τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 10. Dezember 2019

In der Metaphysik lesen (Buch IX, 1051b 34–1052a 14)

Wir kommen noch einmal auf den Anfang von Kapitel 10 zurück, wo Aristoteles drei verschiedene Differenzierungen des „Seienden“ als solchen unterscheidet: diejenige gemäß den Kategorien (zu denen man auch das Werden, Vergehen usw. zählen kann), diejenige nach Möglichkeit und Wirklichkeit und diejenige nach wahr und falsch. Die beiden ersten Differenzierungen ergeben Modalitäten aufseiten des Seins. Die dritte Differenzierung hingegen scheint sich nur auf Aussagen beziehen zu können, die zwar Entitäten sind, aber sehr spezielle: denn wahr und falsch sind mögliche Eigenschaften von Aussagen und zwar von wahrheitsfähigen Aussagen. Wieso kann Aristoteles die drei Achsen auf eine Ebene stellen?

Wolfgang Koch sagt, Aristoteles habe Sein und Sagen prinzipiell gleichgesetzt bzw. das Sein dem Sagen untergeordnet, von ihm abhängig gemacht, denn sobald man von einem Sein spricht, spricht man von ihm. Doch eine schlichte Identifizierung mag es bei Parmenides oder bei Hegel geben. Aristoteles hingegen weist einen solchen „Idealismus“ gerade in unserem Kapitel ausdrücklich zurück – und zwar anhand einer Redensart, mit der wir jemandem eine Hautfarbe zusprechen: „Denn du bist nicht deshalb weiß, weil wir der Wahrheit gemäß meinen, du seist weiß, sondern weil du weiß bist, deshalb sprechen wir mit unserer Behauptung die Wahrheit.“ (1051b 7) In der Kategorienschrift formuliert er abstrakter: "Die wahre Aussage ist niemals Ursache dafür, dass der Sachverhalt ist, der Sachverhalt allerdings scheint Ursache dafür, dass die Aussage wahr ist.“ (14b 19)

Aristoteles behauptet also, dass zwischen Sagen und Sachverhalt (oder Gegenstand (der natürlich auch selber ein Sagen sein kann – wie in diesem Falle, wie überhaupt in der Logik)) eine Unterscheidung vorausgesetzt werden muß, wobei für Wahrheit oder Falschheit der Aussage der Sachverhalt maßgeblich ist; aber nur maßgeblich und nicht zuständig; zuständig sind Erkenntnis- und Aussagefähigkeit und –wille der Sagenden. Allerdings ist dieser Sachverhalt von Aristoteles gesagt worden und er kann von jedem Menschen wiederum und auch ein bisschen anders gesagt werden. Der Sachverhalt selber kann es nicht sagen – er kann sich zeigen, er kann erkannt werden. Wenn jedoch die besprochene Sache ein Mensch ist, kann sie den Sachverhalt auch selber aussprechen. Zum Beispiel könnte das oben angesprochene Du eine Frau sein, die sagt: „Alle sagen, dass ich weiß bin und in dem Sinn, in dem so eine Hautfarbe wie die meinige 'weiß' genannt wird, bin ich eine Weiße – wie man sieht. Unsere übereinstimmenden Aussagen sind nicht deswegen wahr, weil sie von uns allen gemacht werden, sondern weil meine Hautfarbe so aussieht, dass sie weiß genannt wird. Der Gebrauch der Wörter ist allerdings Sache der Konvention.“

Damit man eine wahre Aussage über einen Gegenstand machen kann, muß der Gegenstand mitsamt den ihm zugesprochenen Bestimmungen unabhängig von der Aussage gegeben sein – denn die Aussage soll ihm mit ihrem Sprechen entsprechen. Wir haben auch davon gesprochen, dass die Unabhängigkeit des Gegenstandes weit größere Dimensionen annehmen kann als im aristotelischen Beispiel von „deinem Weißsein“.

Es wird heute gesagt, dass die Erde lange vor den Menschen und vor irgendeinem menschlichen Sagen auch schon mit bestimmten geologischen oder atmosphärischen oder biotischen Eigenschaften existiert hat. Dies kann mit irgendwelchen wissenschaftlichen Methoden heute von Menschen erkannt und gesagt werden – und zwar nur von ihnen. Deswegen, weil solche geohistorischen Tatsachen gesagt werden, sind sie nicht von irgendwelchen Menschen abhängig. Weder von den seinerzeitigen Menschen, die es nicht gegeben hat, noch von den heutigen, die sie jetzt erforschen und aussprechen.

Daß jetzt massive geologische oder atmosphärische oder organismische Erdeigenschaften von den Menschen miterzeugt werden, scheint eine Eigentümlichkeit des gegenwärtigen Zeitalters zu sein, das deswegen auch „Anthropozän“ genannt wird. Die zugrundeliegenden Tatsachen bestehen allerdings unabhängig von menschlichem Sagen. Dieses menschliche Sagen könnte vielleicht aber nun vielleicht dazu beitragen, dass die Menschen ihre Einflußnahme modifizieren.

Auch gibt es Sprechformen, die nicht oder nicht nur Wahrheiten oder Unwahrheiten über unabhängige Tatsachen aussprechen, sondern außer der Tatsache ihres Sprechens auch noch andere Tatsachen etwa sozialer Art, also Taten oder Handlungen, hervorbringen: performative Sprechakte.

Wieso können wahr und falsch auf die Seite von Seinsmodalitäten geraten? Im Buch V gibt es einen Abschnitt über das Falsche und dort bemüht sich Aristoteles, aus dem Aussagenfalschen – denn dieses ist das eigentliche – ein Sachverhaltsfalsches zu konstruieren: die kommensurable Diagonale ist falsch, weil es sie nicht gibt; andere Dinge sind zwar wirklich aber falsch, weil sie als etwas erscheinen, was sie nicht sind – so etwa „täuschend echte“ Malereien wie die von Parrhasios. (1024b 19ff.) Hier erwähnt Aristoteles die wichtige epistemische Leistung, die unbelebte Dinge erbringen können – die liegt nicht im Sagen sondern im Erscheinen.

Menschen könne man „falsch“ nennen, wenn sie dazu neigen, andere zu täuschen. In allen diesen Fällen wird von der Aussagenebene auf die Sachebene hinübermetaphorisiert.   
     
In unserem jetzt gelesenen Text heißt es: „Denn eine Täuschung über das Was ist nicht möglich ...“ (1051b 26).

Aristoteles  meint wohl, dass man sich unter normalen Umständen nicht darüber täuschen kann, ob „etwas“, also eine bestimmte  physische Erscheinung ein Mensch ist oder ein Sessel. Mensch und Sessel sind zwei „Was“, zwei Wesenheiten, zwei Spezies, von denen eine der Gattung der Lebewesen angehört, die andere der Gattung der Geräte (es sind genau diese zwei Gattungen, die Aristotele anderswo einander annähert, weil ein Haus dazu da sei, Lebewesen und Geräte zu bedecken).

