τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 31. März 2016

In der Metaphysik lesen (Zur Substanz II)


Um dem Vergessen neuerlich entgegenzutreten und damit überhaupt so etwas wie Lernen endlich zu ermöglichen, gehen wir noch einmal auf das in den letzten Stunden (und auch in den letzten Jahren) Gelesene und Gesagte zurück – ich betone hier das auch deswegen, weil ich am Schluß das Gedächtnis und die Erinnerung in einen größeren Zusammenhang einordnen werde. Wobei Erinnerung und Gedächtnis immer die Funktion haben, Zusammenhänge über Entfernungen hinweg herzustellen und aufrechtzuerhalten.

Jetzt zum Verhältnis zwischen Erster Substanz und Zweiter Substanz und zu meiner Behauptung, die Erste Substanz könne als ein Ganzes, die Zweite Substanz als ein Teil dieses Ganzen betrachtet werden. Aber nicht als irgendein Teil – so wie ein Ast ein Teil eines Baumes ist, sondern ein „substanzieller“ Teil: der Was-Teil, derjenige Teil, der dem Baum die Baumheit liefert, der den Baum als solchen qualifiziert und der deshalb ebenfalls den Titel „Substanz“ zugesprochen bekommt.

Daher bei Aristoteles die etwas verwirrende „Doppelung“ des Substanz-Begriffs sowie der ganz enge Zusammenhang der „beiden Substanzen“. Doppelung oder Spaltung?

Die Dualität und der Zusammenhang zwischen Erster und Zweiter Substanz kann sehr wohl mit einer anderen Dualität verglichen werden: mit der platonischen Dualität zwischen Urbild und Abbild, wobei die aristotelische Zweite Substanz mit dem platonischen Urbild zunächst einmal ungefähr(!) gleichgesetzt werden kann, während die aristotelische Erste Substanz in etwa die Stelle des platonischen Abbildes einnimmt. Und dennoch müssen die beiden Begriffspaare deutlich voneinander unterschieden werden. Die aristotelische Zweite Substanz hat nicht wie das platonische Urbild eine eigene und sogar höhere Existenz, sondern sie ist nur als Teil der Ersten Substanz wirklich im vollen Sinn. Nicht transzendent sondern immanent.

Ich glaube, dass meine Deutung mit derjenigen, die Gianluigi Segalerba ausführlich entfaltet hat, übereinstimmt.[1]

Es handelt sich bei Platon und bei Aristoteles um zwei ganz verschiedene Topiken oder Ortsverhältnisse. Bei Platon sind Urbild und Abbild weit voneinander entfernt, das Abbild ist nur ein Abglanz, ein schwacher, ganz und gar abhängig vom Urbild. Erste Substanz und zweite Substanz hängen hingegen wie Ganzes und Teil eng miteinander zusammen – allerdings wird die zweite Substanz mit anderen gleichartigen Ersten Substanzen ebenso eng zusammenhängen. Die Zweiten Substanzen existieren jeweils polytopisch in allen Mitgliedern der Artgenossenschaft, die Ersten Substanzen jeweils monotopisch, jede für sich. Bei Platon residiert und regiert das transzendente Urbild monotopisch, die jeweils dazugehörigen Abbilder sind polytopisch zerstreut.

Das alles sind Formulierungen, die sich auf die aristotelische Fachsprache beziehen, sie mit der platonischen Sprache und Position vergleichen. Sie verbleiben innerhalb der aristotelischen Terminologie, schauen sich in ihr um, suchen nach Abwandlungen, nach zusätzlichen Gesichtspunkten, etwa den topischen.

Und nun zu meinem Satz „Man ist Körper und hat Seele.“ Ein Satz, der ungewohnt klingt, vielleicht sogar anstößig. Und er will geradezu auffällig sein, ja anstoßend. Nur wenn er so wahrgenommen wird, hat er eine Chance, verstanden zu werden. Er will die aristotelischen Aussagen im Abschnitt 8, welche den Begriff „Substanz“ mit den umgangssprachlichen Wörtern „Körper“, „Seele“ erklären, illustrieren sollen, ziemlich radikal umformulieren – damit wir sie endlich verstehen.

