VERSTÜMMELUNG (Aristoteles, Metaphysik)
Ich springe auf die
Feststellung von Walter Seitter auf, der sagt, das das „erste“ Wesen auch als
„politisch“ bezeichnet werden könnte. Und möchte dazu zwei Zitate aus dem
jüngsten (?) Roman von Claudio Magris bringen (Verfahren eingestellt,
orig. non luogo a procedere), die gleichzeitig Beispiele dafür sind, wie
wichtig die Unterscheidung (von Levinas und anderen) zwischen „Dire“ und „Dit“
ist, also zwischen wirklichem (lebendigen) Sprechen und einem (trockenen) etwas
sagen.
Magris beschreibt
gesellschaftliche und persönliche Situationen im Triest bzw. Friaul nach dem 1.
Weltkrieg. „Ein wenig redet man über Politik, vor allem die lokale, da die
Gäste mehr oder weniger die Leute sind, die etwas zu sagen haben in der Stadt.
Das Freie Territorium Triest, die Ansprüche Titos, die Wunden der verstümmelten
Stadt.“ (S. 99). Und etwas weiter: „SS-Hauptsturmführer Lerch, zuständig für
das menschliche Schlachthaus und jetzt gastfreundlicher und gastlich
aufgenommener Teilnehmer am Triester Dolce Vita. Nichts Besonderes, nur ein
kleines, bescheidenes, aber dennoch recht angenehmes, ‚süßes‘ Leben in der
Provinz, einer durch den eisernen Vorhang verstümmelten Provinz, die versucht,
sich zu zerstreuen, in Erwartung dass dieser Vorhang sich hebt - oder sich auch
nicht hebt, denn zum Glück befindet man sich ja auf der richtigen Seite des
Theaters….“ (S. 100).
Die Verstümmelung ist hier
natürlich metaphorisch, d. h. eigentlich poetisch zu verstehen, aber gerade
dadurch erweitert sich m. E. unser Blick auf diesen Begriff. In diesem
gesellschaftlich-historischen Sinne ist sie natürlich eine (akzidentelle)
Beraubung von etwas, was einmal war und vielleicht wieder einmal sein wird,
aber als gegenwärtigen Zustand beschreibt sie gleichzeitig auch das Wesen, das
diese Stadt, diese Provinz jetzt eben „ist“. Ob Stadt oder Provinz auch ein
Wesen haben, tritt in den Hintergrund, ist nicht die Frage. Darüber wird man
sich verständigen können.
Das bestätigt meinen
(vermutlich schwer zu beweisenden) Verdacht, dass das aristotelische „Wesen“
ein schwacher Begriff ist, verglichen mt den Akzidentien, bzw. eigentlich eine
starke Bedeutung nur bekommen kann, wenn er „akzidentiert“ ist, d. h. mit Eigenschaften aus dem wirklichen Leben
aufgeladen. Sonst bleibt er ein Begriff, über den man sich sehr leicht
verständigen kann, sozusagen ein „ja eh“-Begriff.
Gerhard Weinberger
Replik
Gerhard Weinberger greift
den Vorschlag von Claudio Magris auf, die Eigenschaft
"verstümmelt" einer Stadt zuzusprechen. In diesem Fall Triest nach
dem Zweiten Weltkrieg - auch andere Städte haben damals ein dramatisches
Schicksal erlitten, das als Zerstörung oder Zerreißung bezeichnet worden
ist. Er meint dazu, damit werde der Begriff "metaphorisch" oder "poetisch" verstanden
bzw. verwendet - aber nicht eigentlich mißbraucht.
Aristoteles hat von vielen
Sachen unterschiedlicher Art gemeint, sie könnten nicht verstümmelt oder
beschädigt werden, weil sie eine Art von Gleichgültigkeit oder Resilienz
aufweisen. Zwei Spezies von Dingen hat er herausgegriffen, die verstümmelbar
seien: das eine Ding ist dasjenige, dem dieses mögliche Schicksal gemeinhin
vorbehalten wird: der Mensch; das andere ist ein Küchengerät, das zu
menschlicher Benützung bestimmt ist: der Becher. Wenn man einen Becher als
"verstümmelt" bezeichnet, tut man ihm eine Ehre an, man
personifiziert ihn gleichsam. Griechische Trinkgefäße trugen manchmal die
Inschrift: ich bin der Becher des Kallias. Heute tragen ganz bescheidene
Einkaufsgeräte die offizielle Inschrift: Ich bin ein Bio-Sackerl. Wenn
eines zerrissen und nicht mehr verwendbar ist, dann ist es ein zerstörtes, ein
ehemaliges Sackerl. Und es macht einen spürbaren Unterschied aus, ob so ein
Sackerl kaputt gegangen ist oder mit ihm auch sechs rohe Eier zerbrochen sind.
Zweierlei Wesen.
Die zehn Kategorien bilden
die erste Ontologie-Achse: eine Wesens-Kategorie und neun Akzidens-Kategorien,
die in aller Regel immer mit dabei sind und die erdrückende Mehrheit ausmachen.
Jedenfalls die entstandenen und vergänglichen Wesen - die sind alle
unvermeidllcherweise "akzidentiert", wie Gerhard Weinberger mit einer
glücklichen Wortbildung sagt: von Akzidenzien befallen, affiziert, überwuchert
und oftmals von mobilen. Solange die Wesen stabil bleiben, werden sie als
Selbstverständlichkeiten eher übersehen und man interessiert sich nur für den
Wechsel der Eigenschaften, der Tätigkeiten, der Größen, der Beziehungen. Wenn
diese Veränderungen "katastrophal" werden, mag sich die Frage
stellen, ob sie auch das jeweilige Wesen "angreifen" und
transformieren, eigentlich müßte man sagen "transsubstanziieren". Bei
gewissen Wesen - etwa den oben genannten Eiern, sofern sie von uns gegessen
werden - passiert das regelmäßig: die von mir gegessenen Eier werden
zerstört und in das Wesen namens Walter Seitter transsubstanziiert. Mit dem
Ergebnis, daß dieses Wesen hoffentlich erhalten bleibt. Oder glauben wir den
Posthumanisten, die sagen, die Spezies Mensch werde ausgerechnet jetzt durch
eine andere ersetzt, was nur diese Posthumanisten wissen? Dramen spielen sich
mit den Menschen auch dann und nur dann ab, wenn sie Menschen bleiben.
Die übrigen
Ontologie-Achsen wie Vermögen-Verwirklichung, Entstehung und Vergehen
relativieren des weiteren die Bedeutung des Wesens-Begriffs - und sie tragen
zur Einbeziehung des "wirklichen Lebens" bei. Die Achse
"eines - viele", die im Buch X thematisiert wird, liegt nicht auf der
Ebene des Wesensbegriffs - eher scheint sie das Akzidens der Quantität über
seine Akzidens-Rolle zu erheben. Aber jedes Akzidens tendiert vielleicht zu
einer Art "Akzidenzialismus"?
PS.: Aufgrund der
medizinpolizeilichen Lage bleiben die Mittwoch-Sitzungen weiterhin suspendiert
und das Aristoteles-Seminar wird mit schriftlichen Beiträgen weitergeführt.
Ein Frohes Osterfest
wünscht
Walter Seitter
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