Man kann sich aber sehr wohl darüber täuschen, ob dieser Mensch da so gesund ist, wie er ausschaut (oder wie er sagt), oder ob dieser Sessel da so stabil ist, wie er erscheint. Im übrigen sind beide Dinge entstanden und vergänglich, also gehören sie nicht zu den Sachen, die Aristoteles im Hauptteil des Kapitels bespricht: zu den unentstandenen und unvergänglichen Sachen wie „das Seiende selbst“, das Dreieck mit seiner bestimmten Winkelsumme, die gerade Zahl, die keine Primzahl ist. Sind diese drei typische „wahre Sachen“ und insofern Seinsmodalitäten?

Wenn wahr oder falsch ontologische also durchgängige Ausdifferenzierungen des Seienden als solchen sein sollen, müssen sie auf Schritt und Tritt anzutreffen sein: als positive oder negative Erkenntnisbezüge, als aktive oder passive oder privative Erkenntnisdispositionen,  wie sie Aristoteles in 1051b 24ff. mit einer verblüffenden Kumulierung von Tätigkeitswörtern andeutet: Erfassen und Nicht-Erfassen,  Aussagen und Benennen, Wissen und Nicht-Wissen, Denken oder Nicht-Denken, Täuschung und Nicht-Täuschung ... und dann auch noch Forschen.

Diese Erkenntnismöglichkeiten oder –blockierungen beziehen sich gleichermaßen auf stabile Gesetzmäßigkeiten wie auf zufällige Chancen von Entstehung und Untergang, Änderung und Ortswechsel. Folglich haben sie mit der Dramatik menschlichen und vielleicht auch nichtmenschlichen Lebens zu tun. Doch dazu macht Aristoteles hier keinerlei Ausführungen – vielleicht tut er dies in anderen Schriften wie der Politik oder Ethik oder Poetik. Immerhin haben wir im kleinen Buch vom Werden und Vergehen den Satz gelesen, der sich auch auf die Erkennntisfähigkeit eines Menschen beziehen lässt. Die entsprechende Fähigkeit wird da „Musik“ genannt, die Unfähigkeit „Amusie“. Da geht es um die Verbindung des Menschen zu Künsten und Wissenschaften, deren Mutter die Erinnerung ist.

Hier im Abschnitt 10 von Buch IX kombiniert Aristoteles die Begriffspolarität wahr und falsch mit der anderen von zusammengesetzt und unzusammengesetzt – welche Kombinierung sich meinem Verständnis entzieht, und daher gehe ich in meinem Resümée nicht auf sie ein.

Walter Seitter
4. Dezember 2017

Samstag, 30. November 2019

In der Metaphysik lesen (Buch IX, 1051a 34 – 1052a 33)

In dem Text, den wir heute lesen, spricht Aristoteles wie so oft irgendeinem Menschen ganz beiläufig und ohne eine ethnographische oder gar politische Aussage machen zu wollen, als Beispiel für eine akzidenzielle Bestimmung die Farbe „weiß“ zu – neben der Eigenschaft „musisch“ oder „gebildet“ das Standard-Beispiel für Akzidens. Bei „gebildet“ kann man annehmen, dass er diese Eigenschaft für eine erwünschte hält, und im Buch über das Werden und Vergehen hat er sie sogar einmal dramatisiert, indem er von ihrem Abhandenkommen (bei einem Menschen) sprach. Wir haben uns schon öfter gefragt, was er mit „weiß“ eigentlich meint (so am 15. November 2017), denn wir haben keine Stelle gefunden, an der er diese Eigenschaft auch nur im mindesten kommentiert. Also vermuten wir, dass er damit die Hautfarbe meint, die natürlich oder angeblich bestimmten Völkern wie eben den Griechen zukomme.

Wolfgang Koch weist nun darauf hin, dass in der heutigen FAZ ein ausführlicher Artikel erschienen ist, der von einem heftigen Streit berichtet, der innerhalb der Altertumswissenschaft in den USA ausgebrochen ist. Diese Wissenschaft widmet sich ja so gut wie ausschließlich der griechischen und römischen Antike und sie wird nun von einigen Fachvertretern unter den Verdach† gestellt, dem weißen Rassismus Vorschub zu leisten – worauf ich hier nicht eingehe.[1] Immerhin gibt Aristoteles gerade in 1051b 8f. zur weißen Hautfarbe eine rein logische Erklärung ab, mit der er nur seine Wahrheitsauffassung bekräftigen will: „du bist nicht deswegen weiß, weil wir der Wahrheit gemäß meinen, du seist weiß“.

Nach der Lektüre einiger Abschnitte des Buches I von Werden und Vergehen kehren wir zum Lesen in der Metaphysik zurück und kommen zum Abschnitt 10 von Buch IX.  Am Anfang resümiert Aristoteles drei verschiedene ontologische Differenzierungen des Seienden und wiederholt damit ungefähr die Dreiheit, die er im Abschnitt 7 von Buch V angeführt hatte. Dort hatte er die drei Differenzierungen von „seiend“ kurz charaktersiert (Differenzierung zwischen akzidenziell und „an sich“, zwischen wahr und falsch, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit) – das Buch V ist ja als „Begriffslexikon“ zwischen abhandlungsartige Bücher eingeschoben. Der Abschnitt 10 von Buch IX schließt an die ausführlichen Erörterung von Möglichkeit und Wirklichkeit an. Die Nennung der drei ontologischen Achsen steht nun unter einem anderen Vorzeichen, da das Seiende nun von vornherein durch das Nicht-Seiende „verdoppelt“ erscheint, auch an Möglichkeit und Wirklichkeit werden  ihre Gegenteile angehängt, wahr und falsch bilden ohnehin ein Gegensatzpaar. Hier erscheint also das Seiende – gemeint ist das Seiende der ontologischen Betrachtung, also das Seiende als Seiendes – durch seine Negation nicht aufgehoben wohl aber angegriffen und zersetzt. Die Ontologie ist eine zersetzende Betrachtungsweise - auf einer Metaebene (die jedoch ins Objektive gewendet ist). Heideggers „Ex nihilo omne ens qua ens fit.“[2] ist keine physikalische sondern eine ontologische Aussage. 

Erstaunlicherweise sagt Aristoteles, die Differenzierung nach wahr oder falsch treffe das Seiende am eigentlichsten, obwohl doch wahr und falsch Eigenschaften von Aussagen sind – doch bei den Sachen handle es sich um Zusammengesetztsein oder Getrenntsein. Auf welcher Ebene diese Bestimmungen ihren Platz haben, sei jetzt einmal dahingestellt. Das Zusammengesetzt- oder Getrenntsein kann entweder notwendig oder wirklich oder möglich oder unmöglich sein – hier wird also eine andere Ontologie-Achse eingeschoben.

„Weißes Holz“ scheint eine kontingente, „inkommensurable Diagonale“ eine notwendige Zusammensetzung zu sein.

Wahres und Falsches ergeben sich in unterschiedlicher Weise bei zusammengesetzten und unzusammengesetzten Dingen und jetzt führt Aristoteles zusätzlich zu den Aussagen, die entweder wahr oder falsch sind, eine Reihe menschlicher Wahrheitszugänge oder Wahrheitsverhalten (mitsamt negativen Versionen) ein, die da heißen: erfassen, nennen, bejahen, behaupten, nicht-erfassen, nicht-wissen, Täuschung, denken, nicht-denken, nachforschen ...