Jetzt sage ich „wir“ und damit vollziehe ich bereits eine Drehung der Sprache, die ich noch weiter treibe, indem ich den Protokoll-Satz „Man ist Körper und hat Seele.“ noch um 45 Grad weiterdrehe und sage: “Ich bin Körper und habe Seele.“

Ich transformiere die ersten Sätze von Buch V, Abschnitt 8, in diesen Ich-Satz – als Mittel-Satz setze ich voraus bzw. dazwischen: „Ich bin ein Lebewesen.“ Da Aristoteles mit diesem Satz einverstanden ist, wahrt auch meine Umformulierung den Sinn seiner Sätze.

Es handelt sich um eine „radikale“ Umformulierung, da sie vielleicht zum ersten Mal so vollzogen wird, und vor allem, weil sie mit der Ich-Perspektive einen Ausgangspunkt wählt und eine Aussagerichtung einschlägt, die Aristoteles eher vermieden hat.

Wenn ich den – hohen – Anspruch erhebe, Aristoteles in unsere Umgangssprache zu übertragen, so meine ich damit auch die Personalpronomen der ersten und der zweiten Person, und zwar diese Personalpronomen als Bestandteile des theoretischen Sprechens. Immerhin hat sich Aristoteles schon auf diesen Weg gemacht und auf diesem Weg hat er die zweite Person ganz vorsichtig zur Sprache gebracht – was eigentlich nur von der ersten Person aus möglich ist. Buch VII, 1029b 15ff.: „Denn das Du-sein ist nicht das Musisch-sein. Denn du bist nicht musisch, insofern du bist, was du also bist, insofern du du bist, das ist dein Was-es-ist-dies-zu-sein.“

Und jetzt komme ich auf etwas zu sprechen, was mit dem Substanz-sein eng zusammenhängt: auf die Frage, wie es mit der Dauerhaftigkeit der Substanzen steht.

Im kommenden Mai wird der 2400. Geburtstag von Aristoteles gefeiert. Das heißt, er ist vor 2400 Jahren geboren worden, seine Existenz hat im Jahr 384 begonnen, er ist im Jahre 322 gestorben. Also ist er 62 Jahre alt geworden – und nicht älter. Oder wird er demnächst 2400 Jahre alt? Diese Aussage wäre nur sinnvoll, wenn er irgendwie doch weiterexistieren würde – und das scheint mir eigentlich evident zu sein. Denn wir beschäftigen uns schon seit Jahren mit ihm als einem gegenwärtigen Menschen, dessen Texte vorliegen, von uns gelesen und besprochen werden. Nehmen wir an, wir lesen seine Schrift über die Kategorien, die er mit 35 Jahren geschrieben hat (mit dem stupenden Satz, kein Mensch sei menschlicher als irgendein anderer), dann haben wir es mit dem 35-jährigen Aristoteles zu tun. Für uns gibt es, so meine Behauptung, den 35-jährigen, den 62-jährigen, den 2400-jährigen Aristoteles. Also einen mehrfach, einen unterschiedlich dauerhaften Aristoteles, einen Aristoteles-Körper aus unterschiedlichen Materialien und mit einer Seele aus unterschiedlichen Seelenkräften, insgesamt mit unterschiedlichen Leistungen, Kollaborationen, auch denjenigen mit uns hier. Wir stehen an der vorderen Front des 2400-jährigen Aristoteles und seiner weitergehenden Wirkungen.

