τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 26. Februar 2020

In der Metaphysik lesen (1055a 33 – 1055b 8)

Die Aufstellung und Parallelführung von ungefähr fünf Ontologie-Achsen ist eine Konstruktion, für die ich in der Sekundärliteratur keine Vorbilder sehe, bei Aristoteles hingegen einige Hinweise, auf die ich zuletzt öfter aufmerksam gemacht habe.
Ich verbinde damit den Anspruch, die meisten der bisher gelesenen Teile der Metaphysik, welche der Untersuchungrichtung „Ontologie“ zugehören, zu strukturieren und verständlich zu machen. Im Buch X wird die Achse, die nach dem Einen benannt ist, betrachtet und besprochen also zergliedert – und zwar so, dass das Gegenteil des Einen, also das Nicht-Eine, als Fortsetzung derselben Achse zum Thema gemacht wird. Nicht unter der Bezeichnung „Nicht-Eines“ sondern unter „Vieles“, „Anderes“, „Abstand“.
Läßt sich daraus auf die Achse des Seienden der Rückschluß ziehen, dass auch sie ihre eigene Negation, also das Nicht-Seiende, inkludiert? Wir haben bereits mehrere aristotelische Hinweise darauf gefunden: auch das Nicht-Seiende gehört zum Seienden, denn es ist ja nicht-seiend. Das Seiende wird dermaßen vielfältig ausgesagt, dass es sogar des Nicht-Seiende bedeutet. Man muß schon sagen: das Seiende wird extrem vielfältig ausgesagt. Diese Erweiterung des Seienden darf und soll als  paradox bezeichnet werden – den es ist ja eigentlich das Entscheidende des Seienden, dass es sich vom Nicht-Seienden absetzt und negativ durch es definiert wird. Ich erinnere an das Heidegger-Zitat vom 27. November 2019.
Was gerade noch zur positiven, zur nicht-paradoxen Seite des Seienden gehört, nennt man umgangssprachlich und sehr deutlich  „fast nichts“. „Fast nichts“ – das ist der geringfügigste, der minimalste Anfang des Seienden. Ein bisschen mehr als nichts. Umgangssprachliche Minimal-Ontologie.

Sophia Pantaleadou erwähnt, dass die österreichische Künstlerin Sabine Müller-Funk ein Kunstwerk mit einer vielschichtigen Inschrift gemacht hat, die nur die Wörter „fast nichts“ und diese kaum leserlich enthielt, und auf diese Weise die Minimal-Ontologie in eine positive Paradoxie getrieben hat.
Wie bei Aristoteles das Seiende mit dem Nicht-Seienden paradox koinzidiert, so das Eine mit dem Vielen. Woran sich wieder bestätigt, dass Seiendes und Eines sich parallel verhalten, obwohl ihre begrifflichen Bedeutungen unterschieden bleiben.
Zurück zum Einen oder vielmehr zu seiner Überziehung und Verkehrung – zum Vielen.
In 1055b 1 nennt Aristoteles vier Weisen von Gegenüber: Kontradiktion, Privation, Kontrarietät und Relation. Zwei dieser Begriffe kommen aus der Aussagenlogik, beziehen sich aber nicht bloß auf Aussagen. Ein Begriff – nämlich Relation – ist eines der neun aristotelischen Akzidenzien, er umfaßt solche Gegenüberstellungen wie Vater und Sohn. Auch die Privation könnte zu den Akzidenzien gezählt werden, ist sie doch die Negation eines anderen Akzidens, nämlich des Habens. Privation ist ein Nicht-Haben – aber nicht irgendein Nicht-Haben. Wenn jemand keinen Porsche bzw. kein Pferd hat, so liegt keine aristotelische Privation vor. Aristoteles definiert zweierlei privative Nicht-Haben: wenn jemand überhaupt unfähig ist, etwas zu haben; wenn jemand etwas nicht hat, was er von Natur aus haben müsste. (1055b 4f.). Es geht also um radikale Nicht-Haben – wofür allerdings jetzt keine Beispiele genannt werden. Das lateinische Wort „Privation“ ist eher blaß, das von Aristoteles verwendete Wort steresis hingegen bedeutet „Beraubung“ und kommt der Sache schon näher.
Wir diskutieren darüber, ob „Beraubung“ nicht zu drastisch ist. Sophia Panteliadou sagt, Aristoteles verstehe das Wort in einem philosophischen Sinn und nicht in einem kriminalistischem. Das stimmt natürlich. Allerdings muß auch in der Philosophie klar und deutlich gesprochen werden – und nicht „phlosophisch“ in einem unbedingt beruhigendem Sinn.
Im Abschnitt 22 von Buch V, den wir hier am 27. Jänner 2016 gelesen haben, liefert Aristoteles immerhin zwei Beispiele für Privationen, die Beraubungen sind. Blinde Augen und kernlose Trauben. Die Blindheit spricht für sich. Die kernlosen Trauben waren für Aristoteles und sind heute noch für Leute, die den Weinbau ernst nehmen, etwas anderes als für diejenigen, für die kernlose Weintrauben den Gipfel der Kultur darstellen.