Über das Was sei eine Täuschung nicht möglich, außer in akzidenzieller Weise, und ebenso über die unzusammengesetzten Wesen, die weder entstehen noch vergehen. (1051b 26ff.) Und dann ein plakativer Satz über das „Seiende selbst“, das weder entsteht noch vergeht (1051b 29). Ist damit das parmenideische Seiende gemeint, das von der Göttin als unentstanden, unvergänglich, unteilbar, unörtlich, unzeitlich, unwahrnehmbar und vollkommen verkündet worden ist? Oder aber das ziemlich mehrdeutige Substrat der ontologischen Differenzierungen – to on legetai pollachos?

Die erste Antwort ist auszuschließen, die zweite klingt gar nicht plausibel.

Dieses hiesige Seiende entsteht und vergeht nicht, weil, wenn es entstünde, es aus etwas entstehen müsste. Immerhin hat Aristoteles in der kleinen Schrift vom Werden und Vergehen ein Entstehen aus Nichts sozusagen erfunden.

Walter Seitter
27. November 2019





[1]  Jonas Grethlein: Die Modernisierung der Antike, in: FAZ 27. November 2019.

[2] Martin Heidegger: Wegmarken (GA 9): 120.

Freitag, 22. November 2019

Über Werden und Vergehen (Mikroanalysen)

Den Unterschied zwischen Wahrnehmbarem und Unwahrnehmbarem hat Aristoteles deswegen eingeführt, weil diese Eigenschaften von den „meisten“ mit Seiend bzw. Nicht-Seiend gleichgesetzt werden. Der gewöhnliche Hausverstand hält eben nur etwas Wahrnehmbares für wirklich. (318b 17ff., 319b 13ff.)

Das Beispiel, das er für Unwahrnehmbares einführt, ist nun nicht etwas Unkörperliches sondern die Luft, von der er zunächst sagt, sie sei für die Wahrnehmung „weniger“ als die Erde, welche viel besser wahrnehmbar sei. Allerdings sei Luft mehr ein „Das-da und Spezies“, also eine höhere Substanz als die Erde – hierbei handelt es sich um eine kosmologische Einschätzung der verschiedenen Elemente, welche die Materialien für die uns bekannten Körper liefern.

Jedenfalls ist die Luft ziemlich unwahrnehmbar. (319b 20)

Nach Aristoteles sind Werden und Vergehen eng verschränkt. Aber wie ist diese enge Verschränkung bestimmt? Beruht sie darauf, dass jedem Werden ein gegenläufiges Vergehen folgt und dann wiederum ein Werden in der ersten Richtung? So ein sukzessives Hin und Her scheint mir im Text nicht angezeigt und es ist auch nicht einsichtig, welche Phänomene gewöhnlicher also regelmäßiger Art so einer Auffassung entsprechen würden. Die Verschränkung zwischen Werden und Vergehen ist noch enger und zwar ist jedes Werden, also ein Werden von A, selber (und natürlich simultan!) ein Vergehen von Non-A. Also gehen dieses Werden und dieses Vergehen in dieselbe Richtung, sie sind nur zwei Seiten eines einzigen Vorgangs, sie bewirken den Anfang eines Zustandes und das Ende der gegenteiligen Situation.            

Sie führen zusammen einen „neuen“ Zustand herbei, über dessen Dauer damit noch nicht entschieden ist. Metaphorisch spricht Aristoteles von einem „Weg“ bzw. von zwei Wegen (318b 9f.) – und das hat er auch im Buch IV der Metaphysik getan, wo die Ontologie hauptsächlich als Kategorienlehre entfaltet wird.

Geradezu dramatisch historisierend formuliert Aristoteles so einen doppelseitigen Vorgang. „Der gebildete Mensch ist vergangen, der ungebildete Mensch ist entstanden.“ (319b 25). Man könnte den ersten Satzteil auch so wiedergeben: „Der gebildete Mensch ist kaputt gegangen, untergegangen ...“ Daß uns diese Aussage aufgrund ihrer „Bedeutung“ ziemlich negativ vorkommt, das mag schon sein. In der doppelseitigen Formulierung des Aristoteles ist nun gerade nicht nur von Untergang die Rede sondern auch von einem Werden, einem Aufgang. Allerdings Aufgang des ungebildeten Menschen.

Besagter Nensch hat dieses Vergehen-Werden überlebt – er hat nur eine Eigenschaft verloren und eine andere, nämlich die entgegengesetzte angenommen. Die beiden Eigenschaften werden mit relativ starken Substantiven beinahe als selbständige Entitäten genannt: mousike und amousia – und daher muß Aristoteles die Vorstellung, die beiden seien selber vergangen bzw. entstanden, extra abwehren und den Vorgang als bloße Veränderung am Menschen klarstellen. Aber als eine Veränderung, die den Menschen tiefgreifend affiziert: er ist als gebildeter untergegangen und als ungebildeter entstanden.

Man wird die Richtung dieser Veränderung als unerfreulich empfinden und wir haben sie als senile Demenz gedeutet. Umso mehr muß man dieser drastischen Textstelle zugutehalten, dass sie Vorstellungen von einem pauschalen aristotelischen Optimismus zuwiderläuft. Sie hat etwas Tragisches – Ödipus auf Kolonos ist nicht weit.

Ich glaube, dieses Beispiel zeigt, dass Aristoteles jedenfalls hier die Ontologie als Mikroanalyse ansetzt und große kosmologische Zusammenhänge nicht unbedingt aufruft. Solche Zusammenhänge werden allerdings auch in diesem Buch gelegentlich und im Buch II dann stärker thematisiert. Die Ontologie als solche setzt zunächst an kleinen und feinen Phänomenen und Unterschieden an.

Die exemplarische Kurzerzählung dieses Beispiels erinnert an die Struktur der Tragödie, wie sie Aristoteles in seiner Poetik postuliert hat: deren Handlung setzt sich zusammen aus kleinen Vorgängen, unter denen die Wiedererkennung und die Peripetie die bekanntesten sind. Im jetzt gelesenen Text fasst Aristoteles das Werden-Vergehen öfter auch als metabole, also „Umschlag“ zusammen.

Die andere Fragestellung dreht sich darum, welche Arten von Werden-Vergehen es gibt bzw. wie sich Werden-Vergehen von anderen Umschwüngen, Veränderungen, Wandlungen unterscheidet.

Beim Werden des ungebildeten Menschen und Vergehen des gebildeten Menschen wird Bildung durch Unbildung ersetzt – aber nicht Bildung und Unbildung global oder gar an sich – sondern als Eigenschaften eines Menschen, der als solcher, als Mensch, weiterbesteht. Daher ist dieses Werden-Vergehen insgesamt als partielles oder akzidenzielles zu bezeichnen. Damit ist ein Begriff aus der Kategorienlehre eingeführt und Aristoteles differenziert hier weiter, indem er drei Akzidenzien nennt, deren Wandel drei verschiedene Arten von akzidenziellen Werden-Vergehen definiert: Wachsen-Schwinden, Fortbewegung, Veränderung. (319b 31ff.)

