Die in der letzten Stunde
gestellte Rätselaufgabe findet ihre Lösung im Abschnitt 27 des Buches V, der
mit „verstümmelt“ überschrieben ist.
Die bloße Tatsache, dass
in dem Begriffslexikon, das offensichtlich zu dem Metaphysik genannten Buch gehört und in dem 30 Begriffe versammelt
und analysiert werden, auch ein solches Wort figuriert, sollte einen stutzig
machen und mehr als das. Es sollte die Frage aufwerfen, ob die aristotelische
Unternehmung, die im 4. Jahrhundert vor Christus gestartet worden ist, dann
erst im 1. Jahrhundert in die heutige Textform gebracht worden ist und dann
2000 Jahre lang vielfältig übersetzt,
verwendet, bewundert, verworfen, vergessen, wiederentdeckt, so und so
verstanden oder missverstanden worden ist, ob sie nicht durch ein solches
Detail wie das Wort „verstümmelt“ an so einer prominenten Stelle in ihrem Sinn,
das heißt in ihrer Stoßrichtung, eine Wendung bekommt, die bislang vollkommen
ignroriert worden ist.
In meinem Buch Aristoteles betrachten und besprechen
(Metaphysik 1-VI) (Freiburg-München 2018) resümiere ich auf den Seiten 210ff.
den Abschnitt 27 so, dass ich zum Wort „verstümmelt“ zunächst einmal eine
winzige Geschichte erfinde. Nämlich: es war einmal eine physis, ein wachsendes, gedeihendes, blühendes, ein wohlgeratenes
natürliches Wesen – und dann stieß ihm ein Unfall zu, es geriet in einen
Überfall, es wurde ihm ein Stück weggenommen, abgebrochen, weggerissen. Nach
diesem Unfall war es dann irgendwie „nachnatürlich“, „postnatural“ –
„metaphysisch“.
In dieser Kurzgeschichte
hat das Wort „metaphysisch“ eine ganz wörtliche, eine gewissrmaßen physische,
eine banale und gleichzeitig schmerzhafte Bedeutung. Das betroffene Ding ist
verändert, beschädigt, mit Sicherheit beraubt worden. Aristoteles ordnet das
Verstümmelte logisch dem Beraubten unter, womit es in der Rangordnung der Logik
ziemlich weit nach unten rutscht, in der Rangordnung der Lebensqualitäten
sowieso. Es wird damit endgültig klargestellt, dass die Beraubung als Begriff
ernst gemeint ist und nicht etwa mit logischer Negation gleichgesetzt werden
kann. Im Abschnitt 4 von Buch X schreibt Aristoeles, dass er das Wort Beraubung
in einem gesteigerten Sinn verwendet: entweder als radikales Nicht-Haben-Können
(das schwer vorstellbar ist) oder als Nicht-Haben von etwas, was von Natur aus
gehabt werden sollte.
Im Buch V unternimmt Aristotetels
eine andere Verallgemeinerung – und zwar von Verstümmelt. Er durchquert in
Windeseile – d. h. in wenigen Zeilen – den gesamten Kosmos und fragt, welche
Dinge überhaupt verstümmelt werden können und welche nicht. Dabei lässt er alle
möglichen Dinge Revue passieren: Zahlen, Wasser, Feuer, Harmonien können nicht
verstümmelt werden – und zwar aus Gründen, die jeweils angegeben werden.
Zwei Entitäten, die
verstümmelt werden können, sind laut Aristoteles: Trinkgefäße, Menschen. Und
bei beiden unterscheidet sich die Verstümmelung von der Zerstörung. Wird ein
Trinkgefäß durchbohrt, sodaß es keine Flüssigkeit mehr aufnehmen kann, dann
verliert es die Funktion, durch die es sich definiert, also sein Wesen: es wird
zerstört. (So etwas berichtet das Nibelungenlied vom hunnischen Königshof Gran
(100 km östlich von Wien)). Wird jedoch dem Becher nur ein „Ohr“, also ein
Henkel, abgeschlagen, dann ist er verstümmelt. Analog können Menschen derart
beraubt oder beschädigt werden, dass sie entweder verstümmelt sind oder
zerstört (also tot). Entweder verliert so ein Mensch nur einen Teil und kann
weiterleben oder er verliert einen lebensnotwendigen Teil und folglich sein
Wesen.
Dieser Wesensbegriff
liefert das Kriterium für die Unterscheidung zwischen Verstümmelung und
Zerstörung und er kann schwerlich für überholt, überflüssig, unbrauchbar
gehalten werden. Im Falle des Menschen geht es um Leben oder Tod; im Falle
eines Gerätes wie des Computers vielleicht nur um Reparierbarkeit oder
Entsorgung – mit dieser wäre der „Tod“ eines Gerätes auf jeden Fall
sichergestellt.
