Die Ontologie
differenziert das Seiende als Seiendes in Richtung Seinsmodalitäten.
Sie
unterscheidet nicht die Seienden in Richtung Gattungen und Arten – also
Realitätsbereiche.
Sie spricht
von dem, was für jedwedes Seiendes zutrifft, mehr oder weniger zutrifft,
zutreffen könnte. Aristoteles hält das Wesen für die primäre Seinsmodalität –
doch ist diese nur eine unter vielen. Die vielen beginnen mit den neun
Akzidenzien, zu denen kommen noch viele andere, die im Buch IV zusätzlich
genannt werden. Dann gibt es im Buch V die 30 Stichworte, von denen viele die
vorher schon genannten Seinsmodalitäten wiederholen - zum Beispiel: das
Seiende, das Wesen, die Habe; viele aber auch neu dazukommende – zum Beispiel:
das Haben. Dies dürfte sich von der Habe nur geringfügig unterscheiden, wird
aber doch als neuer Begriff hinzugefügt. Und das führt zu dem, was ich
„Dramatisierung“ nenne. So einen feinen Unterschied einführen und dann noch bei
jedem Stichwort weitere Unterscheidungen durchführen, mit Beispielen, die aus
allen Realitätsbereichen genommen werden, denn die Realitätsbereiche liegen
quer zu den ontologischen Unterscheidungen. Bei den Kategorien war „paschein“
als ein Stichwort genannt worden, im Buch V taucht „pathos“ auf. Zwei
verschiedene Wortformen einer Wurzel – wie Haben und Habe. Daraus kann man
schließen, dass man auch andere Stichworte differenzieren und vermehren kann.
Zum Beipiel: „poiein“ – „poiema“. Das heißt: die Seinsmodaliäten sind zahlenmäßig
gar nicht begrenzt. Man kann sie, man soll sie bei jeder Untersuchung selber
erweitern; man kann sogar neue dazu erfinden – wenn es der Klärung einer Sache
dient.
Die Vermehrung
der Seinsmodalitäten führt dazu, dass die primäre Seinsmodalität, die immer nur
eine bleibt (immerhin tritt sie in zwei Versionen auf), mehr und mehr zur
Minderheit wird: 1 zu 9, 1 zu 15, 1 zu 29 ....
Die
Dramatisierung auf der Objektseite betrifft Verhaltensweisen und
Verhaltensverhältnisse in jedweder Art oder Gattung. Da muß man gar nicht auf
andere Arten oder Gattungen übergehen, um etwas „Neues“ zu erforschen oder zu
formulieren. Da kann man auch bei den Arten bleiben, die man schon kennt oder
mit denen man es immer zu tun hat. Zum Beispiel bei der menschlichen.
Hier kommt zum
Zug, was Thomas Buchheim über die Sophisten als Spezialis†en des normalen
Lebens gesagt hat: sie haben das kleine und banale Leben aufgewertet – und
Aristoteles hat diese Entscheidung übernommen.[1]
Die Welt der
beweglichen Körper (die Gegenstand der „Physik“ ist) umfasst nicht den gesamten
Kosmos, sondern den uns näher liegenden, den „unteren“ Teil. Und innerhalb
dessen macht die menschliche Welt wiederum einen Teil aus: die menschlichen
Angelegenheiten. Deren Untersuchung differenziert sich hauptsächlich nach
Seinsmodalitäten: Wesen = Seele; Gewohnheiten und Handlungen im engeren Kreis =
Ethik; Handlungen und Entscheidungen im größeren Format = Politik; schöne Werke
= Poetik ... Die menschliche Welt hat es nicht nur mit der menschlichen Wesensart
zu tun, sondern da greifen auch andere Arten ein, insbesondere solche, die aus
den Stoffen hervorgehen; es kommt aber auch zur Erzeugung neuer Arten:
Tragödie, Epos ...
