Da ich letztes Mal davon
sprach, dass Heidegger für dynamis auch „Kraft“ sagt, nun die Bemerkung,
dass dieser Begriff in der heutigen Physik durchaus eine offizielle Rolle
spielt. Dem aristotelischen Gegenbegriff energeia entspricht in der
Physik die „Arbeit“. Für die aristotelische Philosophie war nun einmal die
„Physik“ die wichtigste Basiswissenschaft – in dieser Tatsache mag man ihre
Beschränktheit sehen, sie ist aber nicht aus der Welt zu schaffen.
Und eine andere neulich
bemerkte Tatsache ist, dass Aristoteles im Kapitel 10 von Buch IX das Seiende,
welches vielfältig ausgesagt wird, plötzlich durch das Nicht-Seiende verdoppelt
(1051a 34). Und damit treibt er eine Tendenz der Ontologie auf die Spitze, die
es verdient, extra ins Auge gefasst zu werden. Die aristotelische
Ontologie kapriziert sich nicht darauf, den maximalen Seinsmodalitäten Monopole
zuzusprechen und zu sagen, nur diese, also das Wesen, oder die Wirklichkeit,
oder das Wahre gehören zum Seienden. Nein, auch die jeweiligen Gegenpole, die
„weniger“ sind, die schwächer sind, eher minimal, wie eben die Akzidenzien, das
Mögliche, das Falsche, gehören zum Seienden. Das Grundwort „seiend“ ist so ein
flexibler, ein fast vieldeutiger „Begriff“, dass er sogar noch das Minimum, das
Fast-Nichts, und sogar das Nicht-Seiende einschließt, sofern es durch diese
seine Benennung als minimaler Grenzfall von „seiend“ gelten kann.
Die aristotelische
Ontologie ist erst um die vorletzte Jahrhundertwende dank Franz Brentano,
Edmund Husserl, Nicolai Hartmann, Martin Heidegger, Hedwig Conrad-Martius
philosophisch wieder ernstgenommen worden – und dabei hat der Begriff
„Phänomen“ eine vermittelnde Rolle gespielt. Mit diesem Begriff vermeidet man
etwas massivere Ausdrücke wie „Entität“, „Realität“, „Wirklichkeit“ oder gar
„Seiendheit“ und suggeriert etwas Leichteres, auch Minderes.
Dieses moderne Wort
„Phänomen“ stammt natürlich von dem antiken Wort phainomenon,
welches für Erscheinendes, Wahrgenommenes steht. Für manche antiken
Philosophen fiel das bereits in den Bereich des bloßen Scheins und des
Nicht-Seienden. Aristoteles setzt sich mit seiner Ontologie von diesem
Dualismus ab und formuliert mehrere Differenzebenen, Ontologie-Achsen die
jeweils zwischen einem Maximum und einem Minus oder Minimum changieren: unterschiedliche
Seinsmodalitäten, die gerade noch unter „seiend“ fallen.
Ich selber habe in meinem
Buch Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der
Erscheinungen eine spezielle Differenzebene aufgestellt, die von
„Erscheinung“ im Sinne von Glanz oder Herrlichkeit, über „erscheinen“ im Sinne
von „sich zeigen“, dann zum Anschein, zum bloßen Schein oder zum Unscheinbaren
und zur Erscheinungsverweigerung führt: auf dieser Ebene fallen Phänomenologie
und Ontologie ineinander.
Die in der Antike
umlaufende Parole „sozein ta phainomena – die Erscheinungen retten“
könnte man dafür namhaft machen.
Aristoteles hat so eine
Ontologie-Ebene nicht explizit konstruiert. Wohl aber hat er im Buch IV schon
eine weitere, sagen wir eine vierte Ontologie-Ebene angedeutet. Nämlich
diejenige, die mit den beiden Begriffen genesis und phthora
definiert wird und der er ein ganzes Buch gewidmet hat, das vor kurzem eine
gute Neuedition erfahren hat.
Aristoteles: Über
Werden und Vergehen. De generatione et corruptione (Hamburg 2011)
Thomas Buchheim, der
Herausgeber und Übersetzer, weist in seiner Einleitung darauf hin, dass in
dieser Schrift die beiden im Titel genannten Vorgänge im Vordergrund stehen und
nicht die Wesen (die in der ersten, in der kategorialen Ontologie-Achse
dominieren).
Indem wir da zu lesen
beginnen (314a 1-24), sehen wir gleich, dass die Wesen nun aber keineswegs
abgeschafft sind oder sonst wie wegfallen, denn das, was wird und vergeht, oder
entsteht und zerstört wird, wird schon im ersten Satz umschrieben – eben mit
den Verbalpartizipien. Das sind die „werdenden und vergehenden“, scil. Dinge.
Aber sie bekommen jetzt noch keine direkte substantivische Nennung.
Werden und Vergehen bilden
eine radikale Ontologie-Achse – denn sie bezeichnen den Umschlag vom Nicht-Sein
zum Sein und den Umschlag vom Sein zum Nicht-Sein.
Es werden aber gleich zwei
weitere Vorgänge genannt: Wachstum und Veränderung. Zugleich wird die Frage
aufgeworfen, ob es sich bei Werden und Veränderung um gleiche oder ungleiche
Vorgänge handelt. Und dann bekommen die Dinge doch auch eine Wesensbestimmung:
Natur. Und was den Vorgang des Wachsens betrifft, dürfen wir annehmen, dass er
hauptsächlich den Pflanzen und Tieren zukommt.
Zur näheren Diskussion
greift Aristoteles auf einige ältere Naturphilosophen zurück und ich erwähne
hier nur den Unterschied zwischen denen, die wahrnehmbare Körper oder
Eigenschaften beschreiben, wie Empedokles oder Anaxagoras, und denen die von
winzig kleinen, unwahrnehmbaren Atomen sprechen, wie Demokrit oder Leukipp.
Aristoteles hat deren Ansichten gar nicht geteilt – weil er sie nicht für
Ansichten im Sinn von Anschauungen gehalten hat. Doch sofern sie irgendwie
rational formuliert waren, ist seine Ontologie für sie offen: nicht-seiende
Entitäten oder falsche Aussagen. Falsche Aussagen haben nicht den gleichen
Status wie wahre oder wahrscheinliche oder gar nicht wahrheitsfähige – sie
werden verneint und als solche zur Kenntnis genommen. Sie werden nicht
„vernichtet“ mit dem Ergebnis, als wären sie nie gewesen. Denn das geht gar
nicht.
Walter Seitter
16. Oktober 2019
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