Andere Leute interessieren sich mehr für den jüdischen Wanderprediger Jesus von Nazareth, der von 1 bis 33 gelebt hat, gestorben ist und am dritten Tag „auferstanden“. Dieses Zusatzschicksal oder -gerücht ändert aber nichts daran, dass er heute ebenso gestorben ist wie der wenige Jahrhunderte ältere Aristoteles. Nur hat bei ihm die Sache mit der „Auferstehung“ dazu geführt, dass er nicht vergessen worden ist sondern von vielen verehrt wird. Und dazu, dass der jüdische Glaube an die Auferstehung der Toten sich weiter verbreitet hat. Dieser Glaube passt ziemlich gut zur aristotelischen Körper-Seele-Lehre, wonach eine Seele, deren Unsterblichkeit einmal vorausgesetzt, nur mit einem Körper, in einem Körper existieren kann, denn eigentlich kann nur der Körper existieren. Heute existieren Aristoteles und Jesus gleichermaßen in vielen beseelten Körpererweiterungen wie Büchern und so weiter. Wir tragen zu ihrem Weiterexistieren bei, sofern wir sie, oder einen von ihnen, nicht vergessen. Sofern wir unsere Beschäftigungen mit ihnen und überhaupt unsere vergangenen Erlebnisse nicht vergessen, tragen wir jetzt schon zu unserem eigenen Weiterexistieren bei.

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 30. März 2016


[1] Siehe Gianluigi Segalierba: Semantik und Ontologie. Drei Studien zu Aristoteles (Bern 2013)

Donnerstag, 17. März 2016

In der Metaphysik lesen (Zur Substanz)


Das Wort „Akzidens“ steht für eine Metakategorie, welche laut Kategorien neun einzelne Kategorien, nämlich die Akzidenzien, umfasst. Dazu kommen jedoch in anderen Schriften, zum Beispiel im Buch IV der Metaphysik, sowie im sogenannten „Wörterbuch“, also Buch V, noch weitere Seinsmodalitäten, von denen einige den Akzidenzien zugeordnet werden können. Im Kontrast zu den vielen Akzidenzien verbleibt die Substanz in der Einzahl und behauptet damit ihre einzigartige Stellung und ihren Primat. Auch einzelnen Akzidenzien wie dem echein von Abschnitt 23 in Buch V wird das pollachos legetai zugesprochen (1023a 8) – nicht aber der Substanz.

Und doch findet sich auch für die Substanz eine Differenzierung: kata dyo tropous legetai – sie wird in zwei Versionen eingesetzt (1017b 23): wohlgemerkt in genau zwei Versionen und diese zwei sind nicht einfach zwei nebeneinander liegende Bedeutungen sondern zwei formal unterschiedliche und streng zusammengehörige Aspekte. In den Kategorien heißen sie „erste Substanz“ und „zweite Substanz“. Mit der ersten Substanz sind getrennt existierende Individuen gemeint, mit der zweiten Substanz sind Artbestimmungen gemeint, die nur in den Individuen vorkommen und ohne die die Individuen nicht auskommen. Mit den Artbestimmungen werden die Individuen an die Klasse ihrer Artgenossen angeschlossen, indirekt auch die noch umfangreichere Klasse ihrer Gattungsgenossen. Am 18. April 2013 habe ich (in indirektem Anschluß an Philippe Descola) die vielen aristotelischen Bezeichnungen zusammengestellt, die Aristoteles für die zweite Substanz in Verwendung hat: es sind beinahe zehn und sie reichen von eidos und morphe bis entelecheia und psyche. Handelt es sich dabei um strikte Synonyme oder etwa gar um ein - neuerliches - pollachos legetai der zweiten Substanz auf niedrigerer (?) Ebene?

Diese Frage sei offengelassen – aber es darf die Vermutung geäußert werden, dass die Substanz, dieses Bollwerk der Einheit in der Brandung, beinahe im Chaos der Akzidenzien und der weiteren Seinsmodalitäten, doch nicht ganz unerschütterlich dasteht.

