Innerhalb der vier
Gegenüberstellungen, die in 1055b 1 genannt werden, unterscheidet sich die Privation
von den drei anderen dadurch, dass ihr Begriff aus der Lebenswelt genommen ist,
in der nicht nur neutral beschrieben und unterschieden wird, sondern gewertet,
bedauert, auch „diskriminiert“ wird. Privation bedeutet nicht einfach ein
Nicht-Haben – sondern ein „vollkommenes“, ein gesteigertes, ein qualifiziertes
Nicht-Haben. Deswegen setzt Aristoteles dafür ein Wort ein, das Wegnahme,
Beraubung meint. Karl Bruckschwaiger erinnert an die Qualitätskontrolle, die
bei Serienprodukten feststellt, ob sie den ökonomischen Anforderungen genügen.
Wenn sie das nicht tun, werden sie ausgeschieden.
Aristoteles umschreibt die
Steigerung des Nicht-Habens mit zwei Stufen: etwas ist überhaupt nicht fähig,
etwas zu haben, oder etwas hat nicht, was es von Natur aus haben sollte.
Damit werden nicht konkrete Beispiele geliefert – es werden nur „formale“
Kriterien angegeben, welche das Nicht-Haben in Richtung Mangel, Fehler
steigern. Konkrete Beispiele finden sich uner dem Stichwort „Privation“ im
Abschnitt 22 von Buch V (Begriffslexikon).
Im Buch V findet sich
unter einem anderen Stichwort aber auch ein Abschnitt, in dem die Privation
höchst anschaulich und gleichzeitig unter Einbeziehung des ontologischen
Hauptbegriffs „Wesen“ erklärt wird. Diesen Abschnitt aufzufinden ist
hiermit als Aufgabe für die nächste Stunde am 11. März gestellt. Da wir diesen
Abschnitt am 30.
März 2016 hier schon gelesen haben, kann man ihn auch in meinem Buch Aristoteles
betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) finden.
Wenn Blindheit bei
Menschen als Privation eingeschätzt wird, das heißt als Mangel, dann
entspricht dies der ontologischen Ordnung, die einerseits einen „physischen“
Sachverhalt, andererseits eine „logische“ Redeweise verknüpft. Allerdings mag
es die Höflichkeit verbieten, dem Blinden zu sagen: „Du bist ein Mangelwesen!“.
Hier kommt die ethische, die politische Dimension ins Spiel.
Im übrigen gab es und gibt
es vielleicht immer noch berühmte Blinde, denen die Geschichte nachsagt, dass
mit ihrer Blindheit ein bestimmtes Sehertum verbunden war, und dass sie sogar
mehr gesehen haben als die Nicht-Blinden. In diesen Fällen wäe die Privation
kompensiert und sogar überkompensiert worden. Außerdem ist bekannt, dass auch
bei Nicht-Blinden situative oder okkasionelle Blindheiten in einem
metaphorischen Sinn, also Täuschungen bzw. Selbsttäuschungen vorkommen. Auch
dabei handelt es sich um Beraubungen im aristotelischen Sinn. Was nicht
ausschließt, dass derartige Blindheiten von den Betroffenen gar nicht bemerkt
sondern im Gegenteil mit einem gewissen Sehertum verwechselt werden.
Bernd Schmeikal stellt
eine Fage, welche das Problem der Täuschung auf die Spitze treibt. Gegen die
erkenntnistheoretische Position, die man die „realistische“ nennt, behauptet
der Konstruktivismus, dass die Erkenntnisvermögen der Menschen einen ganz bestimmten
Zuschnitt haben und folglich nur bestimmte Parameter aufnehmen, während andere
Spezies ganz andere Modalitäten, Qualitäten oder Relationen auswählen und in
ihre Problemlösungen einbeziehen. Welche von ihnen entspricht nun wirklich
„der“ Realität? Gibt es die überhaupt?
Meines Erachtens setzt ein
solcher „diverser“ Konstruktivismus voraus, dass jede Spezies, die irgendwie
kognitiv operiert und ihr Weiterleben organisiert, ein Teil der Realität ist
und einen teilweise anderen Realitätsausschnitt kognitiv erfasst. Sodass sich
letzten Endes ein multipler Realismus als ontologische und epistemologische
Lösung oder Metaposition anbietet. Vielleicht ist es so, dass die
Menschen ihre Erkenntnisse zu wissenschaftlichen Sicherungen und zu metatheoretischen
Positionen ausbauen – und mit dem Risiko größerer Illusionen bezahlen.
Die Einheitlichkeit
menschlichen Erkenntnisverhaltens ist allerdings durch kulturelle, historische,
individuelle Singularisierungen gebrochen – in diesem Sinne habe ich einmal von
„Erkenntnispolitik“ gesprochen. Vom Erkennen gilt, was Aristoteles vom Sein
gesagt hat: es ist ein „sich irgendwie zu etwas verhalten“. (Cat. 8a 32)
In 1055b 29 kommt
Aristoteles auf die Gegenteile „des Einen und der Vielen“ zurück. Im Zuge der
Auflösung dieser Gegenteile hat er das Spezialproblem der Privation überhaupt
erst entdeckt und im Buch XII wird er es ins Innerste der Konstitution des
Wesens einführen. Der Mangel als ein Kern des Wesens – ein Aspekt des
aristotelischen Essentialismus.
Walter Seitter
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