τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 12. Februar 2020

Exkurs: Gemeinschaft und Gesellschaft


Von aktuellen religionspolitischen Fragestellungen aus kommen wir zur Unterscheidung zwischen den beiden Sozialitätsformen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, welche vor ungefähr hundert Jahren von zwei deutschen Gelehrten vorgeschlagen und bearbeitet worden ist.

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen  (Berlin 1887) 
Helmuth Plessner: Grenzen der GemeinschaftEine Kritik des sozialen Radikalismus (Bonn 1924)

„Gemeinschaften“ werden soziale Verbindungen genannt, in denen die Verbindung und die Einheit ursprünglich und gesichert erscheinen: ihr Prototyp ist die Familie. „Gesellschaft“ nennt man die Gesamtheit der Menschen, die in einem Raum teilweise zufällig beisammen leben und deren Einheit etwa durch den Marktmechanismus hergestellt wird. Die beiden Koexistenzformen schließen einander nicht unbedingt aus. 

Während Tönnies die begriffliche Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft von historischen Entwicklungen aus erklärt, nimmt Plessner die sozialpathologischen Phänomene in den Blick, die sich daraus ergeben, wenn einer Gesellschaft die Form der Gemeinschaft aufgezwungen wird. 

Im Jahre 1922 verfaßte Erich Voegelin in Wien seine Dissertation mit dem seltsam klingenden Titel „Wechselwirkung und Gezweiung“ (unter der Aufsicht der beiden konträr orientierten Doktorväter Othmar Spann und Hans Kelsen). Mit „Wechselwirkung“ meinte er eine enge und „organische“ und angeblich unauflösliche Verflechtung zwischen den Einwohnern eines Gebietes, unter „Gezweiung“ eine Sozialform, in der die einzelnen Individuen ihre Selbständigkeit aufrecht erhalten. Also „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Seine Abhandlung kommt zum Ergebnis, dass die Gesamtheit der Menschen in einem Staatsgebiet nicht einmal metaphorisch als ein Organismus verstanden werden könne. Voegelin positionierte sich also gegen den Monopolanspruch von „Gemeinschaft“ (und damit gegen Othmar Spann). 

Es scheint wichtig zu sein, dass die beiden Begriffe vorliegen und gebraucht werden, damit die entsprechenden Sachfragen, die leztlich Verhaltensfragen sind, artikuliert werden können. Gibt es die beiden Begriffe im Neugriechischen? Sophia Panteliadou verneint diese Frage.

Die bekannteste Form eines von der „Gemeinschaft“ dominierten Sozialitätsverständnisses ist wohl der Nationalismus. Ich erinnere daran, dass dieser Begriff aus dem lateinischen Wortfeld für „Geburt“ herkommt, und stelle die Behauptung auf, dass das Leben, das menschliche Leben, in Gemeinschaft beginnt – mit Zeugung, Geburt, Säugung und so weiter (allerdings ist die Geburt schon eine Art Bruch (welcher neue und dauerhaftere Gemeinschaftsformen ermöglicht)). Ein neu entstehender Mensch ist extrem gemeinschaftsabhängig. Die Schwangerschaft ist eine radikale Gemeinschaftsform, die allerdings von Natur aus auf sehr kurze Zeit begrenzt ist. 

Die Nachbarschaft stellt sich als  eine weniger enge Form des Zusammenseins dar, die jedoch auch über lange Zeit währen kann. Die mit ihr verbundene räumliche Nähe kann sowohl gemeischaftliche wie gesellschaftliche Koexistenz ermöglichen, sie öffnet sozusagen die Enge, die Intimität der Gemeinschaft zur Weite und gewissermaßen unpersönlichen Neutralität der Gesellschaft. 

Das theoretische Feld, in dem wir uns jetzt aufhalten, also die aristotelische Ontologie, zeichnet sich durch eine andere und weitergehende Neutralität aus. Sie geht so weit, dass sie Menschenwesen überhaupt nicht in den Vordergrund rückt; auch andere konkrete Wesenheiten wie Häuser oder Tiere, Kunstwerke oder Städte werden höchstens ganz kurz als Beispiele herzitiert. Beispiele für „Sachen“, die zumeist mit neutralen Substantivierungen benannt, nein nicht benannt, sondern vorsichtig angedeutet werden: das Seiende, das Nicht-Seiende, das Eine, das Viele, dasselbe, das Andere. 

