Das
Buch X rückt den Begriff des Einen in den Vordergrund und eröffnet damit eine
eigene Achse der Ontologie – nach unserer Zählung ist es ungefähr die fünfte.
Aber was er mit dem Einen anstellt, entspricht nicht der Vorgangsweise, wie sie
etwa von Parmenides oder von Plotin überliefert ist.
Wir
haben gesehen, dass der ontologische Begriff des Einen die Bedeutung
„einheitlich“, „zusammengehörig“, „konsistent“ hat. [1] Es handelt sich, wie
schon bemerkt, eher um einen adjektivischen, um einen qualitativen Begriff. Was
ontologisch eines ist, ist entweder unzerlegbar oder zerlegbar. Nur das
Unzerlegbare ist schlechthin Eines. Aus dem Zerlegbaren ergibt sich eine Menge
(die den Vorteil hat, wahrnehmbar zu sein) – und somit viele, welche durch die vorausgesetzte
Einheit, eine Formursache, zusammengehalten werden. Alle zusammengesetzten,
also wahrnehmbaren und materiellen Wesen, etwa Lebewesen, sind solche Gebilde,
in denen Einheit und Vielheit miteinander ringen. Mit der Zerstörung, also dem
Tod, zerfällt die spezifische Einheit, vermutlich zugunsten kleinerer und
niedrigerer Einheiten.
Aber
dasselbe Wort „ein“ dient auch bei Aristoteles als Zahlwort. In dem Satz, das
Eine könne nur ein Gegenteil haben (1055b 30), fungiert jedenfalls das zweite, das kleingeschriebene
„ein“ als Zahlwort. Und mit den Zahlen ist der Weg zu den Vielen freigegeben.
Aristoteles
legt sogar das Eine in zwei Bedeutungen und in mehr als zwei Facetten
auseinander und damit lenkt er seine uns schon bekannte Dihairesis- oder
Differenzierungsleidenschaft genau in die richtige Richtung und er steigert ihre
Energie, indem er sich zunächst einmal über das Eine und sein Umfeld lustig
macht.
„Wenn
nämlich die Vielen dem Einen schlechthin entgegengesetzt sind, ergeben sich einige
unmögliche Folgerungen. Denn das Eine müßte dann weniges oder wenige sein, da
ja die Vielen auch den Wenigen entgegengesetzt sind. Weiter müssten dann die
Zwei viele sein, da das Zweifache als vielfaches – eben nach der Zwei –
ausgesagt wird. Demnach wäre da Eine wenig; denn im Verhältnis zu was sollen
die Zwei viele sein, wenn nicht im Verhältnis zu einem und zum Wenigen? Denn es
gibt doch nichts Kleineres als das Eine.“ (1056b 9).
Wobei
Aristoteles im letzten Satz „das Eine“ gar nicht hinschreibt. Es versteht sich
von selbst, dass dieses „Kleinste“ nur das Eine sein kann – es ist dermaßen das
Kleinste, dass man es gar nicht hnschreiben muß. Es ist so klein, dass es sich
erübrigt, dass es ebenso gut verschwinden kann aus dieser Schrift. Dieses
Kleinste tendiert gegen Nichts. Aristoteles schreibt es als Nichts hin –
nämlich gar nicht. Performiertes Nichts.
Walter Seitter
[1]
In seiner Poetik hat Aristoteles mit diesem Einheits-Begriff die Handlung der Tragödie charakterisiert und damit den
literarischen Handlungsbegiff dem ethischen gegenübergestellt – was keineswegs
von allen Exegeten konsequent zur Kenntnis genommmen wird. Siehe Walter
Seitter: Poetik lesen 1 (Berlin 2010): 76ff., 117ff.
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