Die Ontologie ist eine
Betrachtungsweise, die das „Seiende“ unter striktem Immanenzgesichtspunkt ins
Auge fasst, nämlich das Seiende als seiendes, und daraus zu Differenzierungen
übergeht und zwar zu verschiedenen Differenzierungen.
Den Immanentismus betont Aristoteles
mit der Wiederholung des Ausdrucks „seiend“, den ich, weil ich kein antiker
Grieche bin und auch kein geborener Philosoph, als fremdartig, ja befremdend
empfinde – und so empfinde ich die Ontologie als eine artifiziellere Tätigkeit
denn die „Metaphysik“ oder das Reden von „Gott und der Welt“ oder die Suche
nach Weisheit, weil diese Ausdrücke sich leichter an unsere kulturellen
Gewohnheiten anschließen (und damit will ich nicht sagen, dass sie nicht auch
Annäherungen ans Philosophieren zum Ausdruck bringen).
Die Ontologie ist eine
ganz eigene, ja eigenwillige Erfindung des Aristoteles, die von seinen anderen
Abhandlungen zu unterscheiden ist – auch wenn sich einige ihrer Elemente
durchaus auch in ihnen auffinden lassen (etwa in seiner Physik oder in seiner
Poetik oder in seinen Schriften zur Logik).
Möglich war diese
Erfindung, weil das Partizip Präsens „seiend“ schon vor Aristoteles in der
griechischen Sprache und Literatur ziemlich geläufig war – Ähnliches ist von
der lateinischen oder deutschen oder französischen Sprache nicht festzustellen
(das sind die mir bekannten Sprachen). Und einige Philosophen haben das
„seiend“ schon vor Aristoteles in ihre Terminologie aufgenommen – haben aber
keine vergleichbare pure Ontologie konstruiert.
Die Kategorien und das
Buch IV der Metaphysik bilden die ersten kompakten Abhandlungen zur Ontologie –
mit dem Unterschied, dass die Kategorienschrift von Aristoteles selber
redigiert worden sein könnte, während die Metaphysik aus unterschiedlichen
Textblöcken zusammengesetzt, locker gefügt ist, wodurch die Ontologie dann
einen langsam vorgehenden, einen kumulativen, auch repetitiven und nicht ganz
homogenen Charakter bekommen hat.
Der bereits öfter zitierte
Anfang des Abschnittes 10 von Buch IX resümiert das Projekt der Ontologie und
gibt ihm auch zwei neue Wendungen, indem dem Seienden das Nicht-Seiende glatt
hinzugefügt (oder entgegengesetzt) wird, und indem zum Teilbereich, der durch
die Kategorien definiert wird, nicht nur der aus Möglichkeit und Wirklichkeit
bestehende hinzugefügt wird, sondern erstmals ein dritter angehängt wird, der
mit „wahr“ und „falsch“ definiert wird.
Die Ontologie kapriziert
sich zwar auf das „seiend“, sie fokussiert immerzu dieses Eine und Selbe – aber
sie nimmt es immer wieder und auf unterschiedliche Weise auseinander. Das
griechische Wort dafür ist dihairesis.
Die drei erwähnten
Teilbereiche haben die Form von Ontologie-Achsen, es sind
Differenzierungsachsen oder -polaritäten.
Kategoriale Polarität:
Substanz -------- Akzidenzien
Modale Polarität:
Möglichkeit ----- Wirklichkeit
Epistemische Polarität:
wahr -------- falsch
Dem Duktus der
aristotelischen Ontologie würde es wohl entsprechen, wenn sie noch eine weitere
Differenzierungspolarität aufweisen würde – oder noch einige?
Da Aristoteles dem Werden
und Vergehen ein eigenes kleines Buch gewidmet hat, lässt sich die Frage
stellen, ob die damit angedeutete Polarität auch eine Ontologie-Achse bilden
könnte.
Was spricht dafür? Die
eben erwähnte Grundpolarität seiend – nichtseiend spricht dafür. Denn wenn es
zwischen diesen beiden Polen Übergänge geben sollte, dann würden die wohl
lauten: werden und vergehen; oder entstehen und zugrundegehen. Auch die Achse
zwischen möglich und wirklich würde das nahelegen.
Die genannten Achsen
stehen ja nicht unverbunden neben- oder übereinander. Sie durchqueren einander
und treffen einander an jedem konkreten Ding oder Vorgang. Für die
Differenzierungsresultate aller Achsen habe ich den Allgemeinbegriff
„Seinsmodaliät“ vorgeschlagen.
Was für Seinsmodalitäten
sind Werden und Vergehen? Zur Beantwortung dieser Frage braucht man keinen
Aristoteles oder dergleichen – man braucht nur sich selber mit Hausverstand und
Sprachkompetenz. Entstehen ist anfangen zu sein, Zerstörtwerden ist aufhören zu
sein. Sein anfangen, sein aufhören.
Entstehen, bestehen,
vergehen. Das ist die übliche Reihenfolge, in der drei Seinsmodalitäten in der
Welt tatsächlich vorkommen. Die hier als zweite genannte wird von Aristoteles
kaum in den Vordergrund gerückt. Er versteckt sie in seinem Grundwort „seiend“.
Dieses Verstecken hat Heidegger ihm zum Vorwurf gemacht.
Von da aus gesehen könnte
man sogar meinen, dass gerade mit Werden und Vergehen das Seiende ontologisch
angekratzt, angegriffen, aufgebrochen, einer Spektralanalyse ausgesetzt wird.
Werden und Vergehen sind
Seinsmodalitäten. Aber irgendwelche Seiende im Sinne von Stabilitätszonen oder
-zentren, im Sinne von Dingen, kommen da auch vor.
In dem genannten Buch
stellt Aristoteles zwar die Vorgänge wie Entstehung, Veränderung, Zerstörung in
den Vordergrund. Aber schon auf der ersten Seite fängt er damit an, die Dinge
zu nennen, die dazugehören. Und Thomas Buchheim nennt in seinem Klappentext
einige davon geradezu pathetisch „unsere Liebsten“ – und meint damit wohl Frau,
Kind und dergleichen. Entfernt er sich damit allzu weit von Aristoteles? Er
entfernt sich nicht himmelweit. Immerhin sagt dieser einmal innerhalb der
kategorialen Ontologie, im Buch VII der Metaphysik, dass so geschätzte
Eigenschaften wie „weiß“ und „gebildet“ nicht das Wesen ausmachen – wohl aber
das Du. (1029b 14)
Ergibt sich daraus, dass
Werden und Vergehen eine zusätzliche Achse der Ontologie bilden? Die Antwort
würde dann negativ ausfallen, wenn es die Ontologie nur mit ewigen und
unveränderlichen Entitäten zu tun hätte. Das aber ist nicht der Fall.
Sie sollte allerdings die
durchgängigen Bestimmungen aller Seienden erfassen. Wenn es für Aristoteles
auch ewige Entitäten gibt, würde das genannte Buch an diesen sozusagen
vorbeischreiben. Es würde keine vollständige Ontologie liefern. Also doch nur
eine Art Physik? Oder eine Ontologie für solche wie wir Heutigen, die
jedenfalls am Himmel keine Ewigen zu erblicken meinen?
Wenn wir das Buch Werden
und Vergehen lesen sollten, könnten wir vielleicht sehen, ob es zur
aristotelischen Ontologie gehört.
Walter Seitter
23. Oktober 2019