Wo aber das Zugrundeliegende selber, die Substanz, entsteht oder untergeht, liegt Werden und Vergehen im eigentlichen Sinn, im substanziellen Sinn, vor. Für so ein Entstehen macht Aristoteles ganz kursorisch das Aufgehen der Pflanze namhaft: phyomenon (319a 11).

Was aber vergeht, was geht unter beim Aufgehen einer Salatpflanze und in der Folge dann bei ihrem Wachsen? Die Pflanze holt aus ihrer Umgebung, der unterirdischen und der oberirdischen, die Stoffe, die sie in sich selber umwandelt – und damit zerstört sie, jedenfalls mindert sie diese Stoffe in ihrem bisherigen Bestand.

So bindet Aristoteles die Problematisierung von Werden, Vergehen et ceteris an die Lehre von den Kategorien zurück, die in der gleichnamigen und vermutlich sehr frühen Schrift entfaltet worden war und die als frühestes Stück der aristotelischen Ontologie gelten kann. Es sind – neben oder zwischen den eigentlich objektbezogenen Abhandlungen – Stücke, die sich zu einer ganz und gar von ihm erfundenen Problematik zusammenfügen.

In der sogenannten Metaphysik ist die Kategorienlehre explizit auf das „Seiende“ bezogen worden und außerdem ist in diesem Buch die Polarität von Möglichkeit und Wirklichkein dargestellt worden. Lauter Stücke, die erst 2000 Jahre nach Aristoteles den Titel „Ontologie“ bekommen haben – die allerdings noch mehr Stücke umfaßt.

Walter Seitter 
20. November 2019

Freitag, 15. November 2019

Über Werden und Vergehen (als gegenläufige Vorgänge)

Werden und Vergehen sind die beiden gegenläufigen Vorgänge, die nach Aristoteles eng aneinander gekoppelt sind. Immer wenn etwas wird, vergeht ein anderes. Immer wenn etwas vergeht, wird etwas anderes. Es scheint eine Art Nullsummenspiel zu sein. Ja Aristoteles setzt das Werden des einen mit dem Vergehen des anderen gleich. (318a 24, 30) Dennoch stellt er die Frage, wieso das Werden bei dem vielen Vergehen immer weiter gehen kann, immer wieder anknüpfen kann, wieso das Ganze nicht schon längst aufgebraucht und fort ist. (318a 16)

Mir scheint, dass er damit die Frage stellt, die sich die moderne Kosmologie zu wenig stellt, da sie ja seit dem späten 19. Jahrhundert von dem Gedanken der Entropie so fasziniert ist, der zwar nicht die Vernichtung wohl aber die totale Entspannung und Erschöpfung der Energie nahelegt.

Aristoteles operiert hier mit anderen Begriffen und die Ausgewogenheit von Werden und Vergehen sorgt dafür, dass immer wieder ein Woraus für neues Werden da ist.

Sowohl beim Werden wie beim Vergehen unterscheidet Aristoteles schlechthinniges und partielles.

Wenn jemand durch Lernen ein Wissender wird, so liegt ein partielles Werden vor – das auch Veränderung genannt werden kann: ein Weg zu einer neuen Beschaffenheit. (318a 35) Würde ein Wissender sein Wissen verlieren und unwissend werden, so handelte es sich um ein partielles Vergehen.

Schlechthinniges Werden führt zu einem schlechthin Seienden, schlechthinniges Vergehen führt zu einem schlechthin Nicht-Seienden.(318b 10) Dafür bieten sich die deutlicheren Ausdrücke „Entstehung“ und „Zerstörung“ an. Und der Unterschied zwischen partiellem und schlechthinnigen Werden entspricht demjenigen zwischen Akzidens und Substanz.

Aristoteles führt dann Beispiele an, in denen sich eines der vier Elemente in ein anderes wandelt. Solche Wandlungen können als partielle oder als schlechhinnige Werden betrachtet werden – je nachdem, wie diese verschiedenen Elemente eingeschätzt werden: da spielen unterschiedliche kosmologische Positionen eine Rolle. (318b 2ff.)

Neben solchen eher spekulativen Unterscheidungen erwähnt Aristoteles dann eine andere Unterscheidung, die den meisten Menschen vertraut ist: diejenige zwischen Wahrnehmbarem und Nicht-Wahrnehmbarem. Wenn etwas Unwahrnehmbares in Wahrnehmbares übergeht, dann ist das für die meisten ein Entstehen, der gegenläufige Übergang ist für sie ein Verschwinden oder Vergehen. Denn sie setzen das Unwahrnehmbare mit dem Nicht-Seienden, das Wahrnehmbare mit dem Seienden gleich. (318b 18ff.) Diese sensualistische Auffassung wird von Aristoteles mit starken Vorbehalten akzeptiert. Er setzt ihr jedoch eine der oben angedeuteten Thesen entgegen, wonach etwa der unsichtbaren Luft eine höhere Wirklichkeit zukomme als der berührbaren und bekanntlich auch sichtbaren Erde. (318b 25ff.)

Walter Seitter
13. November 2019

Montag, 11. November 2019

Über Werden und Vergehen (Ontologie-Achsen II)

Ich schreibe hier noch einmal die vier bisher aufgefundenen
Ontologie-Polaritäten zusammen, aus denen  die ontologische Betrachtungsweise bei Aristoteles zusammengesetzt erscheint.

Kategoriale Polarität: Substanz -------- Akzidenzien

Modale Polarität:      Möglichkeit ----- Wirklichkeit

Epistemische Polarität:  wahr -------- falsch

Radikale Polarität: werden --------- vergehen

Diese Betrachtungsweise hat sich bei Aristoteles selber mit einer gewissen Langsamkeit zusammengefügt – und mit einer starken Nachträglichkeit gegenüber den regionalen Untersuchungen, die er im Laufe seines Schaffens vorgenommen hat.

In welcher Reihenfolge hat er die verschiedenen Realitätsbereiche zu seinen Themen gemacht? Die früheste Regionaluntersuchung, in der die Ontologie massiv und gleichzeitig implizit auftaucht, ist wohl die Kategorienschrift, in der zehn Kategorien und fünf Postprädikamente ziemlich detailliert vorgestellt werden. Diese Schrift wird der Logik zugerechnet, die man heute auch als Sprachanalytik bezeichnen könnte – oder als „Metawissenschaft“, insofern da die verschiedenen Weisen von Sprechen, Denken, Wissen thematisiert werden. Wobei die jeweiligen Sachbezüge nicht unterschlagen werden. Sosehr, dass etwa die Kategorie „Substanz“ mit dem Anwendungsfall „Mensch“ durch die geradezu politische Aussage spezifiziert wird, dass sie keine Steigerung zulässt: „Denn nicht ist einer mehr Mensch als ein anderer.“ (3b 38) Die Unzulässigkeit von Steigerung oder Minderung unterscheidet die Substanz von den Akzidenzien.

