τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Mittwoch, 22. April 2020

In der Metaphysik lesen (1055b 30 – 1056b 14)

Die Exkursion (bzw. Rekursion) zum Stichwort „verstümmelt“ – also zu einer extremen und extrem akzidenziellen Konkretisierung der Privation – hat eine paradoxe Präzisierung des angeblich wohlbekannten Begriffs des „Wesens“ erbracht. So zeigte sich einmal mehr, dass die Begriffe der Ontologie, auch wenn sie noch so weit auseinander zu liegen scheinen, sehr wohl ein Gefüge bilden.

Das Buch X rückt den Begriff des Einen in den Vordergrund und eröffnet damit eine eigene Achse der Ontologie – nach unserer Zählung ist es ungefähr die fünfte. Aber was er mit dem Einen anstellt, entspricht nicht der Vorgangsweise, wie sie etwa von Parmenides oder von Plotin überliefert ist.

Wir haben gesehen, dass der ontologische Begriff des Einen die Bedeutung „einheitlich“, „zusammengehörig“, „konsistent“ hat. [1] Es handelt sich, wie schon bemerkt, eher um einen adjektivischen, um einen qualitativen Begriff. Was ontologisch eines ist, ist entweder unzerlegbar oder zerlegbar. Nur das Unzerlegbare ist schlechthin Eines. Aus dem Zerlegbaren ergibt sich eine Menge (die den Vorteil hat, wahrnehmbar zu sein) – und somit viele, welche durch die vorausgesetzte Einheit, eine Formursache, zusammengehalten werden. Alle zusammengesetzten, also wahrnehmbaren und materiellen Wesen, etwa Lebewesen, sind solche Gebilde, in denen Einheit und Vielheit miteinander ringen. Mit der Zerstörung, also dem Tod, zerfällt die spezifische Einheit, vermutlich zugunsten kleinerer und niedrigerer Einheiten.

Aber dasselbe Wort „ein“ dient auch bei Aristoteles als Zahlwort. In dem Satz, das Eine könne nur ein Gegenteil haben (1055b 30), fungiert  jedenfalls das zweite, das kleingeschriebene „ein“ als Zahlwort. Und mit den Zahlen ist der Weg zu den Vielen freigegeben.

Aristoteles legt sogar das Eine in zwei Bedeutungen und in mehr als zwei Facetten auseinander und damit lenkt er seine uns schon bekannte Dihairesis- oder Differenzierungsleidenschaft genau in die richtige Richtung und er steigert ihre Energie, indem er sich zunächst einmal über das Eine und sein Umfeld lustig macht.

„Wenn nämlich die Vielen dem Einen schlechthin entgegengesetzt sind, ergeben sich einige unmögliche Folgerungen. Denn das Eine müßte dann weniges oder wenige sein, da ja die Vielen auch den Wenigen entgegengesetzt sind. Weiter müssten dann die Zwei viele sein, da das Zweifache als vielfaches – eben nach der Zwei – ausgesagt wird. Demnach wäre da Eine wenig; denn im Verhältnis zu was sollen die Zwei viele sein, wenn nicht im Verhältnis zu einem und zum Wenigen? Denn es gibt doch nichts Kleineres als das Eine.“ (1056b 9).

Wobei Aristoteles im letzten Satz „das Eine“ gar nicht hinschreibt. Es versteht sich von selbst, dass dieses „Kleinste“ nur das Eine sein kann – es ist dermaßen das Kleinste, dass man es gar nicht hnschreiben muß. Es ist so klein, dass es sich erübrigt, dass es ebenso gut verschwinden kann aus dieser Schrift. Dieses Kleinste tendiert gegen Nichts. Aristoteles schreibt es als Nichts hin – nämlich gar nicht. Performiertes Nichts.

Walter Seitter




[1] In seiner Poetik hat Aristoteles mit diesem Einheits-Begriff die Handlung  der Tragödie charakterisiert und damit den literarischen Handlungsbegiff dem ethischen gegenübergestellt – was keineswegs von allen Exegeten konsequent zur Kenntnis genommmen wird. Siehe Walter Seitter: Poetik lesen 1 (Berlin 2010): 76ff., 117ff.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen