Von aktuellen
religionspolitischen Fragestellungen aus kommen wir zur Unterscheidung zwischen
den beiden Sozialitätsformen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, welche vor
ungefähr hundert Jahren von zwei deutschen Gelehrten vorgeschlagen und
bearbeitet worden ist.
Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft
und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als
empirischer Culturformen (Berlin 1887)
Helmuth Plessner: Grenzen
der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (Bonn
1924)
„Gemeinschaften“ werden
soziale Verbindungen genannt, in denen die Verbindung und die Einheit
ursprünglich und gesichert erscheinen: ihr Prototyp ist die Familie.
„Gesellschaft“ nennt man die Gesamtheit der Menschen, die in einem Raum
teilweise zufällig beisammen leben und deren Einheit etwa durch den
Marktmechanismus hergestellt wird. Die beiden Koexistenzformen schließen
einander nicht unbedingt aus.
Während Tönnies die
begriffliche Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft von
historischen Entwicklungen aus erklärt, nimmt Plessner die sozialpathologischen
Phänomene in den Blick, die sich daraus ergeben, wenn einer Gesellschaft die
Form der Gemeinschaft aufgezwungen wird.
Im Jahre 1922 verfaßte
Erich Voegelin in Wien seine Dissertation mit dem seltsam klingenden Titel
„Wechselwirkung und Gezweiung“ (unter der Aufsicht der beiden konträr
orientierten Doktorväter Othmar Spann und Hans Kelsen). Mit „Wechselwirkung“
meinte er eine enge und „organische“ und angeblich unauflösliche Verflechtung
zwischen den Einwohnern eines Gebietes, unter „Gezweiung“ eine Sozialform, in
der die einzelnen Individuen ihre Selbständigkeit aufrecht erhalten. Also
„Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Seine Abhandlung kommt zum Ergebnis, dass
die Gesamtheit der Menschen in einem Staatsgebiet nicht einmal metaphorisch als
ein Organismus verstanden werden könne. Voegelin positionierte sich also gegen
den Monopolanspruch von „Gemeinschaft“ (und damit gegen Othmar Spann).
Es scheint wichtig zu
sein, dass die beiden Begriffe vorliegen und gebraucht werden, damit die
entsprechenden Sachfragen, die leztlich Verhaltensfragen sind, artikuliert werden
können. Gibt es die beiden Begriffe im Neugriechischen? Sophia Panteliadou
verneint diese Frage.
Die bekannteste Form eines
von der „Gemeinschaft“ dominierten Sozialitätsverständnisses ist wohl der
Nationalismus. Ich erinnere daran, dass dieser Begriff aus dem lateinischen
Wortfeld für „Geburt“ herkommt, und stelle die Behauptung auf, dass das
Leben, das menschliche Leben, in Gemeinschaft beginnt – mit Zeugung, Geburt,
Säugung und so weiter (allerdings ist die Geburt schon eine Art Bruch (welcher neue
und dauerhaftere Gemeinschaftsformen ermöglicht)). Ein neu entstehender Mensch
ist extrem gemeinschaftsabhängig. Die Schwangerschaft ist eine radikale
Gemeinschaftsform, die allerdings von Natur aus auf sehr kurze Zeit begrenzt
ist.
Die Nachbarschaft stellt
sich als eine weniger enge Form des Zusammenseins dar, die jedoch
auch über lange Zeit währen kann. Die mit ihr verbundene räumliche Nähe kann
sowohl gemeischaftliche wie gesellschaftliche Koexistenz ermöglichen, sie
öffnet sozusagen die Enge, die Intimität der Gemeinschaft zur Weite und
gewissermaßen unpersönlichen Neutralität der Gesellschaft.
Das theoretische Feld, in
dem wir uns jetzt aufhalten, also die aristotelische Ontologie, zeichnet sich
durch eine andere und weitergehende Neutralität aus. Sie geht so weit, dass sie
Menschenwesen überhaupt nicht in den Vordergrund rückt; auch andere
konkrete Wesenheiten wie Häuser oder Tiere, Kunstwerke oder Städte werden
höchstens ganz kurz als Beispiele herzitiert. Beispiele für „Sachen“, die
zumeist mit neutralen Substantivierungen benannt, nein nicht benannt,
sondern vorsichtig angedeutet werden: das Seiende, das Nicht-Seiende, das Eine,
das Viele, dasselbe, das Andere.