Die formelle Gründung der Ontologie setzte dort ein, wo die Kategorien als Ausdifferenzierungen des griechischen Grundwortes „seiend“ festgelegt worden sind. Ein Wort, das ungefähr so etwas wie „real“ oder „wirklich“ heißt, aber als aktives Präsenspartizip von „sein“ eine sehr spezielle Grammatik aufweist.
„to on legetai ... pollachos“ lautet die Formel, die in verschiedenen Schriften auftaucht; in der sogenannten Metaphysik, im Buch IV, wird sie als ein Grundsatz der später danach benannten Ontologie aufgestellt, wobei die Ontologie auch in dieser Textsammlung sich erst allmählich als eigene Betrachtungsweise herauskristallisiert – und zunächst keine eigene Disziplinbezeichnung bekommt. „Gesuchte Wissenschaft“ ist ja nun wahrlich keine ordentliche Disziplinbezeichnung und „Theologische Philosophie“ (VI, 1026a 20) ist gar keine zutreffende Bezeichnung dafür. In den Büchern VII und VIII wird dann die Kategorie „Wesen“ ausführlich abgehandelt, im Buch IX Möglichkeit und Wirklichkeit und in dessen 10. Abschnitt wird dann die Polarität wahr und falsch immerhin angeschnitten.

In De generatione et corruptione werden Werden und Vergehen als ontologische Modalitäten eingeführt, die allerdings schon früher angedeutet worden waren. Ich würde sagen, es sind aggressive Modalitäten, denn sie konfrontieren als Anfang bzw. als Ende das Seiende bzw. Sein mit dem Nicht-Seienden oder Nicht-Sein.

Insofern die moderne Kosmologie – im Unterschied zu Aristoteles – auch die Himmelskörper zu den vergänglichen Wesen rechnet, sie als entstandene und „sterbliche“ diagnostiziert und prognostiziert, weitet sie die Gültigkeit von De generatione et corruptione aus und verstärkt gewissermaßen den ontologischen Charakter dieser Schrift. Denn die ontologischen Bestimmungen sind durchgängige Seinsmodalitäten. Insofern hat die moderne Wissenschaft paradoxerweise dazu beigetragen, die aristotelische Ontologie „weiterzuentwickeln“. Schlechterdings alle sind sterblich ... und Unsterblichkeit wäre wenn überhaupt die Ausnahme.

Das würde heißen, die sehr langsame „Genese“(!) dieser Ontologie setzt sich bis heute fort. Die Unterscheidung von drei oder vier Ontologie-Achsen hat sich ja erst vor wenigen Wochen in dieser Klarheit und zwar hier herauskristallisiert.

Im Kapitel 3 dieses Buches wirft Aristoteles die Frage auf, ob es auch schlechthin Werdendes und Vergehendes gibt – oder nur Werden von einer Bestimmtheit zu einer anderen. Mit dieser Unterscheidung trifft man wieder auf den Unterschied zwischen Wesen und Akzidens.

Beim Wesen-Werden stellt sich die Frage, von wo es seinen Ausgang nimmt. Und Aristoteles gibt die Antwort, ein Werden gehe immer von einem „nicht-seiend“ aus. Das Weiß-Werden gehe von einem Nicht-Weißen aus, das Werden schlechthin von einem schlechthin Nicht-Seienden. Aber was bedeutet „schlechthin“? Entweder jede Kategorie des Seienden oder das Allgemeine und das Allumfassende.

Eine „erstaunliche Aporie“ sieht Aristoteles darin, wie schlechthinniges Werden ist – entweder ist es aus einem der Möglichkeit nach Seienden oder irgendwie anders. Mit dem „wie“ akzentuiert Aristoteles das Adverbiale und wiederholt dieses im „irgendwie“ und im „anderswie“.

Davon zu unterscheiden ist die Frage des Woraus des Werdens – und dieses Woraus ist ein partielles oder ein totales Nicht-Seiendes.

Das Woraus kann als eine Art Ursache begriffen werden. Eine andere Art Ursache ist das Woher der Bewegung. Da die Bewegung von außen kommt, ist sie von dem Wie des Werdens wohl zu unterscheiden.

All das steht unter der Drohung des Nichts, welches dem schlechthinnigen Werden zugrunde zu liegen scheint.


Walter Seitter
6. November 2019

Dienstag, 29. Oktober 2019

Über Werden und Vergehen (Ontologie-Achsen)

Die Ontologie ist eine Betrachtungsweise, die das „Seiende“ unter striktem Immanenzgesichtspunkt ins Auge fasst, nämlich das Seiende als seiendes, und daraus zu Differenzierungen übergeht und zwar zu verschiedenen Differenzierungen.

Den Immanentismus betont Aristoteles mit der Wiederholung des Ausdrucks „seiend“, den ich, weil ich kein antiker Grieche bin und auch kein geborener Philosoph, als fremdartig, ja befremdend empfinde – und so empfinde ich die Ontologie als eine artifiziellere Tätigkeit denn die „Metaphysik“ oder das Reden von „Gott und der Welt“ oder die Suche nach Weisheit, weil diese Ausdrücke sich leichter an unsere kulturellen Gewohnheiten anschließen (und damit will ich nicht sagen, dass sie nicht auch Annäherungen ans Philosophieren zum Ausdruck bringen).

Die Ontologie ist eine ganz eigene, ja eigenwillige Erfindung des Aristoteles, die von seinen anderen Abhandlungen zu unterscheiden ist – auch wenn sich einige ihrer Elemente durchaus auch in ihnen auffinden lassen (etwa in seiner Physik oder in seiner Poetik oder in seinen Schriften zur Logik).

Möglich war diese Erfindung, weil das Partizip Präsens „seiend“ schon vor Aristoteles in der griechischen Sprache und Literatur ziemlich geläufig war – Ähnliches ist von der lateinischen oder deutschen oder französischen Sprache nicht festzustellen (das sind die mir bekannten Sprachen). Und einige Philosophen haben das „seiend“ schon vor Aristoteles in ihre Terminologie aufgenommen – haben aber keine vergleichbare pure Ontologie konstruiert.

Die Kategorien und das Buch IV der Metaphysik bilden die ersten kompakten Abhandlungen zur Ontologie – mit dem Unterschied, dass die Kategorienschrift von Aristoteles selber redigiert worden sein könnte, während die Metaphysik aus unterschiedlichen Textblöcken zusammengesetzt, locker gefügt ist, wodurch die Ontologie dann einen langsam vorgehenden, einen kumulativen, auch repetitiven und nicht ganz homogenen Charakter bekommen hat.

Der bereits öfter zitierte Anfang des Abschnittes 10 von Buch IX resümiert das Projekt der Ontologie und gibt ihm auch zwei neue Wendungen, indem dem Seienden das Nicht-Seiende glatt hinzugefügt (oder entgegengesetzt) wird, und indem zum Teilbereich, der durch die Kategorien definiert wird, nicht nur der aus Möglichkeit und Wirklichkeit bestehende hinzugefügt wird, sondern erstmals ein dritter angehängt wird, der mit „wahr“ und „falsch“ definiert wird.