Die Ontologie,
die sich im Buch V zu den Konkretheiten der Natur und der menschlichen
Angelegenheiten herablässt, liefert immerhin eine Art Überblick über diese
Bereiche. Keinen sehr klar geordneten. Höchstens einen „vollständigen“ im
ungefähren Sinn, indem sie ein paar wichtige Dimensionen nennt, auch ein paar
extreme Aspekte wie „vollkommen“, „Anfang“, „Beraubung“, „Grenze“ ....
Zur
Beobachtung, dass ausgerechnet in der Metaphysik der Bereich der
menschlichen Angelegenheiten mehr Beachtung erfährt als in der aristotelischen Physik,
zu deren Gegenstandsbereich der Mensch sehr wohl gehört, macht Sophia
Panteliadou auf eine der ganz wenigen Stellen in der Physik aufmerksam,
wo sogar etwas Politisches direkt zur Sprache kommt: „In [der Hand] des
Großkönigs liegen die Geschicke der Hellenen.“ (Phys. IV, 3, 210a 21f.)
Der Satz findet
sich im Kapitel, das dem Ort gewidmet ist, und soll eine der Bedeutungen von
„in etwas sein“ illustrieren: nämlich die Bedeutung: im Bereich einer
Bewegungsmacht liegen.
Ähnlich wie
das oben zitierte Verhältnis zwischen dem Tyrannen und den Städten geht es auch
hier um ein Macht- bzw. Abhängigkeitsverhältnis, dem eine räumliche Relation
zugrunde liegt. Nur dass dieses Beispiel die Raumausdehnung ins Außenpolitische
erweitert und damit die Zuständigkeit der Physik als der Lehre von den
beweglichen Körpern für die Politik deutlicher wird, denn die bloße Rede vom
persischen Großkönig und den Hellenen macht schon klar, dass da größere
Entfernungen, größere Menschenbewegungen (seien es kolonisatorische, seien es
kriegerische) im Spiel sind.
Ein Begriff
des Politischen, der sich nur auf der Ebene von Konsens und Dissens aufhält und
die Außenpolitik gar nicht berührt, ist sicherlich unvollständig. Carl Schmitt
hat diese Unvollständigkeit vermieden, denn sein Kriterium des Politischen
(Unterscheidung zwischen Freund und Feind) war außenpolitisch gedacht und
außerdem hat er in späteren Schriften (Land und Meer, Der Nomos der
Erde im Völkerrecht des Jus publicum Europaeum) die geopolitische Dimension
ausführlich dargestellt. Sie vor allem ist es, die dazu zwingt in den Begriff
des Politischen die physische Dimension einzubeziehen, die sich wiederum in
Topik und Kinetik gliedern lässt; und zwar Topik im wörtlichen Sinn. Es gibt ja
auch ein selten genanntes Akzidens „keisthai“: Lage, situs – das hier
eigentlich angeführt werden müsste. Innerhalb des Politischen würde es für die
banalste Tatsache stehen: nämlich, dass wir, irgendein „wir“, „hier“ wohnen;
und dass andere anderswo wohnen. Alles dies ist politisch – und gar nicht
notwendig. Die Geschicke der Hellenen liegen schon lang nicht mehr in der Hand
des Großkönigs. Oder?
Und ein
anderer guter Begriff (zum Begriff des Politischen)[2]: aus
dem zitierten Satz aus der Physik: Schicksal. Entscheidung über das
Schicksal von Leuten (im kollektiven Format).
Walter Seitter
Sitzung vom 2. März 2016
PS. Wie mir
Sophia eben mitteilt, steht im Griechischen für die Geschicke der Hellenen „ta
ton hellenon“. Die Geschicke sind also nur „ta“ - vermutlich „ta pragmata“: die
Angelegenheiten. Auf diese Weise gelangen die „pragmata“ natürlich auch nicht
ins Wörterbuch von Buch V, und die Schicksale auch nicht. Und das heißt: das
Wörterbuch kann gar nicht vollständig sein; die Akzidenzien sind nicht
abzählbar. Abzählbar ist nur die Kategorie „Substanz“: 1.
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