τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 29. Oktober 2019

Über Werden und Vergehen (Ontologie-Achsen)

Die Ontologie ist eine Betrachtungsweise, die das „Seiende“ unter striktem Immanenzgesichtspunkt ins Auge fasst, nämlich das Seiende als seiendes, und daraus zu Differenzierungen übergeht und zwar zu verschiedenen Differenzierungen.

Den Immanentismus betont Aristoteles mit der Wiederholung des Ausdrucks „seiend“, den ich, weil ich kein antiker Grieche bin und auch kein geborener Philosoph, als fremdartig, ja befremdend empfinde – und so empfinde ich die Ontologie als eine artifiziellere Tätigkeit denn die „Metaphysik“ oder das Reden von „Gott und der Welt“ oder die Suche nach Weisheit, weil diese Ausdrücke sich leichter an unsere kulturellen Gewohnheiten anschließen (und damit will ich nicht sagen, dass sie nicht auch Annäherungen ans Philosophieren zum Ausdruck bringen).

Die Ontologie ist eine ganz eigene, ja eigenwillige Erfindung des Aristoteles, die von seinen anderen Abhandlungen zu unterscheiden ist – auch wenn sich einige ihrer Elemente durchaus auch in ihnen auffinden lassen (etwa in seiner Physik oder in seiner Poetik oder in seinen Schriften zur Logik).

Möglich war diese Erfindung, weil das Partizip Präsens „seiend“ schon vor Aristoteles in der griechischen Sprache und Literatur ziemlich geläufig war – Ähnliches ist von der lateinischen oder deutschen oder französischen Sprache nicht festzustellen (das sind die mir bekannten Sprachen). Und einige Philosophen haben das „seiend“ schon vor Aristoteles in ihre Terminologie aufgenommen – haben aber keine vergleichbare pure Ontologie konstruiert.

Die Kategorien und das Buch IV der Metaphysik bilden die ersten kompakten Abhandlungen zur Ontologie – mit dem Unterschied, dass die Kategorienschrift von Aristoteles selber redigiert worden sein könnte, während die Metaphysik aus unterschiedlichen Textblöcken zusammengesetzt, locker gefügt ist, wodurch die Ontologie dann einen langsam vorgehenden, einen kumulativen, auch repetitiven und nicht ganz homogenen Charakter bekommen hat.

Der bereits öfter zitierte Anfang des Abschnittes 10 von Buch IX resümiert das Projekt der Ontologie und gibt ihm auch zwei neue Wendungen, indem dem Seienden das Nicht-Seiende glatt hinzugefügt (oder entgegengesetzt) wird, und indem zum Teilbereich, der durch die Kategorien definiert wird, nicht nur der aus Möglichkeit und Wirklichkeit bestehende hinzugefügt wird, sondern erstmals ein dritter angehängt wird, der mit „wahr“ und „falsch“ definiert wird.

Die Ontologie kapriziert sich zwar auf das „seiend“, sie fokussiert immerzu dieses Eine und Selbe – aber sie nimmt es immer wieder und auf unterschiedliche Weise auseinander. Das griechische Wort dafür ist dihairesis.

Die drei erwähnten Teilbereiche haben die Form von Ontologie-Achsen, es sind Differenzierungsachsen oder -polaritäten.


Kategoriale Polarität: Substanz -------- Akzidenzien

Modale Polarität: Möglichkeit ----- Wirklichkeit

Epistemische Polarität: wahr -------- falsch

Dem Duktus der aristotelischen Ontologie würde es wohl entsprechen, wenn sie noch eine weitere Differenzierungspolarität aufweisen würde – oder noch einige?

Da Aristoteles dem Werden und Vergehen ein eigenes kleines Buch gewidmet hat, lässt sich die Frage stellen, ob die damit angedeutete Polarität auch eine Ontologie-Achse bilden könnte.

Was spricht dafür? Die eben erwähnte Grundpolarität seiend – nichtseiend spricht dafür. Denn wenn es zwischen diesen beiden Polen Übergänge geben sollte, dann würden die wohl lauten: werden und vergehen; oder entstehen und zugrundegehen. Auch die Achse zwischen möglich und wirklich würde das nahelegen.

Die genannten Achsen stehen ja nicht unverbunden neben- oder übereinander. Sie durchqueren einander und treffen einander an jedem konkreten Ding oder Vorgang. Für die Differenzierungsresultate aller Achsen habe ich den Allgemeinbegriff „Seinsmodaliät“ vorgeschlagen.

