Der Philosoph Wilhelm
Schwabe hat mir einen Kommentar zum Protokoll vom 11. März geschickt, worauf
ich ihm geantwortet habe. Und dann füge ich noch eine Gesprächsnotiz an.
Lieber Herr Seitter,
Ihre ausführliche
Interpretation der Aussagen des Aristoteles über den Begriff "kolos"
(verstümmelt) in Kap. 27 seines Begriffslexikons von Metaphysik Delta (V) habe
ich gern und mit anhaltendem Interesse gelesen. Zwar bin ich z. Zt. in
Traunkirchen, wo ich den Text des Aristoteles nicht zur Hand habe; aber es ist
unverkennbar, dass Sie an diesem kleinen, unscheinbaren Kapitel grundlegende
Züge der Substanzlehre des Aristoteles anschaulich und einleuchtend vorführen.
Es geht nicht nur um den Unterschied von Verstümmelung und Zerstörung, sondern
besonders auch um die Doppelung im Begriff "ousia" ('Wesenheit',
Substanz), die sich "wunderbarerweise" genau entsprechend auch am
deutschen Begriff "Wesen" zeigen lässt: Jeder konkrete individuelle
Gegenstand kann im Deutschen als ein Wesen bezeichnet werden, er ist ein Wesen.
Zugleich hat er aber auch "eine Was-Bestimmung, mit der dieses Wesen in
eine Reihe von Wesensgleichen eintritt." Mit Verweis auf die
Kategorienschrift unterscheiden Sie dieses "zweite", "gehabte
Wesen" von dem "Wesen, das etwas oder jemand ist".
Sie erwähnen auch, dass
das "zweite Wesen" von Aristoteles manchmal als eine bestimmte
Funktion erklärt wird. Von dort kann man auf den Schluss des ersten Buches von
Platons Politeia verweisen, wo demonstriert wird, dass die 'Bestheit' = Tugend
(aretä) von Lebewesen und Werkzeugen darin besteht, dass sie ihr
"eigentümliches Werk" (oikeion ergon) gut verrichten. So kommt man
nämlich zu der wichtigsten Bestimmung der Substanz bei Aristoteles, zu dem
Begriff des in eigentümlicher Weise "Am-Werk-Seins" oder "Tätigseins":
energeia.
Man kann sich etwas
wundern, dass Aristoteles in Delta 27 als Beispiel für Entitäten, die
verstümmelt werden können, neben Menschen auch Trinkgefäße nennt. Denn im
Deutschen können ja nur Lebewesen verstümmelt sein; einen Becher kann man
"beschädigt" nennen, aber nicht "verstümmelt". Dem
entspricht es, dass Sie in Ihrer "winzigen Geschichte" als Beispiel
einer Verstümmelung die an einem vorher "wachsenden und gedeihenden
...natürlichen Wesen" gewählt haben. Aber das griechische Wort "kolos"
kann wohl auch "beschädigt" heißen. Im Griechisch-Lexikon von Hermann
Menge wird neben der Bedeutung "verstümmelt" auch angegeben
"beschädigt, abgebrochen", mit den Beispielen "dorü" und
"machä".
In Ihrem Satz:
"Aristoteles ordnet das Verstümmelte logisch dem Beraubten unter, womit es
in der Rangordnung der Logik ziemlich weit nach unten rutscht, ..."
verstehe ich nicht, was Sie mit der Rangordnung "der Logik" meinen.
Gibt es in der von Aristoteles begründeten formalen Logik überhaupt eine
Rangordnung von Wesen? Müsste es nicht heißen "der Ontologie"?
Das Ergebnis Ihrer
Interpretation formulieren Sie mit Emphase so: "..., der genannte
Abschnitt 27 erweist sich als ein - geheimes - Epizentrum des aristotelischen
Unternehmens", nämlich der uns in der "Metaphysik" vorliegenden
Abhandlungen. Aber was ist eigentlich ein "Epizentrum"? Im Duden
liest man die Erklärung: "senkrecht über dem Erdbebenherd liegender
Erdoberflächenpunkt". Wenn Sie das Wort so verstehen, müsste diese
Metaphorik m. E. näher erläutert werden.
Herzliche Grüße
von
Wilhelm Schwabe
***
Lieber Herr Schwabe,
ich danke Ihnen sehr für
Ihre ausführliche Kommentierung.
Die "Rangordnung der
Logik" bezieht sich darauf, daß das Stichwort "verstümmelt" im
Verhältnis zu den anderen Begriffen des Buches V eine Sonderstellung einnimmt:
es ist der am wenigsten allgemeine also der besonderste Begriff. In der
aristotelischen Begriffsordnung steht es für ein Akzidens - und da kann es der
Qualität, der "Affektion", der Privation zugeordnet werden, ist aber
jeweils eine weniger allgemeine, eine ziemlich besondere Bestimmung. So sehr,
daß es im Unterschied zu den anderen Begriffen nicht differenziert wird
(pollachos legetai); die unterschiedlichen Anwendungsbereiche (Lebewesen,
Gerät) werden einem univoken Begriff zugeordnet.
