τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 29. April 2020

In der Metaphysik lesen (1056b 15 – 1058a 9)


Die zuletzt gelesenen Zeilen (1056b 4-9) haben nicht so viele Kommentare, Repliken oder Anfragen bekommen, wie sie verdient haben.

Das Eine, das das offizielle Thema des Buches X zu sein scheint, ist ja das ontologisch Eine, also das Einheitliche und womöglich Unzerlegbare (Individuum). Wenn Aristoteles ihm das Viele oder die vielen als Gegenteil gegenüberstellt, dann tauscht er unter Hand das ontologisch Eine gegen das numerisch Eine aus. Denn das Gegenteil des ontologisch Einen ist nicht das Viele, sondern das Vielheitliche, das Uneinheitliche, das Zerlegbare  (Dividuum), jedenfalls Un-Eine. Doch davon ist hier keine Rede.

Vielmehr macht Aristoteles, wenn er bei den Vielen angekommen ist, auf dem Absatz kehrt, schaut zurück zum Einen, identifiziert es als Zahlwort und macht ihm das zweifelhafte Kompliment, ihm das unbestimmte Zahlwort „wenig“ an den Kopf zu werfen.

Die Einführung der unbestimmten Zahlwörter „viel“ und „wenig“ ist der sprachliche Trick, mit dem Aristoteles die Zahlen, die ja diskrete Quantenangaben leisten, durch stetige Quantitätsangaben zu ersetzen, jedenfalls supplementär zu begleiten.

Wenig, manch, viel, endlich oder unendlich viel, all – das sind unbestimmte Zahlwörter, die man parallel zu bestimmten Zahlwörtern einsetzen kann – etwa um solche zu kommentieren, einzuschätzen oder abzuschätzen. Je nachdem, worum es sich handelt, sind zwei ganz schön viele (1056b 7f.). Zehn oder zwanzig können, wenn es sich um Preisangaben für bestimmte Dinge handelt, als wenig wahrgenommen werden. 

Aristoteles erlaubt sich nun die Frechheit, das Eine, das ursprünglich, zum Beispiel pythagoreisch, als etwas sehr Erhabenes galt, und bei ihm selber, nämlich ontologisch, eine ansehnliche Qualität verkörperte, als weniges zu deklassieren.

Noch dazu mit einer Formulierung, die achtloser, auch elliptischer, nicht sein könnte: nichts ist weniger als ..... Gemeint war: als eines .... also das Eine ist das Wenigste.

Aber diese Formulierung könnte streng genommen auch etwas anderes meinen: nichts ist noch weniger als ... eines. Was natürlich stimmt.

Das würde heißen, dass durch diese doppeldeutige Formel das Eine und das Nichts in eine Konkurrenz hineingezwungen werden, in der sie darum kämpfen müssen, wer von den beiden das Wenigste sein muß oder kann oder darf.

Zwar behauptet Aristoteles, dass eins keine Zahl ist und dass zwei die kleinste Zahl ist, womit er sozusagen in der altgriechischen Tradition verbleibt. Aber hier geht seine Rede doch in die Richtung, dass eins die kleinste Zahl ist. Sodaß insgesamt die Frage auftaucht, ob die Zahlenreihe mit eins oder mit zwei anfängt. Doch drückt er sich so aus, als würde er schon auf die moderne Ansicht vorgreifen, derzufolge es eine bloße Konventionsfrage ist, ob die Zahlenreihe mit ein oder mit kein sprich null anfängt – ohne Konsequenzen für diese Zahlenreihe. Beziehungsweise so, dass das Eine in eine Art Mitte zwischen nichts und vielen gerät.

Die Ontologie-Achse, deren Grundwort das „seiend“ ist, inkludiert ja auch das „nicht-seiend“. (1051b 34) Wenn das Seiende und das Eine konvertibel sind, könnte dann nicht auch das Eine, jedenfalls das Numerische, irgendwie das Keine inkludieren? Jedenfalls supponiert es es.

Oder aber man bleibt hartnäckiger als Aristoteles selber beim ontologisch Einen, dann würde das Eine bis zum Un-Einen reichen, was eher plausibel sein könnte als seine Annäherung an das Keine.