Was für Seinsmodalitäten sind Werden und Vergehen? Zur Beantwortung dieser Frage braucht man keinen Aristoteles oder dergleichen – man braucht nur sich selber mit Hausverstand und Sprachkompetenz. Entstehen ist anfangen zu sein, Zerstörtwerden ist aufhören zu sein. Sein anfangen, sein aufhören.

Entstehen, bestehen, vergehen. Das ist die übliche Reihenfolge, in der drei Seinsmodalitäten in der Welt tatsächlich vorkommen. Die hier als zweite genannte wird von Aristoteles kaum in den Vordergrund gerückt. Er versteckt sie in seinem Grundwort „seiend“. Dieses Verstecken hat Heidegger ihm zum Vorwurf gemacht.

Von da aus gesehen könnte man sogar meinen, dass gerade mit Werden und Vergehen das Seiende ontologisch angekratzt, angegriffen, aufgebrochen, einer Spektralanalyse ausgesetzt wird.  

Werden und Vergehen sind Seinsmodalitäten. Aber irgendwelche Seiende im Sinne von Stabilitätszonen oder -zentren, im Sinne von Dingen, kommen da auch vor.

In dem genannten Buch stellt Aristoteles zwar die Vorgänge wie Entstehung, Veränderung, Zerstörung in den Vordergrund. Aber schon auf der ersten Seite fängt er damit an, die Dinge zu nennen, die dazugehören. Und Thomas Buchheim nennt in seinem Klappentext einige davon geradezu pathetisch „unsere Liebsten“ – und meint damit wohl Frau, Kind und dergleichen. Entfernt er sich damit allzu weit von Aristoteles? Er entfernt sich nicht himmelweit. Immerhin sagt dieser einmal innerhalb der kategorialen Ontologie, im Buch VII der Metaphysik, dass so geschätzte Eigenschaften wie „weiß“ und „gebildet“ nicht das Wesen ausmachen – wohl aber das Du. (1029b 14)
Ergibt sich daraus, dass Werden und Vergehen eine zusätzliche Achse der Ontologie bilden? Die Antwort würde dann negativ ausfallen, wenn es die Ontologie nur mit ewigen und unveränderlichen Entitäten zu tun hätte. Das aber ist nicht der Fall.

Sie sollte allerdings die durchgängigen Bestimmungen aller Seienden erfassen. Wenn es für Aristoteles auch ewige Entitäten gibt, würde das genannte Buch an diesen sozusagen vorbeischreiben. Es würde keine vollständige Ontologie liefern. Also doch nur eine Art Physik? Oder eine Ontologie für solche wie wir Heutigen, die jedenfalls am Himmel keine Ewigen zu erblicken meinen?

Wenn wir das Buch Werden und Vergehen lesen sollten, könnten wir vielleicht sehen, ob es zur aristotelischen Ontologie gehört.


Walter Seitter
23. Oktober 2019

Freitag, 18. Oktober 2019

Über Werden und Vergehen (sozein ta phainomena)

Da ich letztes Mal davon sprach, dass Heidegger für dynamis auch „Kraft“ sagt, nun die Bemerkung, dass dieser Begriff in der heutigen  Physik durchaus eine offizielle Rolle spielt. Dem aristotelischen Gegenbegriff energeia entspricht in der Physik die „Arbeit“. Für die aristotelische Philosophie war nun einmal die „Physik“ die wichtigste Basiswissenschaft – in dieser Tatsache mag man ihre Beschränktheit sehen, sie ist aber nicht aus der Welt zu schaffen.

Und eine andere neulich bemerkte Tatsache ist, dass Aristoteles im Kapitel 10 von Buch IX das Seiende, welches vielfältig ausgesagt wird, plötzlich durch das Nicht-Seiende verdoppelt (1051a 34). Und damit treibt er eine Tendenz der Ontologie auf die Spitze, die es verdient, extra ins Auge gefasst zu werden. Die aristotelische  Ontologie kapriziert sich nicht darauf, den maximalen Seinsmodalitäten Monopole zuzusprechen und zu sagen, nur diese, also das Wesen, oder die Wirklichkeit, oder das Wahre gehören zum Seienden. Nein, auch die jeweiligen Gegenpole, die „weniger“ sind, die schwächer sind, eher minimal, wie eben die Akzidenzien, das Mögliche, das Falsche, gehören zum Seienden. Das Grundwort „seiend“ ist so ein flexibler, ein fast vieldeutiger „Begriff“, dass er sogar noch das Minimum, das Fast-Nichts, und sogar das Nicht-Seiende einschließt, sofern es durch diese seine Benennung als minimaler Grenzfall von „seiend“ gelten kann.

