Allgemeine ist nicht Wesen, doch das Element und das Prinzip sind früher als das, wovon sie Prinzip und Wesen sind.“ (1087a 3f.)

 

Mit Nicht-Wesen ist das gemeint, was vor dem Wesen zu denken ist: dasjenige, woraus es besteht, also Prinzip und Element.

 

Wir haben festgestellt, daß es in der Philosophie -bis heute – ein Gerangel zwischen substantivischen und verbalen Wortformen gibt. So stellt auch Aristoteles „Wissenschaft“ und „Wissen“ unmittelbar nebeneinander. Die beiden Begriffsformen wechseln von Anfang an einander ab: „Streben nach Wissen“, „gesuchte Wissenschaft“. Andererseits ist das Wissen ständig getragen von sinnlicher Wahrnehmung. Der Gesichtssinn sieht diese Farbe, die auch die allgemeine Farbe ist. Der Grammatiker, das ist der Linguist, der die geschriebene Sprache untersucht, sieht diesen Buchstaben A, der auch der Buchstabe A überhaupt ist.

 

Eine Zusatzfrage an den common sense: hängen diese beiden Sehen, diese beiden Sichtbarkeiten zusammen?

 

Nach Beantwortung dieser Frage gehen wir über zum Buch XIV.

 

Um den Begriff „Prinzip“ zu klären, greift Aristoteles nun auf den Begriff „Gegenteil“ zurück, der notwendigerweise pluralisiert wird, womit auch das Prinzip aus seiner Singularisierung herausgeholt wäre. Er bezieht sich damit auf ältere Prinzipienlehren wie diejenigen von Pythagoras oder Empedokles.

 

Aristoteles betont jedoch, daß die Gegenteile nicht selbständig existieren, sie hängen einem Substrat an. Daher können sie nicht eigentlich Prinzip sein.

 

Für das Wesen, wie es sich zeigt, und wie der Begriff es bezeugt, gibt es kein Gegenteil.

 

Dieser Satz rückt das Wesen, also die Wesen, aus dem Spiel der Gegenteile heraus.

 

Aber zuvörderst rückt er es epistemisch in die Spannung von Erscheinung und Begrifflichkeit hinein.

 

Walter Seitter

 

 


[1] Im Laufe unserer Lektüre habe ich oft auf die Spannung zwischen Minimal- und Maximalontologie hingewiesen, die nicht mit der eventuellen Hierarchie zwischen niedrigen und höheren Wesen zu verwechseln ist.

 

Die Minimalontologie thematisiert die Absetzung der Entitäten vom Nichts bzw. die „wenig“ seienden Entitäten. Der französische Philosoph Tristan Garcia widmet sich dem Bereich des Minimalen in Laisser etre et rendre puissant (Paris 2023). 

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