Nun wird man aus den hier zusammengestellten aristotelischen Aussagen nicht den Schluß ziehen können, Aristoteles vertrete irgendeine geheimnisvolle Lehre von der Koinzidenz von Sein und Nicht-Sein oder von Einem und Nicht-Einem. Wohl aber die schon öfter ausgesprochene Vermutung, in seiner Ontologie sei eine ausgeprägte Aufmerksameit, ja eine Stoßrichtung zum Minimalen am Werk (wofür „verstümmelt“ als ein andersartges Symptom schon aufgefallen ist). Was voraussetzt, dass seine Ontologie eine Unternehmung, eine Aktion ist – und zwar eine künstliche, eine kontingente. Was wiederum nicht ausschließt, dass in seiner Ontologie auch die Stoßrichtung zum Maximalen, jedenfalls zum Vollständigen und Vollkommenen ebenfalls am Werk ist (die er von Vorgängern wie Parmenides und Platon übernommen haben wird).

Aristoteles hat das Eine immer sozusagen von außen besprochen – anhand von Unterscheidungen, Gegenüberstellungen, die so weit gehen, dass er zwei ganz verschiedene Wörter für das Eine verwendet, nämlich das Eine und die Monade, und beide Wörter setzt er auch in den Plural.

In den folgenden Abschnitten wendet sich Aristoteles den logischen Ordnungsbegriffen Art und Gattung zu, die er im Abschnitt 7 nicht auf bestimmte Wesen bezieht, sondern auf die Palette der Farben, die, wie er im Anschluß an Platon behauptet, sich als Mittlere zwischen Weiß und Schwarz ergeben – mit unterschiedlichen Verteilunen von Mehr und Weniger. Alle Farben gehören zur Gattung „Farbe“ und innerhalb dieser Gattung spielen sich die farblichen Veränderungen ab. (1057a 18 – 1057b 33). [1]

Im Abschnitt 8 geht Aristoteles auf den Gattungsbegriff ein, der für ihn sozusagen Standard ist – nämlich auf die Gattung der Lebewesen. Innerhalb dieser Gattung unterscheidet er wie schon öfter zwei Arten, nämlich Pferd und Mensch. Das Gemeinsame zwischen den beiden ist die Gattung Lebewesen (zoon).

Und man kann sich fragen, warum Aristoteles diese These, die er schon x mal (z. B. im Buch VII) ausgeführt hat, hier im Buch X, dessen Hauptthema eigentlich nicht die Logik des Wesens ist, noch einmal vorträgt.

Damit berühren wir eine Eigentümlichkeit des aristotelischen Stils, die besonders in diesem Buch auffällt und entweder für Verwirrung oder für Langweiligkeit oder für beides sorgen kann. Aristotels wiederholt, rekurriert wieder und wieder. Er variiert oder aber er kontradiziert sich selber.

Hier tut er das, indem er behauptet, der Unterschied zwischen dem Pferd und dem Menschen sei ein Unterschied im Gemeinsamen, also in der Gattung. Der Unterschied sei ein „Gattungsunterschied“, der die Gattung selber verschieden macht. (1058a 8)

Was sonst „spezifische Differenz“ heißt, wird merkwürdigerweise nun „Gattungsdifferenz“ genannt und damit wird eine Aussagerichtung eingeschlagen, die das Verhältnis zwischen Gattung und Art(en) modifiziert. Es wird der  Differenz zwischen den Arten eine größere Wirkmächtigkeit zugeschrieben: sie fügt nicht bloß der Gattungsgemeinsamkeit ein paar zusätzliche Differenzierungen hinzu, sondern sie greift tief in sie ein, hier in die Animalität, die damit von Grund auf geteilt wird, die in sich selber konträr polarisiert wird: zwischen dem Pferdhaften und dem Menschenhaften. Dies nicht etwa aufgrund einer Sonderstellung des Menschen (so etwas wie eine „Krone der Schöpfung“ kennt Aristoteles nicht).

Man könnte sich sogar fragen, ob damit die Univozität des Begriffs „Lebewesen“ in Frage gestellt wird, da er als bloßer Gattungsbegriff notwendigerweise in diverse Arten zerfallen müsse. Andererseits würde damit die innere Einheit einer jeden Spezies gefestigt, da sie nicht aus „genus proximum“ und „differentia specifica“ zusammengestückelt wäre (wie es die Definitionslehre seit Aristoteles verlangt).