Die aristotelische Ontologie ist erst um die vorletzte Jahrhundertwende dank Franz Brentano, Edmund Husserl, Nicolai Hartmann, Martin Heidegger, Hedwig Conrad-Martius  philosophisch wieder ernstgenommen worden – und dabei hat der Begriff „Phänomen“ eine vermittelnde Rolle gespielt. Mit diesem Begriff vermeidet man etwas massivere Ausdrücke wie „Entität“, „Realität“, „Wirklichkeit“ oder gar „Seiendheit“ und suggeriert etwas Leichteres, auch Minderes.

Dieses moderne Wort „Phänomen“ stammt natürlich von dem antiken Wort phainomenon, welches  für Erscheinendes, Wahrgenommenes steht. Für manche antiken Philosophen fiel das bereits in den Bereich des bloßen Scheins und des  Nicht-Seienden. Aristoteles setzt sich mit seiner Ontologie von diesem Dualismus ab und formuliert mehrere Differenzebenen, Ontologie-Achsen die jeweils zwischen einem Maximum und einem Minus oder Minimum changieren: unterschiedliche Seinsmodalitäten, die gerade noch unter „seiend“ fallen.

Ich selber habe in meinem Buch Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen eine spezielle Differenzebene aufgestellt, die von „Erscheinung“ im Sinne von Glanz oder Herrlichkeit, über „erscheinen“ im Sinne von „sich zeigen“, dann zum Anschein, zum bloßen Schein oder zum Unscheinbaren und zur Erscheinungsverweigerung führt: auf dieser Ebene fallen Phänomenologie und Ontologie ineinander.

Die in der Antike umlaufende Parole „sozein ta phainomena – die Erscheinungen retten“ könnte man dafür namhaft machen.

Aristoteles hat so eine Ontologie-Ebene nicht explizit konstruiert. Wohl aber hat er im Buch IV schon eine weitere, sagen wir eine vierte Ontologie-Ebene angedeutet. Nämlich diejenige, die mit den beiden Begriffen genesis und phthora definiert wird und der er ein ganzes Buch gewidmet hat, das vor kurzem eine gute Neuedition erfahren hat.

Aristoteles: Über Werden und Vergehen. De generatione et corruptione (Hamburg 2011)

Thomas Buchheim, der Herausgeber und Übersetzer, weist in seiner Einleitung darauf hin, dass in dieser Schrift die beiden im Titel genannten Vorgänge im Vordergrund stehen und nicht die Wesen (die in der ersten, in der kategorialen Ontologie-Achse dominieren).

Indem wir da zu lesen beginnen (314a 1-24), sehen wir gleich, dass die Wesen nun aber keineswegs abgeschafft sind oder sonst wie wegfallen, denn das, was wird und vergeht, oder entsteht und zerstört wird, wird schon im ersten Satz umschrieben – eben mit den Verbalpartizipien. Das sind die „werdenden und vergehenden“, scil. Dinge. Aber sie bekommen jetzt noch keine direkte substantivische Nennung.

Werden und Vergehen bilden eine radikale Ontologie-Achse – denn sie bezeichnen den Umschlag vom Nicht-Sein zum Sein und den Umschlag vom Sein zum Nicht-Sein.

Es werden aber gleich zwei weitere Vorgänge genannt: Wachstum und Veränderung. Zugleich wird die Frage aufgeworfen, ob es sich bei Werden und Veränderung um gleiche oder ungleiche Vorgänge handelt. Und dann bekommen die Dinge doch auch eine Wesensbestimmung: Natur. Und was den Vorgang des Wachsens betrifft, dürfen wir annehmen, dass er hauptsächlich den Pflanzen und Tieren zukommt.

Zur näheren Diskussion greift Aristoteles auf einige ältere Naturphilosophen zurück und ich erwähne hier nur den Unterschied zwischen denen, die wahrnehmbare Körper oder Eigenschaften beschreiben, wie Empedokles oder Anaxagoras, und denen die von winzig kleinen, unwahrnehmbaren Atomen sprechen, wie Demokrit oder Leukipp. Aristoteles hat deren Ansichten gar nicht geteilt – weil er sie nicht für Ansichten im Sinn von Anschauungen gehalten hat. Doch sofern sie irgendwie rational formuliert waren, ist seine Ontologie für sie offen: nicht-seiende Entitäten oder falsche Aussagen. Falsche Aussagen haben nicht den gleichen Status wie wahre oder wahrscheinliche oder gar nicht wahrheitsfähige – sie werden verneint und als solche zur Kenntnis genommen. Sie werden nicht „vernichtet“ mit dem Ergebnis, als wären sie nie gewesen. Denn das geht gar nicht.


