τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 4. März 2020

In der Metaphysik lesen (1055b 9 – 1055 29)

Innerhalb der vier Gegenüberstellungen, die in 1055b 1 genannt werden, unterscheidet sich die Privation von den drei anderen dadurch, dass ihr Begriff aus der Lebenswelt genommen ist, in der nicht nur neutral beschrieben und unterschieden wird, sondern gewertet, bedauert, auch „diskriminiert“ wird. Privation bedeutet nicht einfach ein Nicht-Haben – sondern ein „vollkommenes“, ein gesteigertes, ein qualifiziertes Nicht-Haben. Deswegen setzt Aristoteles dafür ein Wort ein, das Wegnahme, Beraubung meint. Karl Bruckschwaiger erinnert an die Qualitätskontrolle, die bei Serienprodukten feststellt, ob sie den ökonomischen Anforderungen genügen. Wenn sie das nicht tun, werden sie ausgeschieden. 

Aristoteles umschreibt die Steigerung des Nicht-Habens mit zwei Stufen: etwas ist überhaupt nicht fähig, etwas zu haben, oder etwas hat nicht, was es von Natur aus haben sollte. Damit werden nicht konkrete Beispiele geliefert – es werden nur „formale“ Kriterien angegeben, welche das Nicht-Haben in Richtung Mangel, Fehler steigern. Konkrete Beispiele finden sich uner dem Stichwort „Privation“ im Abschnitt 22 von Buch V (Begriffslexikon). 

Im Buch V findet sich unter einem anderen Stichwort aber auch ein Abschnitt, in dem die Privation höchst anschaulich und gleichzeitig unter Einbeziehung des ontologischen Hauptbegriffs „Wesen“ erklärt wird. Diesen Abschnitt aufzufinden ist hiermit als Aufgabe für die nächste Stunde am 11. März gestellt. Da wir diesen Abschnitt am 30. März 2016 hier schon gelesen haben, kann man ihn auch in meinem Buch Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) finden. 

Wenn Blindheit bei Menschen als Privation eingeschätzt wird, das heißt als Mangel, dann entspricht dies der ontologischen Ordnung, die einerseits einen „physischen“ Sachverhalt, andererseits eine „logische“ Redeweise verknüpft. Allerdings mag es die Höflichkeit verbieten, dem Blinden zu sagen: „Du bist ein Mangelwesen!“. Hier kommt die ethische, die politische Dimension ins Spiel. 

Im übrigen gab es und gibt es vielleicht immer noch berühmte Blinde, denen die Geschichte nachsagt, dass mit ihrer Blindheit ein bestimmtes Sehertum verbunden war, und dass sie sogar mehr gesehen haben als die Nicht-Blinden. In diesen Fällen wäe die Privation kompensiert und sogar überkompensiert worden. Außerdem ist bekannt, dass auch bei Nicht-Blinden situative oder okkasionelle Blindheiten in einem metaphorischen Sinn, also Täuschungen bzw. Selbsttäuschungen vorkommen. Auch dabei handelt es sich um Beraubungen im aristotelischen Sinn. Was nicht ausschließt, dass derartige Blindheiten von den Betroffenen gar nicht bemerkt sondern im Gegenteil mit einem gewissen Sehertum verwechselt werden. 

Bernd Schmeikal stellt eine Fage, welche das Problem der Täuschung auf die Spitze treibt. Gegen die erkenntnistheoretische Position, die man die „realistische“ nennt, behauptet der Konstruktivismus, dass die Erkenntnisvermögen der Menschen einen ganz bestimmten Zuschnitt haben und folglich nur bestimmte Parameter aufnehmen, während andere Spezies ganz andere Modalitäten, Qualitäten oder Relationen auswählen und in ihre Problemlösungen einbeziehen. Welche von ihnen entspricht nun wirklich „der“ Realität? Gibt es die überhaupt?

Meines Erachtens setzt ein solcher „diverser“ Konstruktivismus voraus, dass jede Spezies, die irgendwie kognitiv operiert und ihr Weiterleben organisiert, ein Teil der Realität ist und einen teilweise anderen Realitätsausschnitt kognitiv erfasst. Sodass sich letzten Endes ein multipler Realismus als ontologische und epistemologische Lösung oder Metaposition anbietet. Vielleicht ist es so, dass die Menschen ihre Erkenntnisse zu wissenschaftlichen Sicherungen und zu metatheoretischen Positionen ausbauen – und mit dem Risiko größerer Illusionen bezahlen. 

Die Einheitlichkeit menschlichen Erkenntnisverhaltens ist allerdings durch kulturelle, historische, individuelle Singularisierungen gebrochen – in diesem Sinne habe ich einmal von „Erkenntnispolitik“ gesprochen. Vom Erkennen gilt, was Aristoteles vom Sein gesagt hat: es ist ein „sich irgendwie zu etwas verhalten“. (Cat. 8a 32) 

In 1055b 29 kommt Aristoteles auf die Gegenteile „des Einen und der Vielen“ zurück. Im Zuge der Auflösung dieser Gegenteile hat er das Spezialproblem der Privation überhaupt erst entdeckt und im Buch XII wird er es ins Innerste der Konstitution des Wesens einführen. Der Mangel als ein Kern des Wesens – ein Aspekt des aristotelischen Essentialismus.  

Walter Seitter

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