Walter Seitter





[1] Timaios 67e ff.. Platon erklärt hier den interessanten Sonderfall des Durchsichtig-Unsichtbaren, in dem die Farbe ausfällt. Diesen Sonderfall, der in der Schwärmerei von der „Transparenz“ ignoriert wird, habe ich gewürdigt in Walter : Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997): 62ff, 

Mittwoch, 22. April 2020

In der Metaphysik lesen (1055b 30 – 1056b 14)

Die Exkursion (bzw. Rekursion) zum Stichwort „verstümmelt“ – also zu einer extremen und extrem akzidenziellen Konkretisierung der Privation – hat eine paradoxe Präzisierung des angeblich wohlbekannten Begriffs des „Wesens“ erbracht. So zeigte sich einmal mehr, dass die Begriffe der Ontologie, auch wenn sie noch so weit auseinander zu liegen scheinen, sehr wohl ein Gefüge bilden.

Das Buch X rückt den Begriff des Einen in den Vordergrund und eröffnet damit eine eigene Achse der Ontologie – nach unserer Zählung ist es ungefähr die fünfte. Aber was er mit dem Einen anstellt, entspricht nicht der Vorgangsweise, wie sie etwa von Parmenides oder von Plotin überliefert ist.

Wir haben gesehen, dass der ontologische Begriff des Einen die Bedeutung „einheitlich“, „zusammengehörig“, „konsistent“ hat. [1] Es handelt sich, wie schon bemerkt, eher um einen adjektivischen, um einen qualitativen Begriff. Was ontologisch eines ist, ist entweder unzerlegbar oder zerlegbar. Nur das Unzerlegbare ist schlechthin Eines. Aus dem Zerlegbaren ergibt sich eine Menge (die den Vorteil hat, wahrnehmbar zu sein) – und somit viele, welche durch die vorausgesetzte Einheit, eine Formursache, zusammengehalten werden. Alle zusammengesetzten, also wahrnehmbaren und materiellen Wesen, etwa Lebewesen, sind solche Gebilde, in denen Einheit und Vielheit miteinander ringen. Mit der Zerstörung, also dem Tod, zerfällt die spezifische Einheit, vermutlich zugunsten kleinerer und niedrigerer Einheiten.

Aber dasselbe Wort „ein“ dient auch bei Aristoteles als Zahlwort. In dem Satz, das Eine könne nur ein Gegenteil haben (1055b 30), fungiert  jedenfalls das zweite, das kleingeschriebene „ein“ als Zahlwort. Und mit den Zahlen ist der Weg zu den Vielen freigegeben.

Aristoteles legt sogar das Eine in zwei Bedeutungen und in mehr als zwei Facetten auseinander und damit lenkt er seine uns schon bekannte Dihairesis- oder Differenzierungsleidenschaft genau in die richtige Richtung und er steigert ihre Energie, indem er sich zunächst einmal über das Eine und sein Umfeld lustig macht.

„Wenn nämlich die Vielen dem Einen schlechthin entgegengesetzt sind, ergeben sich einige unmögliche Folgerungen. Denn das Eine müßte dann weniges oder wenige sein, da ja die Vielen auch den Wenigen entgegengesetzt sind. Weiter müssten dann die Zwei viele sein, da das Zweifache als vielfaches – eben nach der Zwei – ausgesagt wird. Demnach wäre da Eine wenig; denn im Verhältnis zu was sollen die Zwei viele sein, wenn nicht im Verhältnis zu einem und zum Wenigen? Denn es gibt doch nichts Kleineres als das Eine.“ (1056b 9).

Wobei Aristoteles im letzten Satz „das Eine“ gar nicht hinschreibt. Es versteht sich von selbst, dass dieses „Kleinste“ nur das Eine sein kann – es ist dermaßen das Kleinste, dass man es gar nicht hnschreiben muß. Es ist so klein, dass es sich erübrigt, dass es ebenso gut verschwinden kann aus dieser Schrift. Dieses Kleinste tendiert gegen Nichts. Aristoteles schreibt es als Nichts hin – nämlich gar nicht. Performiertes Nichts.

Walter Seitter




[1] In seiner Poetik hat Aristoteles mit diesem Einheits-Begriff die Handlung  der Tragödie charakterisiert und damit den literarischen Handlungsbegiff dem ethischen gegenübergestellt – was keineswegs von allen Exegeten konsequent zur Kenntnis genommmen wird. Siehe Walter Seitter: Poetik lesen 1 (Berlin 2010): 76ff., 117ff.

Samstag, 11. April 2020

Diskussionsprotokoll

VERSTÜMMELUNG (Aristoteles, Metaphysik)

Ich springe auf die Feststellung von Walter Seitter auf, der sagt, das das „erste“ Wesen auch als „politisch“ bezeichnet werden könnte. Und möchte dazu zwei Zitate aus dem jüngsten (?) Roman von Claudio Magris bringen (Verfahren eingestellt, orig. non luogo a procedere), die gleichzeitig Beispiele dafür sind, wie wichtig die Unterscheidung (von Levinas und anderen) zwischen „Dire“ und „Dit“ ist, also zwischen wirklichem (lebendigen) Sprechen und einem (trockenen) etwas sagen.

Magris beschreibt gesellschaftliche und persönliche Situationen im Triest bzw. Friaul nach dem 1. Weltkrieg. „Ein wenig redet man über Politik, vor allem die lokale, da die Gäste mehr oder weniger die Leute sind, die etwas zu sagen haben in der Stadt. Das Freie Territorium Triest, die Ansprüche Titos, die Wunden der verstümmelten Stadt.“ (S. 99). Und etwas weiter: „SS-Hauptsturmführer Lerch, zuständig für das menschliche Schlachthaus und jetzt gastfreundlicher und gastlich aufgenommener Teilnehmer am Triester Dolce Vita. Nichts Besonderes, nur ein kleines, bescheidenes, aber dennoch recht angenehmes, ‚süßes‘ Leben in der Provinz, einer durch den eisernen Vorhang verstümmelten Provinz, die versucht, sich zu zerstreuen, in Erwartung dass dieser Vorhang sich hebt - oder sich auch nicht hebt, denn zum Glück befindet man sich ja auf der richtigen Seite des Theaters….“ (S. 100).

Die Verstümmelung ist hier natürlich metaphorisch, d. h. eigentlich poetisch zu verstehen, aber gerade dadurch erweitert sich m. E. unser Blick auf diesen Begriff. In diesem gesellschaftlich-historischen Sinne ist sie natürlich eine (akzidentelle) Beraubung von etwas, was einmal war und vielleicht wieder einmal sein wird, aber als gegenwärtigen Zustand beschreibt sie gleichzeitig auch das Wesen, das diese Stadt, diese Provinz jetzt eben „ist“. Ob Stadt oder Provinz auch ein Wesen haben, tritt in den Hintergrund, ist nicht die Frage. Darüber wird man sich verständigen können.

Das bestätigt meinen (vermutlich schwer zu beweisenden) Verdacht, dass das aristotelische „Wesen“ ein schwacher Begriff ist, verglichen mt den Akzidentien, bzw. eigentlich eine starke Bedeutung nur bekommen kann, wenn er „akzidentiert“ ist, d. h.  mit Eigenschaften aus dem wirklichen Leben aufgeladen. Sonst bleibt er ein Begriff, über den man sich sehr leicht verständigen kann, sozusagen ein „ja eh“-Begriff.

Gerhard Weinberger


Replik

Gerhard Weinberger greift den Vorschlag von Claudio Magris auf, die Eigenschaft "verstümmelt" einer Stadt zuzusprechen. In diesem Fall Triest nach dem Zweiten Weltkrieg - auch andere Städte haben damals ein dramatisches Schicksal erlitten, das als Zerstörung oder Zerreißung bezeichnet worden ist. Er meint dazu, damit werde der Begriff "metaphorisch" oder "poetisch" verstanden bzw. verwendet - aber nicht eigentlich mißbraucht. 