Wesen als Funktion
entspricht dem, was Aristoteles Wesen als Formursache genannt hat.
Es ist das Wesen, das
(Akkusativ) etwas (Nominativ) „hat“. Das gehabte Wesen. Davor liegt
gewissermaßen das Wesen, das etwas oder jemand „ist“. Wenn ich von einer Frau
sage, sie ist ein Wesen, wenn ich von Wien sage, es ist ein Wesen, wenn ich von
der Wien sage, sie ist ein Wesen, dann spreche ich denen ein selbständiges
Existieren zu und gewissermaßen eine Würde – wie Peter Pramhas in einer
dankenswerten Inspiration bemerkt. Dieser Aspekt des Wesens, das Wesen, das man
ist, nennt Aristoteles in der Kategorienschrift „Erstes Wesen“. Später hat er
diese Terminologie aufgegeben.
Und ein solches Wesen hat
immer ein „Zweites Wesen“, eine Was-Bestimmung, mit der dieses Wesen in eine
Reihe von Wesensgleichen eintritt. Eine Frau hat das Wesen „Mensch“, Wien hat
das Wesen „Stadt“, die Wien hat das Wesen „Fluß“. Dieses Zweite Wesen ist uns
im Fall des Bechers als Funktion erschienen. Man kann es auch „Spezies“ nennen.
Das Wesen einer Sache.
Ein Ding als Wesen.
Man ist ein Wesen, man hat
ein Wesen. Wunderbarerweise ist diese Doppelaspektivität des Wesensbegriffs
eine Gemeinsamkeit zwischen der griechischen und der deutschen Sprache, sodaß
man sich Übersetzungsstreitigkeiten sparen kann. (Siehe loc. cit.: 214f.)
Wir können sagen, dass der
Begriff „Wesen“ mit seinen zwei Aspekten zwischen Würde und Funktion
oszilliert. Gleichzeitig ist er ein sehr allgemeiner Begriff – deswegen aber
nicht ein unbestimmter, schwammiger,
überflüssiger Begriff. Er ist kein schwacher Begriff - wie etwa das
aristotelische „Seiende“, das ich eher als ein Grundwort bezeichnen würde.
„Wesen“ ist eine der vielen Modalitäten, die mit „seiend“ gemeint sind.
„Verstümmelt“ ist einer der unendlich vielen akzidenziellen, also nicht
wesenhaften Bestimmungen, die natürlich ebenfalls „seiend“ sind.
Ich gehöre vielleicht zu
den wenigen Aristoteles-Lesern, denen der Abschnitt 27 in Buch V mit dem
Stichwort „verstümmelt“ so aufgefallen ist, wie es sich gehört. Ungefähr um die
gleiche Zeit gehörte ich vielleicht zu den noch wenigeren Menschen, denen eine
1999 aufgestellte Aristoteles-Skulptur am Rande des Aristoteles-Platzes in
Thessaaloniki aufgefallen ist, sodaß ich sie dann in meinem Buch ausführlich
gewürdigt habe (loc. cit.: 219ff.). Bei den dortigen Intellektuellen war sie
entweder unbekannt oder sie stand in schlechtem Ansehen. Ihre Besonderheit hat
eine enge Beziehung zum Thema der Verstümmelung und in meinen Augen steigert
sie die Bedeutung dieses Themas, sodaß ich sagen würde, der genannte Abschnitt
27 erweist sich als ein – geheimes – Epizentrum des aristotelischen
Unternehmens.
Jedenfalls für solche, die
Augen haben zum Sehen und ein Gedächtnis zum Nicht-Vergessen.
Und dann noch eine
weiterführende theoretische Bemerkung zur Beraubung. In diesen Tagen ist das
zweite große Buch von Thomas Piketty auf Deutsch erschienen: Das Kapital und die Ideologie (München
2020). Piketty mobilisiert ein großes Begriffsinstrumentarium – so auch den von
Georges Dumézil geprägten Begriff der Trifunktionalität. Und er spricht von der
Eigentumsform des Privateigentums, welche sich ungefähr mit der Französischen
Revolution durchgesetzt habe. Er spricht aber so davon, dass klar wird, warum
man „Privateigentum“ sagt: weil es sich im Unterschied zu älteren
Eigentumsformen um „funktionsloses Eigentum“ handelt. Also um „beraubtes“. Denn
das heißt „privat“. (Siehe die Sitzung vom 26. Februar)
Walter Seitter
PS. Wir machen lange
Osterferien. Nächste Sitzung am 15. April 2020.
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