τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 18. Oktober 2019

Über Werden und Vergehen (sozein ta phainomena)

Da ich letztes Mal davon sprach, dass Heidegger für dynamis auch „Kraft“ sagt, nun die Bemerkung, dass dieser Begriff in der heutigen  Physik durchaus eine offizielle Rolle spielt. Dem aristotelischen Gegenbegriff energeia entspricht in der Physik die „Arbeit“. Für die aristotelische Philosophie war nun einmal die „Physik“ die wichtigste Basiswissenschaft – in dieser Tatsache mag man ihre Beschränktheit sehen, sie ist aber nicht aus der Welt zu schaffen.

Und eine andere neulich bemerkte Tatsache ist, dass Aristoteles im Kapitel 10 von Buch IX das Seiende, welches vielfältig ausgesagt wird, plötzlich durch das Nicht-Seiende verdoppelt (1051a 34). Und damit treibt er eine Tendenz der Ontologie auf die Spitze, die es verdient, extra ins Auge gefasst zu werden. Die aristotelische  Ontologie kapriziert sich nicht darauf, den maximalen Seinsmodalitäten Monopole zuzusprechen und zu sagen, nur diese, also das Wesen, oder die Wirklichkeit, oder das Wahre gehören zum Seienden. Nein, auch die jeweiligen Gegenpole, die „weniger“ sind, die schwächer sind, eher minimal, wie eben die Akzidenzien, das Mögliche, das Falsche, gehören zum Seienden. Das Grundwort „seiend“ ist so ein flexibler, ein fast vieldeutiger „Begriff“, dass er sogar noch das Minimum, das Fast-Nichts, und sogar das Nicht-Seiende einschließt, sofern es durch diese seine Benennung als minimaler Grenzfall von „seiend“ gelten kann.

Die aristotelische Ontologie ist erst um die vorletzte Jahrhundertwende dank Franz Brentano, Edmund Husserl, Nicolai Hartmann, Martin Heidegger, Hedwig Conrad-Martius  philosophisch wieder ernstgenommen worden – und dabei hat der Begriff „Phänomen“ eine vermittelnde Rolle gespielt. Mit diesem Begriff vermeidet man etwas massivere Ausdrücke wie „Entität“, „Realität“, „Wirklichkeit“ oder gar „Seiendheit“ und suggeriert etwas Leichteres, auch Minderes.

Dieses moderne Wort „Phänomen“ stammt natürlich von dem antiken Wort phainomenon, welches  für Erscheinendes, Wahrgenommenes steht. Für manche antiken Philosophen fiel das bereits in den Bereich des bloßen Scheins und des  Nicht-Seienden. Aristoteles setzt sich mit seiner Ontologie von diesem Dualismus ab und formuliert mehrere Differenzebenen, Ontologie-Achsen die jeweils zwischen einem Maximum und einem Minus oder Minimum changieren: unterschiedliche Seinsmodalitäten, die gerade noch unter „seiend“ fallen.

Ich selber habe in meinem Buch Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen eine spezielle Differenzebene aufgestellt, die von „Erscheinung“ im Sinne von Glanz oder Herrlichkeit, über „erscheinen“ im Sinne von „sich zeigen“, dann zum Anschein, zum bloßen Schein oder zum Unscheinbaren und zur Erscheinungsverweigerung führt: auf dieser Ebene fallen Phänomenologie und Ontologie ineinander.

Die in der Antike umlaufende Parole „sozein ta phainomena – die Erscheinungen retten“ könnte man dafür namhaft machen.

Aristoteles hat so eine Ontologie-Ebene nicht explizit konstruiert. Wohl aber hat er im Buch IV schon eine weitere, sagen wir eine vierte Ontologie-Ebene angedeutet. Nämlich diejenige, die mit den beiden Begriffen genesis und phthora definiert wird und der er ein ganzes Buch gewidmet hat, das vor kurzem eine gute Neuedition erfahren hat.

Aristoteles: Über Werden und Vergehen. De generatione et corruptione (Hamburg 2011)

Thomas Buchheim, der Herausgeber und Übersetzer, weist in seiner Einleitung darauf hin, dass in dieser Schrift die beiden im Titel genannten Vorgänge im Vordergrund stehen und nicht die Wesen (die in der ersten, in der kategorialen Ontologie-Achse dominieren).

Indem wir da zu lesen beginnen (314a 1-24), sehen wir gleich, dass die Wesen nun aber keineswegs abgeschafft sind oder sonst wie wegfallen, denn das, was wird und vergeht, oder entsteht und zerstört wird, wird schon im ersten Satz umschrieben – eben mit den Verbalpartizipien. Das sind die „werdenden und vergehenden“, scil. Dinge. Aber sie bekommen jetzt noch keine direkte substantivische Nennung.

Werden und Vergehen bilden eine radikale Ontologie-Achse – denn sie bezeichnen den Umschlag vom Nicht-Sein zum Sein und den Umschlag vom Sein zum Nicht-Sein.

Es werden aber gleich zwei weitere Vorgänge genannt: Wachstum und Veränderung. Zugleich wird die Frage aufgeworfen, ob es sich bei Werden und Veränderung um gleiche oder ungleiche Vorgänge handelt. Und dann bekommen die Dinge doch auch eine Wesensbestimmung: Natur. Und was den Vorgang des Wachsens betrifft, dürfen wir annehmen, dass er hauptsächlich den Pflanzen und Tieren zukommt.

Zur näheren Diskussion greift Aristoteles auf einige ältere Naturphilosophen zurück und ich erwähne hier nur den Unterschied zwischen denen, die wahrnehmbare Körper oder Eigenschaften beschreiben, wie Empedokles oder Anaxagoras, und denen die von winzig kleinen, unwahrnehmbaren Atomen sprechen, wie Demokrit oder Leukipp. Aristoteles hat deren Ansichten gar nicht geteilt – weil er sie nicht für Ansichten im Sinn von Anschauungen gehalten hat. Doch sofern sie irgendwie rational formuliert waren, ist seine Ontologie für sie offen: nicht-seiende Entitäten oder falsche Aussagen. Falsche Aussagen haben nicht den gleichen Status wie wahre oder wahrscheinliche oder gar nicht wahrheitsfähige – sie werden verneint und als solche zur Kenntnis genommen. Sie werden nicht „vernichtet“ mit dem Ergebnis, als wären sie nie gewesen. Denn das geht gar nicht.


Walter Seitter
16. Oktober 2019

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