τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 1. April 2020

"verstümmelt" (kolos) – Kommentar von Wilhelm Schwabe, Antwort und Gesprächsnotiz

Der Philosoph Wilhelm Schwabe hat mir einen Kommentar zum Protokoll vom 11. März geschickt, worauf ich ihm geantwortet habe. Und dann füge ich noch eine Gesprächsnotiz an.


Lieber Herr Seitter,

Ihre ausführliche Interpretation der Aussagen des Aristoteles über den Begriff "kolos" (verstümmelt) in Kap. 27 seines Begriffslexikons von Metaphysik Delta (V) habe ich gern und mit anhaltendem Interesse gelesen. Zwar bin ich z. Zt. in Traunkirchen, wo ich den Text des Aristoteles nicht zur Hand habe; aber es ist unverkennbar, dass Sie an diesem kleinen, unscheinbaren Kapitel grundlegende Züge der Substanzlehre des Aristoteles anschaulich und einleuchtend vorführen. Es geht nicht nur um den Unterschied von Verstümmelung und Zerstörung, sondern besonders auch um die Doppelung im Begriff "ousia" ('Wesenheit', Substanz), die sich "wunderbarerweise" genau entsprechend auch am deutschen Begriff "Wesen" zeigen lässt: Jeder konkrete individuelle Gegenstand kann im Deutschen als ein Wesen bezeichnet werden, er ist ein Wesen. Zugleich hat er aber auch "eine Was-Bestimmung, mit der dieses Wesen in eine Reihe von Wesensgleichen eintritt." Mit Verweis auf die Kategorienschrift unterscheiden Sie dieses "zweite", "gehabte Wesen" von dem "Wesen, das etwas oder jemand ist".

Sie erwähnen auch, dass das "zweite Wesen" von Aristoteles manchmal als eine bestimmte Funktion erklärt wird. Von dort kann man auf den Schluss des ersten Buches von Platons Politeia verweisen, wo demonstriert wird, dass die 'Bestheit' = Tugend (aretä) von Lebewesen und Werkzeugen darin besteht, dass sie ihr "eigentümliches Werk" (oikeion ergon) gut verrichten. So kommt man nämlich zu der wichtigsten Bestimmung der Substanz bei Aristoteles, zu dem Begriff des in eigentümlicher Weise "Am-Werk-Seins" oder "Tätigseins": energeia.

Man kann sich etwas wundern, dass Aristoteles in Delta 27 als Beispiel für Entitäten, die verstümmelt werden können, neben Menschen auch Trinkgefäße nennt. Denn im Deutschen können ja nur Lebewesen verstümmelt sein; einen Becher kann man "beschädigt" nennen, aber nicht "verstümmelt". Dem entspricht es, dass Sie in Ihrer "winzigen Geschichte" als Beispiel einer Verstümmelung die an einem vorher "wachsenden und gedeihenden ...natürlichen Wesen" gewählt haben. Aber das griechische Wort "kolos" kann wohl auch "beschädigt" heißen. Im Griechisch-Lexikon von Hermann Menge wird neben der Bedeutung "verstümmelt" auch angegeben "beschädigt, abgebrochen", mit den Beispielen "dorü" und "machä".

In Ihrem Satz: "Aristoteles ordnet das Verstümmelte logisch dem Beraubten unter, womit es in der Rangordnung der Logik ziemlich weit nach unten rutscht, ..." verstehe ich nicht, was Sie mit der Rangordnung "der Logik" meinen. Gibt es in der von Aristoteles begründeten formalen Logik überhaupt eine Rangordnung von Wesen? Müsste es nicht heißen "der Ontologie"?

Das Ergebnis Ihrer Interpretation formulieren Sie mit Emphase so: "..., der genannte Abschnitt 27 erweist sich als ein - geheimes - Epizentrum des aristotelischen Unternehmens", nämlich der uns in der "Metaphysik" vorliegenden Abhandlungen. Aber was ist eigentlich ein "Epizentrum"? Im Duden liest man die Erklärung: "senkrecht über dem Erdbebenherd liegender Erdoberflächenpunkt". Wenn Sie das Wort so verstehen, müsste diese Metaphorik m. E. näher erläutert werden.

Herzliche Grüße
von
Wilhelm Schwabe


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Lieber Herr Schwabe,

ich danke Ihnen sehr für Ihre ausführliche Kommentierung.

Die "Rangordnung der Logik" bezieht sich darauf, daß das Stichwort "verstümmelt" im Verhältnis zu den anderen Begriffen des Buches V eine Sonderstellung einnimmt: es ist der am wenigsten allgemeine also der besonderste Begriff. In der aristotelischen Begriffsordnung steht es für ein Akzidens - und da kann es der Qualität, der "Affektion", der Privation zugeordnet werden, ist aber jeweils eine weniger allgemeine, eine ziemlich besondere Bestimmung. So sehr, daß es im Unterschied zu den anderen Begriffen nicht differenziert wird (pollachos legetai); die unterschiedlichen Anwendungsbereiche (Lebewesen, Gerät) werden einem univoken Begriff zugeordnet.

