τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 11. April 2020

Diskussionsprotokoll

VERSTÜMMELUNG (Aristoteles, Metaphysik)

Ich springe auf die Feststellung von Walter Seitter auf, der sagt, das das „erste“ Wesen auch als „politisch“ bezeichnet werden könnte. Und möchte dazu zwei Zitate aus dem jüngsten (?) Roman von Claudio Magris bringen (Verfahren eingestellt, orig. non luogo a procedere), die gleichzeitig Beispiele dafür sind, wie wichtig die Unterscheidung (von Levinas und anderen) zwischen „Dire“ und „Dit“ ist, also zwischen wirklichem (lebendigen) Sprechen und einem (trockenen) etwas sagen.

Magris beschreibt gesellschaftliche und persönliche Situationen im Triest bzw. Friaul nach dem 1. Weltkrieg. „Ein wenig redet man über Politik, vor allem die lokale, da die Gäste mehr oder weniger die Leute sind, die etwas zu sagen haben in der Stadt. Das Freie Territorium Triest, die Ansprüche Titos, die Wunden der verstümmelten Stadt.“ (S. 99). Und etwas weiter: „SS-Hauptsturmführer Lerch, zuständig für das menschliche Schlachthaus und jetzt gastfreundlicher und gastlich aufgenommener Teilnehmer am Triester Dolce Vita. Nichts Besonderes, nur ein kleines, bescheidenes, aber dennoch recht angenehmes, ‚süßes‘ Leben in der Provinz, einer durch den eisernen Vorhang verstümmelten Provinz, die versucht, sich zu zerstreuen, in Erwartung dass dieser Vorhang sich hebt - oder sich auch nicht hebt, denn zum Glück befindet man sich ja auf der richtigen Seite des Theaters….“ (S. 100).

Die Verstümmelung ist hier natürlich metaphorisch, d. h. eigentlich poetisch zu verstehen, aber gerade dadurch erweitert sich m. E. unser Blick auf diesen Begriff. In diesem gesellschaftlich-historischen Sinne ist sie natürlich eine (akzidentelle) Beraubung von etwas, was einmal war und vielleicht wieder einmal sein wird, aber als gegenwärtigen Zustand beschreibt sie gleichzeitig auch das Wesen, das diese Stadt, diese Provinz jetzt eben „ist“. Ob Stadt oder Provinz auch ein Wesen haben, tritt in den Hintergrund, ist nicht die Frage. Darüber wird man sich verständigen können.

Das bestätigt meinen (vermutlich schwer zu beweisenden) Verdacht, dass das aristotelische „Wesen“ ein schwacher Begriff ist, verglichen mt den Akzidentien, bzw. eigentlich eine starke Bedeutung nur bekommen kann, wenn er „akzidentiert“ ist, d. h.  mit Eigenschaften aus dem wirklichen Leben aufgeladen. Sonst bleibt er ein Begriff, über den man sich sehr leicht verständigen kann, sozusagen ein „ja eh“-Begriff.

Gerhard Weinberger


Replik

Gerhard Weinberger greift den Vorschlag von Claudio Magris auf, die Eigenschaft "verstümmelt" einer Stadt zuzusprechen. In diesem Fall Triest nach dem Zweiten Weltkrieg - auch andere Städte haben damals ein dramatisches Schicksal erlitten, das als Zerstörung oder Zerreißung bezeichnet worden ist. Er meint dazu, damit werde der Begriff "metaphorisch" oder "poetisch" verstanden bzw. verwendet - aber nicht eigentlich mißbraucht. 

Aristoteles hat von vielen Sachen unterschiedlicher Art gemeint, sie könnten nicht verstümmelt oder beschädigt werden, weil sie eine Art von Gleichgültigkeit oder Resilienz aufweisen. Zwei Spezies von Dingen hat er herausgegriffen, die verstümmelbar seien: das eine Ding ist dasjenige, dem dieses mögliche Schicksal gemeinhin vorbehalten wird: der Mensch; das andere ist ein Küchengerät, das zu menschlicher Benützung bestimmt ist: der Becher. Wenn man einen Becher als "verstümmelt" bezeichnet, tut man ihm eine Ehre an, man personifiziert ihn gleichsam. Griechische Trinkgefäße trugen manchmal die Inschrift: ich bin der Becher des Kallias. Heute tragen ganz bescheidene Einkaufsgeräte die offizielle Inschrift: Ich bin ein Bio-Sackerl. Wenn eines zerrissen und nicht mehr verwendbar ist, dann ist es ein zerstörtes, ein ehemaliges Sackerl. Und es macht einen spürbaren Unterschied aus, ob so ein Sackerl kaputt gegangen ist oder mit ihm auch sechs rohe Eier zerbrochen sind. Zweierlei Wesen. 

Die zehn Kategorien bilden die erste Ontologie-Achse: eine Wesens-Kategorie und neun Akzidens-Kategorien, die in aller Regel immer mit dabei sind und die erdrückende Mehrheit ausmachen. Jedenfalls die entstandenen und vergänglichen Wesen - die sind alle unvermeidllcherweise "akzidentiert", wie Gerhard Weinberger mit einer glücklichen Wortbildung sagt: von Akzidenzien befallen, affiziert, überwuchert und oftmals von mobilen. Solange die Wesen stabil bleiben, werden sie als Selbstverständlichkeiten eher übersehen und man interessiert sich nur für den  Wechsel der Eigenschaften, der Tätigkeiten, der Größen, der Beziehungen. Wenn diese Veränderungen "katastrophal" werden, mag sich die Frage stellen, ob sie auch das jeweilige Wesen "angreifen" und transformieren, eigentlich müßte man sagen "transsubstanziieren". Bei gewissen Wesen - etwa den oben genannten Eiern, sofern sie von uns gegessen werden - passiert das regelmäßig: die von mir gegessenen Eier werden zerstört und in das Wesen namens Walter Seitter transsubstanziiert. Mit dem Ergebnis, daß dieses Wesen hoffentlich erhalten bleibt. Oder glauben wir den Posthumanisten, die sagen, die Spezies Mensch werde ausgerechnet jetzt durch eine andere ersetzt, was nur diese Posthumanisten wissen? Dramen spielen sich mit den Menschen auch dann und nur dann ab, wenn sie Menschen bleiben. 

Die übrigen Ontologie-Achsen wie Vermögen-Verwirklichung, Entstehung und Vergehen relativieren des weiteren die Bedeutung des Wesens-Begriffs - und sie tragen zur Einbeziehung des "wirklichen Lebens" bei. Die Achse "eines - viele", die im Buch X thematisiert wird, liegt nicht auf der Ebene des Wesensbegriffs - eher scheint sie das Akzidens der Quantität über seine Akzidens-Rolle zu erheben. Aber jedes Akzidens tendiert vielleicht zu einer Art "Akzidenzialismus"?


Walter Seitter 


PS.: Aufgrund der medizinpolizeilichen Lage bleiben die Mittwoch-Sitzungen weiterhin suspendiert und das Aristoteles-Seminar wird mit schriftlichen Beiträgen weitergeführt.

Ein Frohes Osterfest

wünscht

Walter Seitter

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