Das Wort
„Akzidens“ steht für eine Metakategorie, welche laut Kategorien neun
einzelne Kategorien, nämlich die Akzidenzien, umfasst. Dazu kommen jedoch in
anderen Schriften, zum Beispiel im Buch IV der Metaphysik, sowie im
sogenannten „Wörterbuch“, also Buch V, noch weitere Seinsmodalitäten, von denen
einige den Akzidenzien zugeordnet werden können. Im Kontrast zu den vielen
Akzidenzien verbleibt die Substanz in der Einzahl und behauptet damit ihre
einzigartige Stellung und ihren Primat. Auch einzelnen Akzidenzien wie dem
echein von Abschnitt 23 in Buch V wird das pollachos legetai zugesprochen
(1023a 8) – nicht aber der Substanz.
Und doch
findet sich auch für die Substanz eine Differenzierung: kata dyo tropous
legetai – sie wird in zwei Versionen eingesetzt (1017b 23): wohlgemerkt in
genau zwei Versionen und diese zwei sind nicht einfach zwei nebeneinander
liegende Bedeutungen sondern zwei formal unterschiedliche und streng
zusammengehörige Aspekte. In den Kategorien heißen sie „erste Substanz“
und „zweite Substanz“. Mit der ersten Substanz sind getrennt existierende
Individuen gemeint, mit der zweiten Substanz sind Artbestimmungen gemeint, die
nur in den Individuen vorkommen und ohne die die Individuen nicht auskommen.
Mit den Artbestimmungen werden die Individuen an die Klasse ihrer Artgenossen
angeschlossen, indirekt auch die noch umfangreichere Klasse ihrer
Gattungsgenossen. Am 18. April 2013 habe ich (in indirektem Anschluß an
Philippe Descola) die vielen aristotelischen Bezeichnungen zusammengestellt,
die Aristoteles für die zweite Substanz in Verwendung hat: es sind beinahe zehn
und sie reichen von eidos und morphe bis entelecheia und psyche.
Handelt es sich dabei um strikte Synonyme oder etwa gar um ein -
neuerliches - pollachos legetai der zweiten Substanz auf niedrigerer (?)
Ebene?
Diese Frage
sei offengelassen – aber es darf die Vermutung geäußert werden, dass die
Substanz, dieses Bollwerk der Einheit in der Brandung, beinahe im Chaos der
Akzidenzien und der weiteren Seinsmodalitäten, doch nicht ganz unerschütterlich
dasteht.
Mir geht es in
der Aristoteles-Lektüre darum, seine Fachsprache in Umgangssprache zu
übertragen. Ein Anliegen, das sich nicht mit dem Problem der Übersetzung, der
technisch optimalen Übersetzung, deckt, sondern darüber hinausgeht.
Erfreulicherweise hat Aristoteles selber sich dieses Anliegen zu eigen gemacht
und das Verhältnis von erster Substanz und zweiter Substanz auch mit dem Schema
„Ganzes – Teil“ ausgedrückt. So in dem bereits gelesenen Abschnitt 25, wo als
Ganzes ein eherner Würfel vorgestellt wird und als zwei Teilaspekte der Stoff,
also die Bronze, und die Form beziehungsweise das Formelement Winkel. Die
Gesamtform, also die Würfelform, würde der zweiten Substanz entsprechen. Diese
Form ist zwar nur ein Teilaspekt des Würfels, aber ein so wesentlicher, dass
Aristoteles ihm den Titel „Substanz“ nicht verweigern will (der ja mit dem Wort
„Wesen“ auch sehr gut wiedergegeben werden kann – worüber wir im Dezember 2013 schon
eingehend gesprochen haben).
Daher die
„Spaltung“ der Substanz in die „zwei Substanzen“ (oder in die „zwei Wesen“),
die beide denselben Titel bekommen, obwohl die beiden als das Ganze und der
Teil eigentlich nicht gleichberechtigt zu sein scheinen. Aber dieser Teil ist
eben gleichberechtigt, daher gleichermaßen titelberechtigt. Die Spaltung ist
auch eine Doppelung.
Die
Übertragung in Umgangssprache wird von Aristoteles noch weitergetrieben – und
zwar in dem kleinen und bereits gelesenen Abschnitt 8 des Wörterbuches, welcher
eben der Substanz, dem Wesen, der ousia gewidmet ist. Ich verkürze den
Text: Wesen heißen die Körper und die aus ihnen bestehenden Lebewesen .....
Andererseits heißt Wesen das, was in solchen Dingen als Ursache des Seins
enthalten ist, wie etwa die Seele im Lebewesen (siehe 1017b 10ff.) Hier setzt
Aristoteles für seine Fachbegriffe „erste Substanz“ und „zweite Substanz“ die
Allerweltsbegriffe „Körper“ und „Seele“ ein, damit alle verstehen und nach
Belieben selber konkrete Beispiele bilden können. Das Wort „konkret“ passt
übrigens besonders gut für die „erste Substanz“, die eben zusammengewachsen ist
aus Stoff und Form, man könnte auch sagen aus „erster Substanz“ und „zweiter
Substanz“ – und in die Konkretion aus Stoff und Form ist noch dazu die
Privation eingeflossen (wie in Buch XII ausgeführt wird). Im Abschnitt 8 dann
noch die zusammenfassende Unterscheidung zwischen dem individuell und getrennt
Seienden einerseits, Gestalt und Form andererseits.
Das heißt,
dass Aristoteles dem Hauptbegriff der Physik, also „Körper“ auch in der
Ontologie einen gewissen Vorrang einräumt – und mit „Körper“ meint er alle
Erscheinungen des Kosmos, insonderheit die Lebewesen und ganz speziell die
Menschen. Sie alle sind „erste Substanzen“, also „Körper“. Und sie alle haben
je eine „zweite Substanz“, also eine „Seele“ – im strikten oder im weiteren
Sinn, denn wenn sie keine hätten, wären sie keine Körper, keine qualifizierten
Körper (Steine, Blumen, Tiere und so weiter). Die Seele wird wiederum als
„Ursache des Seins“, als Formursache, fachsprachlich charakterisiert. Sie
verleiht dem Körper seine spezifische Qualität, „verursacht“ die
Aufrechterhaltung dieser durch die Zeit hindurch, gewährleistet durch
spezifische Seelenkräfte wie Erinnerung den Zusammenhang von Minute zu Minute,
von Stunde zu Stunde.
Man ist Körper
und hat Seele. „Man“ – das heißt: jeder, jede, jedes. „Körper“ heißt: das
jeweilige individuelle Ganze; „Seele“ heißt: der Aspekt des Was, des Soseins,
der Art, welcher den Körper mit allen Artgenossen verbindet.
Nächste
Sitzung am 30. März 2016
Walter Seitter
Sitzung vom 16. März 2016
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