In dem zuletzt gelesenen Abschnitt 3 von Buch X plötzlich ein kurzer Satz, der die Neutralitätspräferenz der Ontologie durchbricht: „Daher bist du und der Nachbar ein anderer.“ (1054b 17). Also ein Verweis - eigentlich in direkter Rede - auf einen Mitmenschen, zu dem ein vertrautes Verhältnis suggeriert wird, und eine Erwähnung eines Nachbarn, also eines anderen Mitmenschen. Mitten in der neutralistischen Ontologiewelt plötzlich zwei als menschlich gekennzeichnete Wesen, zu denen als drittes jetzt auch der Schreiber hinzutritt, der ja „du“ gechrieben hat. Also eine kleine Menschenmenge, innerhalb derer mindestens zwei als „andere“ apostrophiert werden.

Die ontologische Redeweise des Aristoteles ist mit diesem kleinen Spezialfall jedoch weder hinreichend erläutert noch außer Kraft gesetzt. In 1053b 11ff. wird behauptet, dass das Eine kein Wesen sei – wie einige frühere Philosophen gesagt hätten: zuerst die Pythagoreeer und dann Platon. Die Philosophen bilden anscheinend eine Art Gemeinschaft, innerhalb derer über Generationen hinweg über bestimmte Dinge geredet, gechrieben, so oder anders geschrieben und gesprochen wird. 

Für Aristotels ist das Eine kein „Wesen“, das irgendwo existiert. Es ist „nur“ eine ziemlich minimale, ja banale, oftmals aber auch brutale Qualität, die jedwedem, was ist oder entsteht oder dauert oder wirkt oder gewirkt wird, mehr oder weniger zukommt. Mehr oder weniger: das heißt in ständiger Auseinndersetzung mit dem Vielen. Je mehr etwas eines ist, umso weniger ist es ein vieles. Und je weniger oder schwächer etwas (oder etwer) eines (oder einer) ist, umso mehr machen sich an seiner Stelle irgenwelche viele geltend, die allerdings auch nicht umhin kommen, ihrerseits als eine aufzutreten und andere viele zu vereinheitlichen. 
Die Unterschiede sind aber nicht nur quantitativer bzw. intensiver Art. Es gibt auch qualitativ unterschiedliche  Kombinationen aus Einheit und Vielheit.
Bezogen auf das staatliche Zusammenleben einer großen Menschenmenge gab es offensichtlich zwischen Platon und Aristoteles eine „einfache“ Meinungsdifferenz: Platon meinte, ein Staat müsse die Menschen zu einer strikten Einheit zusammenfassen. Aristoteles argumentiert nachdrücklich und ausführlich dafür, dass der Staat eher eine Vielheit sein muß – ansonsten würde er sich dem Haus oder dem Individuum angleichen. (Pol. II, 1261a 15 – 1263b 41). Und das könnte wahrscheinlich schiefgehen.

So hat die Ontologie des Aristoteles mit ihrem flexiblen Seins- und Einheitsverständnis sein politisches Denken in eine bestimmte Richtung gewiesen.

Walter Seitter

1 Kommentar:

  1. Kommentar von Wolfgang Koch (17. Februar 2020)


    Das platonische und das aristotelische Eine lassen sich überhaupt nicht sinnvoll miteinander vergleichen, da das eine Eine das Ganze und das andere Eine aber die Einheit von etwas meint. A. ordnet sein Eines klar und unmissverständlich der Ebene des Masses zu; der untergeordnete Begriff ist also Quantität, der übergeordnete Begriff Wesen. Damit erübrigt sich auch die Frage, ob das Eine bei A. selbst ein Wesen ist. Nein, ist es nicht; das Eine wird in der Bestimmung als Wesen aufgehoben. Alles gut dargestellt in Hegels Schlusskapitel der Phänomenologie.

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