Mir geht es in der Aristoteles-Lektüre darum, seine Fachsprache in Umgangssprache zu übertragen. Ein Anliegen, das sich nicht mit dem Problem der Übersetzung, der technisch optimalen Übersetzung, deckt, sondern darüber hinausgeht. Erfreulicherweise hat Aristoteles selber sich dieses Anliegen zu eigen gemacht und das Verhältnis von erster Substanz und zweiter Substanz auch mit dem Schema „Ganzes – Teil“ ausgedrückt. So in dem bereits gelesenen Abschnitt 25, wo als Ganzes ein eherner Würfel vorgestellt wird und als zwei Teilaspekte der Stoff, also die Bronze, und die Form beziehungsweise das Formelement Winkel. Die Gesamtform, also die Würfelform, würde der zweiten Substanz entsprechen. Diese Form ist zwar nur ein Teilaspekt des Würfels, aber ein so wesentlicher, dass Aristoteles ihm den Titel „Substanz“ nicht verweigern will (der ja mit dem Wort „Wesen“ auch sehr gut wiedergegeben werden kann – worüber wir im Dezember 2013 schon eingehend gesprochen haben).

Daher die „Spaltung“ der Substanz in die „zwei Substanzen“ (oder in die „zwei Wesen“), die beide denselben Titel bekommen, obwohl die beiden als das Ganze und der Teil eigentlich nicht gleichberechtigt zu sein scheinen. Aber dieser Teil ist eben gleichberechtigt, daher gleichermaßen titelberechtigt. Die Spaltung ist auch eine Doppelung.

Die Übertragung in Umgangssprache wird von Aristoteles noch weitergetrieben – und zwar in dem kleinen und bereits gelesenen Abschnitt 8 des Wörterbuches, welcher eben der Substanz, dem Wesen, der ousia gewidmet ist. Ich verkürze den Text: Wesen heißen die Körper und die aus ihnen bestehenden Lebewesen ..... Andererseits heißt Wesen das, was in solchen Dingen als Ursache des Seins enthalten ist, wie etwa die Seele im Lebewesen (siehe 1017b 10ff.) Hier setzt Aristoteles für seine Fachbegriffe „erste Substanz“ und „zweite Substanz“ die Allerweltsbegriffe „Körper“ und „Seele“ ein, damit alle verstehen und nach Belieben selber konkrete Beispiele bilden können. Das Wort „konkret“ passt übrigens besonders gut für die „erste Substanz“, die eben zusammengewachsen ist aus Stoff und Form, man könnte auch sagen aus „erster Substanz“ und „zweiter Substanz“ – und in die Konkretion aus Stoff und Form ist noch dazu die Privation eingeflossen (wie in Buch XII ausgeführt wird). Im Abschnitt 8 dann noch die zusammenfassende Unterscheidung zwischen dem individuell und getrennt Seienden einerseits, Gestalt und Form andererseits.

Das heißt, dass Aristoteles dem Hauptbegriff der Physik, also „Körper“ auch in der Ontologie einen gewissen Vorrang einräumt – und mit „Körper“ meint er alle Erscheinungen des Kosmos, insonderheit die Lebewesen und ganz speziell die Menschen. Sie alle sind „erste Substanzen“, also „Körper“. Und sie alle haben je eine „zweite Substanz“, also eine „Seele“ – im strikten oder im weiteren Sinn, denn wenn sie keine hätten, wären sie keine Körper, keine qualifizierten Körper (Steine, Blumen, Tiere und so weiter). Die Seele wird wiederum als „Ursache des Seins“, als Formursache, fachsprachlich charakterisiert. Sie verleiht dem Körper seine spezifische Qualität, „verursacht“ die Aufrechterhaltung dieser durch die Zeit hindurch, gewährleistet durch spezifische Seelenkräfte wie Erinnerung den Zusammenhang von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde.

Man ist Körper und hat Seele. „Man“ – das heißt: jeder, jede, jedes. „Körper“ heißt: das jeweilige individuelle Ganze; „Seele“ heißt: der Aspekt des Was, des Soseins, der Art, welcher den Körper mit allen Artgenossen verbindet.