Die Besonderheit dieses Begriffs verhält sich zur Allgemeinheit der anderen etwa so wie species zu genus - und ist insofern eine logische. Aber alles innerhalb der Ontologie.

Der Begriff wird nicht auseinandergelegt, sondern einem anderen gegenübergestellt, nämlich dem "zerstört". Er bedeutet so etwas wie fast, annähernd, tendenziell zerstört, aber doch nicht zerstört - und als Unterscheidungskriterium wird das "Bleiben des Wesens" eingesetzt. Die Position dieses Akzidens ist mit derjenigen von "gebildet" (ebenfalls eine Qualität oder eine Affektion) vergleichbar - es hat aber zum Wesen eine noch engere Beziehung, eine dramatische, eine prekäre, denn es steht am Rand zur Vernichtung des Wesens.. "Gebildet" ist bei Aristoteles das Standardbeispiel für Akzidenzien - ins Begriffslexikon wird nur "verstümmelt" als ein "konkretes" Akzidens aufgenommen; ich würde sagen: ein extrem akzidenzielles Akzidens. Siehe Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 1: Die Katastrophe (accidens originale).

Mit Epizentrum meine ich genauer gesagt eine Anzeige für die Stoßrichtung, jedenfalls für eine Stoßrichtung der aristotelischen Ontologie, welche ich Minimal-Ontologie nennen würde, und die besteht darin, auch die schwachen und prekären Qualitäten zu bewahren, sie nicht als me onta zu disqualifizieren. In Anlehnung an eine bekannte Formel: die geringfügig Seienden retten.

Daß bei Aristoteles auch die Vollkommenheiten ihren Platz finden, ist natürlich unbestritten.

Am Ende des Abschnittes über die Privation zieht er ein Resümee auf der Ebene der Ethik: nicht jeder Mensch ist entweder gut oder schlecht, viele sind irgendwo dazwischen. (1023a 7)

Mit den besten Wünschen

grüßt Sie

Walter Seitter


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Gesprächsnotiz

Vor wenigen Tagen führten Bernd Schmeikal und ich ein Gespräch, in dem wir wieder auf die Präzisierung des aristotelischen Wesensbegriffs zurückkommen.

Der ist zwar seit über 2000 Jahren bekannt, jedenfalls könnte er bekannt sein - aber unterschiedliche sprachliche, wissenschaftliche, religiöse und vielleicht auch politische Umstände haben dazu beigetragen, daß jener Begriff immer wieder verwechselt, verkannt, verworfen oder vergessen worden ist.

Eine anfängliche Bedingung dafür liegt in den Texten des Aristoteles selber, wo der Begriff an vielen Stellen mit relativ starker Kohärenz eingesetzt wird - so etwa in der Physik, in der Poetik. Eingeführt wird er in der sogenannten Metaphysik, jenem Textensemble, das von Aristoteles weder so benannt noch überhaupt finalisiert worden ist. Die Einführung findet sich im Buch IV, die konsequente Ausarbeitung dann in den Büchern VII und VIII. Und in einigen weiteren Büchern wird die Betrachtungsweise, in die der Begriff hineingehört und die um 1600 den Namen "Ontologie" erhielt, entfaltet.

Im Gefüge der Ontologie ist "Wesen" nur einer von mehreren Hauptbegriffen. Andere: Entstehung, Wirklichkeit, ein.

Wie wir vor einiger Zeit festgestellt haben, lassen sich an dem Begriff des Wesens zwei komplementäre Aspekte feststellen, die umgangssprachlich so unterschieden werden, daß irgendetwas ein Wesen "ist" - und daß so ein etwas ein Wesen "hat".

Dieses "zweite" Wesen kann man auch nennen: Washeit, Sosein, Spezies, Funktion.

Und das "erste" Wesen: Individuum. Peter Pramhas hat dazu den Begriff "Würde" assoziiert.

Erstens - Individuum, Würde.

Zweitens - Spezies, Funktion.

Bernd Schmeikal bezeichnet das Zweite Wesen als "technisch-analytisch".

Ich meine, man könnte das Erste als "politisch" bezeichnen, weil da die Schätzung (Hochschätzung oder Geringschätzung) einer Singularität impliziert wird.

Allerdings kommt das Politische auch mit der Spezies zum Zug, weil damit ein Wesen in eine Reihe von Gleichartigen eintritt, in eine Gesellschaft von Koexistierenden.


Walter Seitter

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