Walter Seitter
16. Oktober 2019

Freitag, 11. Oktober 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH IX (Θ), 1051a 34 – 1051b 6)

Ich berichte von der Lektüre des Buches, in dem die Vorlesung dokumentiert ist, die Heidegger im Sommersemester 1931 über die ersten drei Kapitel von Buch IX der Metaphysik gehalten  hat – die wir vor einiger Zeit  gelesen haben.  

Martin Heidegger: Metaphysik Θ 1- 3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft (Frankfurt 2006).

Darin handelt es sich um die Polarität der Begriffe dynamis und energeia, zu deren Übersetzung Heidegger nur dies beiträgt, dass er für dynamis auch die alltagssprachliche Grundbedeutung „Kraft“ namhaft macht, womit jedwedes Können, so auch die körperliche oder seelische Energie gemeint sein kann (das deutsche Fremdwort „Energie“ stammt zwar vom griechischen energeia ab, doch semantisch steht es der dynamis nahe). In diesem Zusammenhang wirft Heidegger die Frage auf, ob sich der aristotelische Ursachen-Begriff, das Ursachsein, etwa die Wirkursache,  in die Ontologie einfügt. Dies wird von Aristoteles immerhin angedeutet, da die Wirkursache bei ihm „das Bewegende“ heißt und die Bewegung (nicht nur Ortsbewegung!) den Kategorien angegliedert wird. Zu den Kategorien wird das Wirken oder Machen gezählt, womit wie ich meine die Ontologie aus der puren Statik herausgehoben wird. Im Buch VII ist das Vermögen  zu einer Ursache von Entstehung erklärt worden  (1032a 27). Eine Ursache ist etwas, was die Kraft hat, etwas hervorzubringen oder zu verändern oder zu erhalten.

In seinem kürzesten Resümee sagt Heidegger, dass das volle Wesen nur erfasst werden kann, wenn man zum „Was“ auch das „Wie“ eines Dinges oder Vorganges berücksichtigt – und dazu müsse man die Modalitäten der Möglichkeit und der Wirklichkeit beachten. Dazu sage ich, dass bereits die neun Akzidenzien, die zum Wesen dazukommen, verschiedene Wie-Bestimmungen  einführen. Das heißt, die Ontologie beschränkt sich nicht darauf, die Dominanz des Wesens zu behaupten – im Gegenteil, sie stellt den Monopolanspruch des Wesens in Frage und entfaltet ein breites Spektrum von anderen Seinsmodalitäten. Mit diesem meinem Ausdruck verwende ich das Wort „Sein“ aristotelischer als Heidegger dies in seiner Philosophie tut.

Der erste Satz des bereits gelesenen Kapitels 10 von Buch IX führt mit großer Deutlichkeit vor, dass die Aussagevielfältigkeit des Seienden sich aus mehreren Stücken zusammensetzt: aus den Kategorien (Wesen mitsamt Akzidenzien), aus Möglichkeit und Wirklichkeit sowie aus Wahr und Falsch. Und er verdoppelt beinahe die damit zustande kommende Zahl, indem er von Anfang an bereits die Negation des Seienden selbst mit einbezieht, die er auch für Möglichkeit und Wirklichkeit namhaft macht.

Auch die beiden Terme „wahr“ und „falsch“ verhalten sich zueinander wie Position und Negation. Und es stellt sich die Frage, wo denn „wahr“ und „falsch“ vorkommen – in erster Linie kommen sie an Aussagen vor. Aristoteles nennt in der Folge mehrere andere Tätigkeiten, die zum Vorkommen der beiden Eigenschaften führen.

Im Unterschied zu den objektorientierten Wissenschaften wie Physik oder Politikwissenschaft (beide bei Aristoteles), die sich direkt bestimmten Weltphänomenen zuwenden, sowie zu den modern so genannten Metawissenschaften wie Linguistik, Logik, Wissenschaftstheorie, positioniert sich die Ontologie als eine sehr spezielle zweigleisige Betrachtungsweise: sie geht von Wörtern mit eher formalen Bedeutungen aus und wendet sie ins Objektive.


Walter Seitter
9. Oktober 2019