Die Besonderheit dieses
Begriffs verhält sich zur Allgemeinheit der anderen etwa so wie species zu
genus - und ist insofern eine logische. Aber alles innerhalb der Ontologie.
Der Begriff wird nicht
auseinandergelegt, sondern einem anderen gegenübergestellt, nämlich dem
"zerstört". Er bedeutet so etwas wie fast, annähernd, tendenziell
zerstört, aber doch nicht zerstört - und als Unterscheidungskriterium wird das
"Bleiben des Wesens" eingesetzt. Die Position dieses Akzidens ist mit
derjenigen von "gebildet" (ebenfalls eine Qualität oder eine
Affektion) vergleichbar - es hat aber zum Wesen eine noch engere Beziehung,
eine dramatische, eine prekäre, denn es steht am Rand zur Vernichtung des
Wesens.. "Gebildet" ist bei Aristoteles das Standardbeispiel für
Akzidenzien - ins Begriffslexikon wird nur "verstümmelt" als ein
"konkretes" Akzidens aufgenommen; ich würde sagen: ein extrem
akzidenzielles Akzidens. Siehe Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft
1: Die Katastrophe (accidens originale).
Mit Epizentrum meine ich
genauer gesagt eine Anzeige für die Stoßrichtung, jedenfalls für eine
Stoßrichtung der aristotelischen Ontologie, welche ich Minimal-Ontologie nennen
würde, und die besteht darin, auch die schwachen und prekären Qualitäten zu
bewahren, sie nicht als me onta zu disqualifizieren. In Anlehnung an eine
bekannte Formel: die geringfügig Seienden retten.
Daß bei Aristoteles auch
die Vollkommenheiten ihren Platz finden, ist natürlich unbestritten.
Am Ende des Abschnittes
über die Privation zieht er ein Resümee auf der Ebene der Ethik: nicht jeder
Mensch ist entweder gut oder schlecht, viele sind irgendwo dazwischen. (1023a
7)
Mit den besten Wünschen
grüßt Sie
Walter Seitter
***
Gesprächsnotiz
Vor wenigen Tagen führten
Bernd Schmeikal und ich ein Gespräch, in dem wir wieder auf die Präzisierung
des aristotelischen Wesensbegriffs zurückkommen.
Der ist zwar seit über
2000 Jahren bekannt, jedenfalls könnte er bekannt sein - aber unterschiedliche
sprachliche, wissenschaftliche, religiöse und vielleicht auch politische
Umstände haben dazu beigetragen, daß jener Begriff immer wieder verwechselt,
verkannt, verworfen oder vergessen worden ist.
Eine anfängliche Bedingung
dafür liegt in den Texten des Aristoteles selber, wo der Begriff an vielen
Stellen mit relativ starker Kohärenz eingesetzt wird - so etwa in der Physik,
in der Poetik. Eingeführt wird er in der sogenannten Metaphysik, jenem
Textensemble, das von Aristoteles weder so benannt noch überhaupt finalisiert
worden ist. Die Einführung findet sich im Buch IV, die konsequente Ausarbeitung
dann in den Büchern VII und VIII. Und in einigen weiteren Büchern wird die
Betrachtungsweise, in die der Begriff hineingehört und die um 1600 den Namen
"Ontologie" erhielt, entfaltet.
Im Gefüge der Ontologie
ist "Wesen" nur einer von mehreren Hauptbegriffen. Andere:
Entstehung, Wirklichkeit, ein.
Wie wir vor einiger Zeit
festgestellt haben, lassen sich an dem Begriff des Wesens zwei komplementäre
Aspekte feststellen, die umgangssprachlich so unterschieden werden, daß
irgendetwas ein Wesen "ist" - und daß so ein etwas ein Wesen
"hat".
Dieses "zweite"
Wesen kann man auch nennen: Washeit, Sosein, Spezies, Funktion.
Und das "erste"
Wesen: Individuum. Peter Pramhas hat dazu den Begriff "Würde"
assoziiert.
Erstens - Individuum,
Würde.
Zweitens - Spezies, Funktion.
Bernd Schmeikal bezeichnet
das Zweite Wesen als "technisch-analytisch".
Ich meine, man könnte das
Erste als "politisch" bezeichnen, weil da die Schätzung
(Hochschätzung oder Geringschätzung) einer Singularität impliziert wird.
Allerdings kommt das Politische
auch mit der Spezies zum Zug, weil damit ein Wesen in eine Reihe von
Gleichartigen eintritt, in eine Gesellschaft von Koexistierenden.
Walter Seitter
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