Die Ontologie kapriziert sich zwar auf das „seiend“, sie fokussiert immerzu dieses Eine und Selbe – aber sie nimmt es immer wieder und auf unterschiedliche Weise auseinander. Das griechische Wort dafür ist dihairesis.

Die drei erwähnten Teilbereiche haben die Form von Ontologie-Achsen, es sind Differenzierungsachsen oder -polaritäten.


Kategoriale Polarität: Substanz -------- Akzidenzien

Modale Polarität: Möglichkeit ----- Wirklichkeit

Epistemische Polarität: wahr -------- falsch

Dem Duktus der aristotelischen Ontologie würde es wohl entsprechen, wenn sie noch eine weitere Differenzierungspolarität aufweisen würde – oder noch einige?

Da Aristoteles dem Werden und Vergehen ein eigenes kleines Buch gewidmet hat, lässt sich die Frage stellen, ob die damit angedeutete Polarität auch eine Ontologie-Achse bilden könnte.

Was spricht dafür? Die eben erwähnte Grundpolarität seiend – nichtseiend spricht dafür. Denn wenn es zwischen diesen beiden Polen Übergänge geben sollte, dann würden die wohl lauten: werden und vergehen; oder entstehen und zugrundegehen. Auch die Achse zwischen möglich und wirklich würde das nahelegen.

Die genannten Achsen stehen ja nicht unverbunden neben- oder übereinander. Sie durchqueren einander und treffen einander an jedem konkreten Ding oder Vorgang. Für die Differenzierungsresultate aller Achsen habe ich den Allgemeinbegriff „Seinsmodaliät“ vorgeschlagen.

Was für Seinsmodalitäten sind Werden und Vergehen? Zur Beantwortung dieser Frage braucht man keinen Aristoteles oder dergleichen – man braucht nur sich selber mit Hausverstand und Sprachkompetenz. Entstehen ist anfangen zu sein, Zerstörtwerden ist aufhören zu sein. Sein anfangen, sein aufhören.

Entstehen, bestehen, vergehen. Das ist die übliche Reihenfolge, in der drei Seinsmodalitäten in der Welt tatsächlich vorkommen. Die hier als zweite genannte wird von Aristoteles kaum in den Vordergrund gerückt. Er versteckt sie in seinem Grundwort „seiend“. Dieses Verstecken hat Heidegger ihm zum Vorwurf gemacht.

Von da aus gesehen könnte man sogar meinen, dass gerade mit Werden und Vergehen das Seiende ontologisch angekratzt, angegriffen, aufgebrochen, einer Spektralanalyse ausgesetzt wird.  

Werden und Vergehen sind Seinsmodalitäten. Aber irgendwelche Seiende im Sinne von Stabilitätszonen oder -zentren, im Sinne von Dingen, kommen da auch vor.

In dem genannten Buch stellt Aristoteles zwar die Vorgänge wie Entstehung, Veränderung, Zerstörung in den Vordergrund. Aber schon auf der ersten Seite fängt er damit an, die Dinge zu nennen, die dazugehören. Und Thomas Buchheim nennt in seinem Klappentext einige davon geradezu pathetisch „unsere Liebsten“ – und meint damit wohl Frau, Kind und dergleichen. Entfernt er sich damit allzu weit von Aristoteles? Er entfernt sich nicht himmelweit. Immerhin sagt dieser einmal innerhalb der kategorialen Ontologie, im Buch VII der Metaphysik, dass so geschätzte Eigenschaften wie „weiß“ und „gebildet“ nicht das Wesen ausmachen – wohl aber das Du. (1029b 14)
Ergibt sich daraus, dass Werden und Vergehen eine zusätzliche Achse der Ontologie bilden? Die Antwort würde dann negativ ausfallen, wenn es die Ontologie nur mit ewigen und unveränderlichen Entitäten zu tun hätte. Das aber ist nicht der Fall.

Sie sollte allerdings die durchgängigen Bestimmungen aller Seienden erfassen. Wenn es für Aristoteles auch ewige Entitäten gibt, würde das genannte Buch an diesen sozusagen vorbeischreiben. Es würde keine vollständige Ontologie liefern. Also doch nur eine Art Physik? Oder eine Ontologie für solche wie wir Heutigen, die jedenfalls am Himmel keine Ewigen zu erblicken meinen?

Wenn wir das Buch Werden und Vergehen lesen sollten, könnten wir vielleicht sehen, ob es zur aristotelischen Ontologie gehört.


Walter Seitter
23. Oktober 2019

Freitag, 18. Oktober 2019

Über Werden und Vergehen (sozein ta phainomena)

Da ich letztes Mal davon sprach, dass Heidegger für dynamis auch „Kraft“ sagt, nun die Bemerkung, dass dieser Begriff in der heutigen  Physik durchaus eine offizielle Rolle spielt. Dem aristotelischen Gegenbegriff energeia entspricht in der Physik die „Arbeit“. Für die aristotelische Philosophie war nun einmal die „Physik“ die wichtigste Basiswissenschaft – in dieser Tatsache mag man ihre Beschränktheit sehen, sie ist aber nicht aus der Welt zu schaffen.

Und eine andere neulich bemerkte Tatsache ist, dass Aristoteles im Kapitel 10 von Buch IX das Seiende, welches vielfältig ausgesagt wird, plötzlich durch das Nicht-Seiende verdoppelt (1051a 34). Und damit treibt er eine Tendenz der Ontologie auf die Spitze, die es verdient, extra ins Auge gefasst zu werden. Die aristotelische  Ontologie kapriziert sich nicht darauf, den maximalen Seinsmodalitäten Monopole zuzusprechen und zu sagen, nur diese, also das Wesen, oder die Wirklichkeit, oder das Wahre gehören zum Seienden. Nein, auch die jeweiligen Gegenpole, die „weniger“ sind, die schwächer sind, eher minimal, wie eben die Akzidenzien, das Mögliche, das Falsche, gehören zum Seienden. Das Grundwort „seiend“ ist so ein flexibler, ein fast vieldeutiger „Begriff“, dass er sogar noch das Minimum, das Fast-Nichts, und sogar das Nicht-Seiende einschließt, sofern es durch diese seine Benennung als minimaler Grenzfall von „seiend“ gelten kann.

Die aristotelische Ontologie ist erst um die vorletzte Jahrhundertwende dank Franz Brentano, Edmund Husserl, Nicolai Hartmann, Martin Heidegger, Hedwig Conrad-Martius  philosophisch wieder ernstgenommen worden – und dabei hat der Begriff „Phänomen“ eine vermittelnde Rolle gespielt. Mit diesem Begriff vermeidet man etwas massivere Ausdrücke wie „Entität“, „Realität“, „Wirklichkeit“ oder gar „Seiendheit“ und suggeriert etwas Leichteres, auch Minderes.