Nächste Sitzung am 30. März 2016

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 16. März 2016


Samstag, 5. März 2016

In der Metaphysik lesen (1023b 26 – 37)


Die Ontologie differenziert das Seiende als Seiendes in Richtung Seinsmodalitäten. 

Sie unterscheidet nicht die Seienden in Richtung Gattungen und Arten – also Realitätsbereiche.

Sie spricht von dem, was für jedwedes Seiendes zutrifft, mehr oder weniger zutrifft, zutreffen könnte. Aristoteles hält das Wesen für die primäre Seinsmodalität – doch ist diese nur eine unter vielen. Die vielen beginnen mit den neun Akzidenzien, zu denen kommen noch viele andere, die im Buch IV zusätzlich genannt werden. Dann gibt es im Buch V die 30 Stichworte, von denen viele die vorher schon genannten Seinsmodalitäten wiederholen - zum Beispiel: das Seiende, das Wesen, die Habe; viele aber auch neu dazukommende – zum Beispiel: das Haben. Dies dürfte sich von der Habe nur geringfügig unterscheiden, wird aber doch als neuer Begriff hinzugefügt. Und das führt zu dem, was ich „Dramatisierung“ nenne. So einen feinen Unterschied einführen und dann noch bei jedem Stichwort weitere Unterscheidungen durchführen, mit Beispielen, die aus allen Realitätsbereichen genommen werden, denn die Realitätsbereiche liegen quer zu den ontologischen Unterscheidungen. Bei den Kategorien war „paschein“ als ein Stichwort genannt worden, im Buch V taucht „pathos“ auf. Zwei verschiedene Wortformen einer Wurzel – wie Haben und Habe. Daraus kann man schließen, dass man auch andere Stichworte differenzieren und vermehren kann. Zum Beipiel: „poiein“ – „poiema“. Das heißt: die Seinsmodaliäten sind zahlenmäßig gar nicht begrenzt. Man kann sie, man soll sie bei jeder Untersuchung selber erweitern; man kann sogar neue dazu erfinden – wenn es der Klärung einer Sache dient.

Die Vermehrung der Seinsmodalitäten führt dazu, dass die primäre Seinsmodalität, die immer nur eine bleibt (immerhin tritt sie in zwei Versionen auf), mehr und mehr zur Minderheit wird: 1 zu 9, 1 zu 15, 1 zu 29 ....

Die Dramatisierung auf der Objektseite betrifft Verhaltensweisen und Verhaltensverhältnisse in jedweder Art oder Gattung. Da muß man gar nicht auf andere Arten oder Gattungen übergehen, um etwas „Neues“ zu erforschen oder zu formulieren. Da kann man auch bei den Arten bleiben, die man schon kennt oder mit denen man es immer zu tun hat. Zum Beispiel bei der menschlichen.

Hier kommt zum Zug, was Thomas Buchheim über die Sophisten als Spezialis†en des normalen Lebens gesagt hat: sie haben das kleine und banale Leben aufgewertet – und Aristoteles hat diese Entscheidung übernommen.[1]

Die Welt der beweglichen Körper (die Gegenstand der „Physik“ ist) umfasst nicht den gesamten Kosmos, sondern den uns näher liegenden, den „unteren“ Teil. Und innerhalb dessen macht die menschliche Welt wiederum einen Teil aus: die menschlichen Angelegenheiten. Deren Untersuchung differenziert sich hauptsächlich nach Seinsmodalitäten: Wesen = Seele; Gewohnheiten und Handlungen im engeren Kreis = Ethik; Handlungen und Entscheidungen im größeren Format = Politik; schöne Werke = Poetik ... Die menschliche Welt hat es nicht nur mit der menschlichen Wesensart zu tun, sondern da greifen auch andere Arten ein, insbesondere solche, die aus den Stoffen hervorgehen; es kommt aber auch zur Erzeugung neuer Arten: Tragödie, Epos ...