Kernlose Trauben sind heutzutage Früchte, denen die Fortpflanzungsfähigkeit weggezüchtet worden ist. Und damit kommen wir zu zwei Theoretikern des 20. Jahrhunderts, Sigmund Freud und Jacques Lacan, die gerade in diesem Kontext einen Begriff eingeführt haben, der den der Beraubung womöglich noch übertrifft: Kastration. Lacan hat diesem Begriff auch noch den viel allgemeineren aber auch nicht harmlosen des Mangels hinzugefügt. Beide stehen im Zentrum seiner Anthropologie.
Es empfiehlt sich, den aristotelischen Begriff der Privation semantisch mit Mangel oder Defekt zu assoziieren. Manche Übersetzer geben ihn mit „Entbehrung“, englisch mit „deprivation“ wieder. Wir werden sehen, dass er zu einem Schlüsselbegriff für seine Ontologie werden wird.
Abschließend noch eine Bemerkung zu dem lateinischen Wortfeld, aus dem er stammt und das mit „privat“ oder „Privatier“ zu kennzeichnen ist.
Die beiden Ausdrücke haben anscheinend mit so etwas wie Mangel, Defekt oder gar Beraubung gar nichts zu tun. Semantisch gehen sie eher auf ein anderes griechisches Wort zurück, nämlich idios - eigen, einzeln, privat. Idiotes hieß im klassischen Griechenland jemand, der sich aus dem öffentlichen Leben zurückzog und nur für sich lebte. Er galt als einer, der sich der aktiven Bürgerschaft beraubt hat und insofern ein Mangelwesen war.  

Walter Seitter

1 Kommentar:

  1. Beispiele für Privationen, die Beraubungen seien blinde Augen und kernlose Trauben.
    Zeitgemäße Applikationen dieser Akzidenzie wären
    1. In den Sprachwissenschaften: Aussagen, die ihres Wahrheitswertes entledigt sind, so genannte nicht entscheidbare Aussagen.
    2. Weltbilder, die eine ‚objektive Welt‘ bezeichnen. Jedes Lebewesen (Menschen, Katzen, Hunde, Frösche, Spinnen, Zecken) besitzt eine ihm eigene Wahrnehmung. Keine dieser Wahrnehmungen ist zentral und verbindlich für alle Lebewesen. Die Annahme einer ‚objektiven Welt‘, die allen Wahrnehmungsräumen zugrunde läge, ist eine menschliche Konstruktion. Sie gehört der Metaphysik an. Diese Objektive Welt ist ihrer realen Existenz beraubt. In diesem Sinne können wir sie als Privation ansehen, obgleich wir sie als kognitiv existent bezeichnen mögen.
    Was ist Welt abseits des Denkens? Existiert sie?

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