Dieses moderne Wort „Phänomen“ stammt natürlich von dem antiken Wort phainomenon, welches  für Erscheinendes, Wahrgenommenes steht. Für manche antiken Philosophen fiel das bereits in den Bereich des bloßen Scheins und des  Nicht-Seienden. Aristoteles setzt sich mit seiner Ontologie von diesem Dualismus ab und formuliert mehrere Differenzebenen, Ontologie-Achsen die jeweils zwischen einem Maximum und einem Minus oder Minimum changieren: unterschiedliche Seinsmodalitäten, die gerade noch unter „seiend“ fallen.

Ich selber habe in meinem Buch Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen eine spezielle Differenzebene aufgestellt, die von „Erscheinung“ im Sinne von Glanz oder Herrlichkeit, über „erscheinen“ im Sinne von „sich zeigen“, dann zum Anschein, zum bloßen Schein oder zum Unscheinbaren und zur Erscheinungsverweigerung führt: auf dieser Ebene fallen Phänomenologie und Ontologie ineinander.

Die in der Antike umlaufende Parole „sozein ta phainomena – die Erscheinungen retten“ könnte man dafür namhaft machen.

Aristoteles hat so eine Ontologie-Ebene nicht explizit konstruiert. Wohl aber hat er im Buch IV schon eine weitere, sagen wir eine vierte Ontologie-Ebene angedeutet. Nämlich diejenige, die mit den beiden Begriffen genesis und phthora definiert wird und der er ein ganzes Buch gewidmet hat, das vor kurzem eine gute Neuedition erfahren hat.

Aristoteles: Über Werden und Vergehen. De generatione et corruptione (Hamburg 2011)

Thomas Buchheim, der Herausgeber und Übersetzer, weist in seiner Einleitung darauf hin, dass in dieser Schrift die beiden im Titel genannten Vorgänge im Vordergrund stehen und nicht die Wesen (die in der ersten, in der kategorialen Ontologie-Achse dominieren).

Indem wir da zu lesen beginnen (314a 1-24), sehen wir gleich, dass die Wesen nun aber keineswegs abgeschafft sind oder sonst wie wegfallen, denn das, was wird und vergeht, oder entsteht und zerstört wird, wird schon im ersten Satz umschrieben – eben mit den Verbalpartizipien. Das sind die „werdenden und vergehenden“, scil. Dinge. Aber sie bekommen jetzt noch keine direkte substantivische Nennung.

Werden und Vergehen bilden eine radikale Ontologie-Achse – denn sie bezeichnen den Umschlag vom Nicht-Sein zum Sein und den Umschlag vom Sein zum Nicht-Sein.

Es werden aber gleich zwei weitere Vorgänge genannt: Wachstum und Veränderung. Zugleich wird die Frage aufgeworfen, ob es sich bei Werden und Veränderung um gleiche oder ungleiche Vorgänge handelt. Und dann bekommen die Dinge doch auch eine Wesensbestimmung: Natur. Und was den Vorgang des Wachsens betrifft, dürfen wir annehmen, dass er hauptsächlich den Pflanzen und Tieren zukommt.

Zur näheren Diskussion greift Aristoteles auf einige ältere Naturphilosophen zurück und ich erwähne hier nur den Unterschied zwischen denen, die wahrnehmbare Körper oder Eigenschaften beschreiben, wie Empedokles oder Anaxagoras, und denen die von winzig kleinen, unwahrnehmbaren Atomen sprechen, wie Demokrit oder Leukipp. Aristoteles hat deren Ansichten gar nicht geteilt – weil er sie nicht für Ansichten im Sinn von Anschauungen gehalten hat. Doch sofern sie irgendwie rational formuliert waren, ist seine Ontologie für sie offen: nicht-seiende Entitäten oder falsche Aussagen. Falsche Aussagen haben nicht den gleichen Status wie wahre oder wahrscheinliche oder gar nicht wahrheitsfähige – sie werden verneint und als solche zur Kenntnis genommen. Sie werden nicht „vernichtet“ mit dem Ergebnis, als wären sie nie gewesen. Denn das geht gar nicht.


Walter Seitter
16. Oktober 2019

Freitag, 11. Oktober 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH IX (Θ), 1051a 34 – 1051b 6)

Ich berichte von der Lektüre des Buches, in dem die Vorlesung dokumentiert ist, die Heidegger im Sommersemester 1931 über die ersten drei Kapitel von Buch IX der Metaphysik gehalten  hat – die wir vor einiger Zeit  gelesen haben.  

Martin Heidegger: Metaphysik Θ 1- 3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft (Frankfurt 2006).

Darin handelt es sich um die Polarität der Begriffe dynamis und energeia, zu deren Übersetzung Heidegger nur dies beiträgt, dass er für dynamis auch die alltagssprachliche Grundbedeutung „Kraft“ namhaft macht, womit jedwedes Können, so auch die körperliche oder seelische Energie gemeint sein kann (das deutsche Fremdwort „Energie“ stammt zwar vom griechischen energeia ab, doch semantisch steht es der dynamis nahe). In diesem Zusammenhang wirft Heidegger die Frage auf, ob sich der aristotelische Ursachen-Begriff, das Ursachsein, etwa die Wirkursache,  in die Ontologie einfügt. Dies wird von Aristoteles immerhin angedeutet, da die Wirkursache bei ihm „das Bewegende“ heißt und die Bewegung (nicht nur Ortsbewegung!) den Kategorien angegliedert wird. Zu den Kategorien wird das Wirken oder Machen gezählt, womit wie ich meine die Ontologie aus der puren Statik herausgehoben wird. Im Buch VII ist das Vermögen  zu einer Ursache von Entstehung erklärt worden  (1032a 27). Eine Ursache ist etwas, was die Kraft hat, etwas hervorzubringen oder zu verändern oder zu erhalten.

In seinem kürzesten Resümee sagt Heidegger, dass das volle Wesen nur erfasst werden kann, wenn man zum „Was“ auch das „Wie“ eines Dinges oder Vorganges berücksichtigt – und dazu müsse man die Modalitäten der Möglichkeit und der Wirklichkeit beachten. Dazu sage ich, dass bereits die neun Akzidenzien, die zum Wesen dazukommen, verschiedene Wie-Bestimmungen  einführen. Das heißt, die Ontologie beschränkt sich nicht darauf, die Dominanz des Wesens zu behaupten – im Gegenteil, sie stellt den Monopolanspruch des Wesens in Frage und entfaltet ein breites Spektrum von anderen Seinsmodalitäten. Mit diesem meinem Ausdruck verwende ich das Wort „Sein“ aristotelischer als Heidegger dies in seiner Philosophie tut.

Der erste Satz des bereits gelesenen Kapitels 10 von Buch IX führt mit großer Deutlichkeit vor, dass die Aussagevielfältigkeit des Seienden sich aus mehreren Stücken zusammensetzt: aus den Kategorien (Wesen mitsamt Akzidenzien), aus Möglichkeit und Wirklichkeit sowie aus Wahr und Falsch. Und er verdoppelt beinahe die damit zustande kommende Zahl, indem er von Anfang an bereits die Negation des Seienden selbst mit einbezieht, die er auch für Möglichkeit und Wirklichkeit namhaft macht.