Aristoteles hat von vielen Sachen unterschiedlicher Art gemeint, sie könnten nicht verstümmelt oder beschädigt werden, weil sie eine Art von Gleichgültigkeit oder Resilienz aufweisen. Zwei Spezies von Dingen hat er herausgegriffen, die verstümmelbar seien: das eine Ding ist dasjenige, dem dieses mögliche Schicksal gemeinhin vorbehalten wird: der Mensch; das andere ist ein Küchengerät, das zu menschlicher Benützung bestimmt ist: der Becher. Wenn man einen Becher als "verstümmelt" bezeichnet, tut man ihm eine Ehre an, man personifiziert ihn gleichsam. Griechische Trinkgefäße trugen manchmal die Inschrift: ich bin der Becher des Kallias. Heute tragen ganz bescheidene Einkaufsgeräte die offizielle Inschrift: Ich bin ein Bio-Sackerl. Wenn eines zerrissen und nicht mehr verwendbar ist, dann ist es ein zerstörtes, ein ehemaliges Sackerl. Und es macht einen spürbaren Unterschied aus, ob so ein Sackerl kaputt gegangen ist oder mit ihm auch sechs rohe Eier zerbrochen sind. Zweierlei Wesen. 

Die zehn Kategorien bilden die erste Ontologie-Achse: eine Wesens-Kategorie und neun Akzidens-Kategorien, die in aller Regel immer mit dabei sind und die erdrückende Mehrheit ausmachen. Jedenfalls die entstandenen und vergänglichen Wesen - die sind alle unvermeidllcherweise "akzidentiert", wie Gerhard Weinberger mit einer glücklichen Wortbildung sagt: von Akzidenzien befallen, affiziert, überwuchert und oftmals von mobilen. Solange die Wesen stabil bleiben, werden sie als Selbstverständlichkeiten eher übersehen und man interessiert sich nur für den  Wechsel der Eigenschaften, der Tätigkeiten, der Größen, der Beziehungen. Wenn diese Veränderungen "katastrophal" werden, mag sich die Frage stellen, ob sie auch das jeweilige Wesen "angreifen" und transformieren, eigentlich müßte man sagen "transsubstanziieren". Bei gewissen Wesen - etwa den oben genannten Eiern, sofern sie von uns gegessen werden - passiert das regelmäßig: die von mir gegessenen Eier werden zerstört und in das Wesen namens Walter Seitter transsubstanziiert. Mit dem Ergebnis, daß dieses Wesen hoffentlich erhalten bleibt. Oder glauben wir den Posthumanisten, die sagen, die Spezies Mensch werde ausgerechnet jetzt durch eine andere ersetzt, was nur diese Posthumanisten wissen? Dramen spielen sich mit den Menschen auch dann und nur dann ab, wenn sie Menschen bleiben. 

Die übrigen Ontologie-Achsen wie Vermögen-Verwirklichung, Entstehung und Vergehen relativieren des weiteren die Bedeutung des Wesens-Begriffs - und sie tragen zur Einbeziehung des "wirklichen Lebens" bei. Die Achse "eines - viele", die im Buch X thematisiert wird, liegt nicht auf der Ebene des Wesensbegriffs - eher scheint sie das Akzidens der Quantität über seine Akzidens-Rolle zu erheben. Aber jedes Akzidens tendiert vielleicht zu einer Art "Akzidenzialismus"?


Walter Seitter 


PS.: Aufgrund der medizinpolizeilichen Lage bleiben die Mittwoch-Sitzungen weiterhin suspendiert und das Aristoteles-Seminar wird mit schriftlichen Beiträgen weitergeführt.

Ein Frohes Osterfest

wünscht

Walter Seitter

Mittwoch, 1. April 2020

"verstümmelt" (kolos) – Kommentar von Wilhelm Schwabe, Antwort und Gesprächsnotiz

Der Philosoph Wilhelm Schwabe hat mir einen Kommentar zum Protokoll vom 11. März geschickt, worauf ich ihm geantwortet habe. Und dann füge ich noch eine Gesprächsnotiz an.