Die Ontologie, die sich im Buch V zu den Konkretheiten der Natur und der menschlichen Angelegenheiten herablässt, liefert immerhin eine Art Überblick über diese Bereiche. Keinen sehr klar geordneten. Höchstens einen „vollständigen“ im ungefähren Sinn, indem sie ein paar wichtige Dimensionen nennt, auch ein paar extreme Aspekte wie „vollkommen“, „Anfang“, „Beraubung“, „Grenze“ ....

Zur Beobachtung, dass ausgerechnet in der Metaphysik der Bereich der menschlichen Angelegenheiten mehr Beachtung erfährt als in der aristotelischen Physik, zu deren Gegenstandsbereich der Mensch sehr wohl gehört, macht Sophia Panteliadou auf eine der ganz wenigen Stellen in der Physik aufmerksam, wo sogar etwas Politisches direkt zur Sprache kommt: „In [der Hand] des Großkönigs liegen die Geschicke der Hellenen.“ (Phys. IV, 3, 210a 21f.)

Der Satz findet sich im Kapitel, das dem Ort gewidmet ist, und soll eine der Bedeutungen von „in etwas sein“ illustrieren: nämlich die Bedeutung: im Bereich einer Bewegungsmacht liegen.
Ähnlich wie das oben zitierte Verhältnis zwischen dem Tyrannen und den Städten geht es auch hier um ein Macht- bzw. Abhängigkeitsverhältnis, dem eine räumliche Relation zugrunde liegt. Nur dass dieses Beispiel die Raumausdehnung ins Außenpolitische erweitert und damit die Zuständigkeit der Physik als der Lehre von den beweglichen Körpern für die Politik deutlicher wird, denn die bloße Rede vom persischen Großkönig und den Hellenen macht schon klar, dass da größere Entfernungen, größere Menschenbewegungen (seien es kolonisatorische, seien es kriegerische) im Spiel sind.

Ein Begriff des Politischen, der sich nur auf der Ebene von Konsens und Dissens aufhält und die Außenpolitik gar nicht berührt, ist sicherlich unvollständig. Carl Schmitt hat diese Unvollständigkeit vermieden, denn sein Kriterium des Politischen (Unterscheidung zwischen Freund und Feind) war außenpolitisch gedacht und außerdem hat er in späteren Schriften (Land und Meer, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus publicum Europaeum) die geopolitische Dimension ausführlich dargestellt. Sie vor allem ist es, die dazu zwingt in den Begriff des Politischen die physische Dimension einzubeziehen, die sich wiederum in Topik und Kinetik gliedern lässt; und zwar Topik im wörtlichen Sinn. Es gibt ja auch ein selten genanntes Akzidens „keisthai“: Lage, situs – das hier eigentlich angeführt werden müsste. Innerhalb des Politischen würde es für die banalste Tatsache stehen: nämlich, dass wir, irgendein „wir“, „hier“ wohnen; und dass andere anderswo wohnen. Alles dies ist politisch – und gar nicht notwendig. Die Geschicke der Hellenen liegen schon lang nicht mehr in der Hand des Großkönigs. Oder?

Und ein anderer guter Begriff (zum Begriff des Politischen)[2]: aus dem zitierten Satz aus der Physik: Schicksal. Entscheidung über das Schicksal von Leuten (im kollektiven Format).


Walter Seitter  
 
Sitzung vom 2. März 2016


PS. Wie mir Sophia eben mitteilt, steht im Griechischen für die Geschicke der Hellenen „ta ton hellenon“. Die Geschicke sind also nur „ta“ - vermutlich „ta pragmata“: die Angelegenheiten. Auf diese Weise gelangen die „pragmata“ natürlich auch nicht ins Wörterbuch von Buch V, und die Schicksale auch nicht. Und das heißt: das Wörterbuch kann gar nicht vollständig sein; die Akzidenzien sind nicht abzählbar. Abzählbar ist nur die Kategorie „Substanz“: 1.


[1] Siehe Thomas Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens (Hamburg 1986)
[2] „Begriffe zum Begriff des Politischen“: Walter Seitter: Menschenfassungen: 164.