In dem zuletzt gelesenen Abschnitt
3 von Buch X plötzlich ein kurzer Satz, der die Neutralitätspräferenz der
Ontologie durchbricht: „Daher bist du und der Nachbar ein anderer.“ (1054b 17).
Also ein Verweis - eigentlich in direkter Rede - auf einen Mitmenschen, zu
dem ein vertrautes Verhältnis suggeriert wird, und eine Erwähnung eines
Nachbarn, also eines anderen Mitmenschen. Mitten in der neutralistischen
Ontologiewelt plötzlich zwei als menschlich gekennzeichnete Wesen, zu
denen als drittes jetzt auch der Schreiber hinzutritt, der ja „du“ gechrieben
hat. Also eine kleine Menschenmenge, innerhalb derer mindestens zwei als
„andere“ apostrophiert werden.
Die ontologische Redeweise
des Aristoteles ist mit diesem kleinen Spezialfall jedoch weder
hinreichend erläutert noch außer Kraft gesetzt. In 1053b 11ff. wird behauptet,
dass das Eine kein Wesen sei – wie einige frühere Philosophen gesagt hätten:
zuerst die Pythagoreeer und dann Platon. Die Philosophen bilden
anscheinend eine Art Gemeinschaft, innerhalb derer über Generationen hinweg über
bestimmte Dinge geredet, gechrieben, so oder anders geschrieben und gesprochen
wird.
Für Aristotels ist
das Eine kein „Wesen“, das irgendwo existiert. Es ist „nur“ eine
ziemlich minimale, ja banale, oftmals aber auch brutale Qualität, die jedwedem,
was ist oder entsteht oder dauert oder wirkt oder gewirkt wird, mehr oder
weniger zukommt. Mehr oder weniger: das heißt in ständiger Auseinndersetzung
mit dem Vielen. Je mehr etwas eines ist, umso weniger ist es ein vieles. Und je
weniger oder schwächer etwas (oder etwer) eines (oder einer) ist, umso
mehr machen sich an seiner Stelle irgenwelche viele geltend, die allerdings
auch nicht umhin kommen, ihrerseits als eine aufzutreten und andere viele zu
vereinheitlichen.
Die Unterschiede sind aber
nicht nur quantitativer bzw. intensiver Art. Es gibt auch qualitativ unterschiedliche Kombinationen
aus Einheit und Vielheit.
Bezogen auf das staatliche
Zusammenleben einer großen Menschenmenge gab es offensichtlich zwischen
Platon und Aristoteles eine „einfache“ Meinungsdifferenz: Platon meinte, ein
Staat müsse die Menschen zu einer strikten Einheit zusammenfassen. Aristoteles
argumentiert nachdrücklich und ausführlich dafür, dass der Staat eher eine
Vielheit sein muß – ansonsten würde er sich dem Haus oder dem Individuum
angleichen. (Pol. II, 1261a 15 – 1263b 41). Und das könnte wahrscheinlich
schiefgehen.
So hat die Ontologie des
Aristoteles mit ihrem flexiblen Seins- und Einheitsverständnis sein politisches
Denken in eine bestimmte Richtung gewiesen.
Walter Seitter
Kommentar von Wolfgang Koch (17. Februar 2020)
AntwortenLöschenDas platonische und das aristotelische Eine lassen sich überhaupt nicht sinnvoll miteinander vergleichen, da das eine Eine das Ganze und das andere Eine aber die Einheit von etwas meint. A. ordnet sein Eines klar und unmissverständlich der Ebene des Masses zu; der untergeordnete Begriff ist also Quantität, der übergeordnete Begriff Wesen. Damit erübrigt sich auch die Frage, ob das Eine bei A. selbst ein Wesen ist. Nein, ist es nicht; das Eine wird in der Bestimmung als Wesen aufgehoben. Alles gut dargestellt in Hegels Schlusskapitel der Phänomenologie.