Lieber Herr Seitter,

Ihre ausführliche Interpretation der Aussagen des Aristoteles über den Begriff "kolos" (verstümmelt) in Kap. 27 seines Begriffslexikons von Metaphysik Delta (V) habe ich gern und mit anhaltendem Interesse gelesen. Zwar bin ich z. Zt. in Traunkirchen, wo ich den Text des Aristoteles nicht zur Hand habe; aber es ist unverkennbar, dass Sie an diesem kleinen, unscheinbaren Kapitel grundlegende Züge der Substanzlehre des Aristoteles anschaulich und einleuchtend vorführen. Es geht nicht nur um den Unterschied von Verstümmelung und Zerstörung, sondern besonders auch um die Doppelung im Begriff "ousia" ('Wesenheit', Substanz), die sich "wunderbarerweise" genau entsprechend auch am deutschen Begriff "Wesen" zeigen lässt: Jeder konkrete individuelle Gegenstand kann im Deutschen als ein Wesen bezeichnet werden, er ist ein Wesen. Zugleich hat er aber auch "eine Was-Bestimmung, mit der dieses Wesen in eine Reihe von Wesensgleichen eintritt." Mit Verweis auf die Kategorienschrift unterscheiden Sie dieses "zweite", "gehabte Wesen" von dem "Wesen, das etwas oder jemand ist".

Sie erwähnen auch, dass das "zweite Wesen" von Aristoteles manchmal als eine bestimmte Funktion erklärt wird. Von dort kann man auf den Schluss des ersten Buches von Platons Politeia verweisen, wo demonstriert wird, dass die 'Bestheit' = Tugend (aretä) von Lebewesen und Werkzeugen darin besteht, dass sie ihr "eigentümliches Werk" (oikeion ergon) gut verrichten. So kommt man nämlich zu der wichtigsten Bestimmung der Substanz bei Aristoteles, zu dem Begriff des in eigentümlicher Weise "Am-Werk-Seins" oder "Tätigseins": energeia.

Man kann sich etwas wundern, dass Aristoteles in Delta 27 als Beispiel für Entitäten, die verstümmelt werden können, neben Menschen auch Trinkgefäße nennt. Denn im Deutschen können ja nur Lebewesen verstümmelt sein; einen Becher kann man "beschädigt" nennen, aber nicht "verstümmelt". Dem entspricht es, dass Sie in Ihrer "winzigen Geschichte" als Beispiel einer Verstümmelung die an einem vorher "wachsenden und gedeihenden ...natürlichen Wesen" gewählt haben. Aber das griechische Wort "kolos" kann wohl auch "beschädigt" heißen. Im Griechisch-Lexikon von Hermann Menge wird neben der Bedeutung "verstümmelt" auch angegeben "beschädigt, abgebrochen", mit den Beispielen "dorü" und "machä".

In Ihrem Satz: "Aristoteles ordnet das Verstümmelte logisch dem Beraubten unter, womit es in der Rangordnung der Logik ziemlich weit nach unten rutscht, ..." verstehe ich nicht, was Sie mit der Rangordnung "der Logik" meinen. Gibt es in der von Aristoteles begründeten formalen Logik überhaupt eine Rangordnung von Wesen? Müsste es nicht heißen "der Ontologie"?

Das Ergebnis Ihrer Interpretation formulieren Sie mit Emphase so: "..., der genannte Abschnitt 27 erweist sich als ein - geheimes - Epizentrum des aristotelischen Unternehmens", nämlich der uns in der "Metaphysik" vorliegenden Abhandlungen. Aber was ist eigentlich ein "Epizentrum"? Im Duden liest man die Erklärung: "senkrecht über dem Erdbebenherd liegender Erdoberflächenpunkt". Wenn Sie das Wort so verstehen, müsste diese Metaphorik m. E. näher erläutert werden.

Herzliche Grüße
von
Wilhelm Schwabe


***


Lieber Herr Schwabe,

ich danke Ihnen sehr für Ihre ausführliche Kommentierung.

Die "Rangordnung der Logik" bezieht sich darauf, daß das Stichwort "verstümmelt" im Verhältnis zu den anderen Begriffen des Buches V eine Sonderstellung einnimmt: es ist der am wenigsten allgemeine also der besonderste Begriff. In der aristotelischen Begriffsordnung steht es für ein Akzidens - und da kann es der Qualität, der "Affektion", der Privation zugeordnet werden, ist aber jeweils eine weniger allgemeine, eine ziemlich besondere Bestimmung. So sehr, daß es im Unterschied zu den anderen Begriffen nicht differenziert wird (pollachos legetai); die unterschiedlichen Anwendungsbereiche (Lebewesen, Gerät) werden einem univoken Begriff zugeordnet.

Die Besonderheit dieses Begriffs verhält sich zur Allgemeinheit der anderen etwa so wie species zu genus - und ist insofern eine logische. Aber alles innerhalb der Ontologie.

Der Begriff wird nicht auseinandergelegt, sondern einem anderen gegenübergestellt, nämlich dem "zerstört". Er bedeutet so etwas wie fast, annähernd, tendenziell zerstört, aber doch nicht zerstört - und als Unterscheidungskriterium wird das "Bleiben des Wesens" eingesetzt. Die Position dieses Akzidens ist mit derjenigen von "gebildet" (ebenfalls eine Qualität oder eine Affektion) vergleichbar - es hat aber zum Wesen eine noch engere Beziehung, eine dramatische, eine prekäre, denn es steht am Rand zur Vernichtung des Wesens.. "Gebildet" ist bei Aristoteles das Standardbeispiel für Akzidenzien - ins Begriffslexikon wird nur "verstümmelt" als ein "konkretes" Akzidens aufgenommen; ich würde sagen: ein extrem akzidenzielles Akzidens. Siehe Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 1: Die Katastrophe (accidens originale).

Mit Epizentrum meine ich genauer gesagt eine Anzeige für die Stoßrichtung, jedenfalls für eine Stoßrichtung der aristotelischen Ontologie, welche ich Minimal-Ontologie nennen würde, und die besteht darin, auch die schwachen und prekären Qualitäten zu bewahren, sie nicht als me onta zu disqualifizieren. In Anlehnung an eine bekannte Formel: die geringfügig Seienden retten.

Daß bei Aristoteles auch die Vollkommenheiten ihren Platz finden, ist natürlich unbestritten.

Am Ende des Abschnittes über die Privation zieht er ein Resümee auf der Ebene der Ethik: nicht jeder Mensch ist entweder gut oder schlecht, viele sind irgendwo dazwischen. (1023a 7)

Mit den besten Wünschen

grüßt Sie

Walter Seitter


***


Gesprächsnotiz

Vor wenigen Tagen führten Bernd Schmeikal und ich ein Gespräch, in dem wir wieder auf die Präzisierung des aristotelischen Wesensbegriffs zurückkommen.

Der ist zwar seit über 2000 Jahren bekannt, jedenfalls könnte er bekannt sein - aber unterschiedliche sprachliche, wissenschaftliche, religiöse und vielleicht auch politische Umstände haben dazu beigetragen, daß jener Begriff immer wieder verwechselt, verkannt, verworfen oder vergessen worden ist.

Eine anfängliche Bedingung dafür liegt in den Texten des Aristoteles selber, wo der Begriff an vielen Stellen mit relativ starker Kohärenz eingesetzt wird - so etwa in der Physik, in der Poetik. Eingeführt wird er in der sogenannten Metaphysik, jenem Textensemble, das von Aristoteles weder so benannt noch überhaupt finalisiert worden ist. Die Einführung findet sich im Buch IV, die konsequente Ausarbeitung dann in den Büchern VII und VIII. Und in einigen weiteren Büchern wird die Betrachtungsweise, in die der Begriff hineingehört und die um 1600 den Namen "Ontologie" erhielt, entfaltet.

Im Gefüge der Ontologie ist "Wesen" nur einer von mehreren Hauptbegriffen. Andere: Entstehung, Wirklichkeit, ein.

Wie wir vor einiger Zeit festgestellt haben, lassen sich an dem Begriff des Wesens zwei komplementäre Aspekte feststellen, die umgangssprachlich so unterschieden werden, daß irgendetwas ein Wesen "ist" - und daß so ein etwas ein Wesen "hat".

Dieses "zweite" Wesen kann man auch nennen: Washeit, Sosein, Spezies, Funktion.

Und das "erste" Wesen: Individuum. Peter Pramhas hat dazu den Begriff "Würde" assoziiert.

Erstens - Individuum, Würde.

Zweitens - Spezies, Funktion.

Bernd Schmeikal bezeichnet das Zweite Wesen als "technisch-analytisch".

Ich meine, man könnte das Erste als "politisch" bezeichnen, weil da die Schätzung (Hochschätzung oder Geringschätzung) einer Singularität impliziert wird.

Allerdings kommt das Politische auch mit der Spezies zum Zug, weil damit ein Wesen in eine Reihe von Gleichartigen eintritt, in eine Gesellschaft von Koexistierenden.


Walter Seitter