Auch die beiden Terme „wahr“ und „falsch“ verhalten sich zueinander wie Position und Negation. Und es stellt sich die Frage, wo denn „wahr“ und „falsch“ vorkommen – in erster Linie kommen sie an Aussagen vor. Aristoteles nennt in der Folge mehrere andere Tätigkeiten, die zum Vorkommen der beiden Eigenschaften führen.

Im Unterschied zu den objektorientierten Wissenschaften wie Physik oder Politikwissenschaft (beide bei Aristoteles), die sich direkt bestimmten Weltphänomenen zuwenden, sowie zu den modern so genannten Metawissenschaften wie Linguistik, Logik, Wissenschaftstheorie, positioniert sich die Ontologie als eine sehr spezielle zweigleisige Betrachtungsweise: sie geht von Wörtern mit eher formalen Bedeutungen aus und wendet sie ins Objektive.


Walter Seitter
9. Oktober 2019

Montag, 8. Juli 2019

In der Metaphysik lesen (BUCH IX (Θ), 1051a 34 – 1052a 3)


Die im Laufe der Metaphysik entfaltete Ontologie spielt insgesamt weniger eine fundierende denn eine supplementäre Rolle. Und ihre innere Struktur hat additiven Charakter – Stück für Stück wird sie zusammengebaut. (Siehe die aristotelischen Beispiele: bauen, gebaut werden).

Der in der letzten Stunde gelesene Abschnitt 9 fügt dieser Ontologie nur dann eine neue, eine zusätzliche Version hinzu, wenn er nicht als Lehre vom Guten oder von den Gütern zu verstehen ist. Diese Lehre mag es zwar auch geben – und sogar geben müssen. Um einen Beitrag zur aristotelischen Ontologie handelt es sich aber nur, wenn er besagt, das Seiende als solches ist gut – oder schlecht (adjektivisch). Allerdings basiert dieser Abschnitt auf den Ausführungen über Vermögen und Verwirklichung und seine Aussage geht dahin, dass die Verwirklichungen, also Tätigkeiten, Verhalten, Leistungen erstens besser sind als die entsprechenden Vermögen (und schlechter als die schlechten Vermögen) und zweitens sind sie in sich gut, vortrefflich, exzellent – oder aber fehlerhaft, mangelhaft, schlecht. Mit den Verwirklichungen werden also bereits „Höhepunkte“ von „seiend“ aufgerufen und so mag auch verständlich werden, dass Aristoteles hier die Möglichkeit der Indifferenz kaum berücksichtigt. Verwirklichungen sind Emergenzen, Fulgurationen, die notwendigerweise Exzellenz beanspruchen – und wenn sie diese verfehlen, fallen sie ins Gegenteil.[1]

Als Beispiel für so eine erfolgreiche energeia führt Aristoteles über geometrisches Zeichnen die Denktätigkeit (noesis) vor. Die erweist sich als gut und tüchtig, weil sie etwas findet, das so ist, wie es ist. Und damit leitet er direkt zur nächsten Stufe der Ontologie über, welche „seiend“ als wahr – oder falsch - qualifiziert.

Dieser Abschnitt 10 deklariert sich selber mit größter Deutlichkeit als zusätzliche Etappe der Ontologie – nach der Kategorien-Analyse und nach der Potenz-Akt-Analyse. Unter dem Aspekt des Wahr-oder-falsch-seins werden die Sachen als zusammengefügt oder als getrennt bezeichnet, weil die wahrheitsfähigen Aussagen Zusammenfügungen oder Trennungen – von Subjekt und Prädikat – vollziehen. Die Aussagen aber sind nur wahr, wenn sie tatsächlich vorliegende Zusammenfügungen oder Trennungen feststellen. In Bezug auf das Wahre gibt es also einen formalen Primat der Aussagenebene und einen materialen Primat der Sachebene. So verhält es sich bei zusammengesetzten Sachverhalten wie etwa dem Zusammenhang zwischen dir und deiner weißen Hautfarbe – beispielsweise. Ist so eine Sache zusammengesetzt, so ist sie nur, wenn beide Teile vereint sind. Sind die Teile nicht vereint, so gibt es die zusammengesetzte Sache nicht – sondern eben die Teile in ihrer Pluralität.

Dann geht Aristoteles zu den nicht-zusammengesetzten Sachen über, die ganz einfach sind. Und von denen er die Zusammenfügungen „Diagonale“ und „inkommensurabel“ sowie „Holz“ und „weiß“ unterscheidet. Die erste von den beiden ist mir insofern bekannt, als sie in diesem Buch schon öfter genannt worden ist und ein Gesetz der Geometrie formuliert: die Diagonale eines Quadrates ist inkommensurabel zur Seitenlänge. Die zweite Zusammenfügung ist mir unbekannt – da dürfte es sich um einen empirischen Zusammenhang in der Naturkunde handeln, bei dem zwei Aspekte unterscheidbar sind.

In Bezug auf die einfachen Sachverhalte postuliert Aristoteles ein ganz bestimmtes Wissen, das mit Erfassen und Nennen (nicht mit Behaupten) verbunden ist, ein Wissen, bei dem keine Täuschung möglich ist, da es weder um Akzidenzien geht noch um Möglichkeit. Sondern um „das Seiende selbst“, das weder entsteht noch vergeht – das Wesen ist und Verwirklichung. (Dieses Seiende ist nicht mit dem mannigfaltigen „ontologischen“ Seienden identisch, es deckt nur dessen höhere Stufen ab).

Da gibt es nur Denken oder Nicht-Denken. Das Denken ist kompatibel mit dem Erforschen der Dinge – ob sie solche sind oder nicht. Das Nicht-Denken führt zu Nicht-Wissen – nicht aufgrund des Mangels an natürlichen Fähigkeiten – sondern zu Ignorieren, aufgrund eines Mangels an richtiger Einstellung, womit dem ersten Satz der Metaphysik zuwidergehandelt wird. So hebt Aristoteles den moralischen Zeigefinger in einem Abschnitt, der mindestens zehn Erkenntnistätigkeiten, -modalitäten und -zustände nennt und positioniert. Es handelt sich also um eine auffällige Verdichtung der erkenntnispolitischen Problematik.

Deren ethischen Aspekt berührt Aristoteles hier nur flüchtig und ohne Emphase. Im Unterschied zu seinem Wutanfall gegen die „dialektischen“ und „sophistischen“ Pseudophilosophen, die er im Moment der Gründung der Ontologie, also am Anfang von Buch IV, aufs Korn nimmt.[2]

Walter Seitter


Seminarsitzung vom 26. Juni 2019



[1] Wie in Abschnitt 6 mit den selbstzweckhaften Handlungen wird jetzt mit deren möglicher (aber nicht notwendiger!) Vortrefflichkeit von der Ontologie aus das Konzipieren praktischer Begriffe wie Tugend, Freundschaft, Kooperation eingeleitet. Dazu siehe Andrius Bielskis: Existence, Meaning, Excellence. Aristotelian Reflections on the Meaning of Life (London – New York 2017).
[2] Ethische Fehleinstellungen, die das Wissen beeinträchtigen (und zwar keineswegs nur bei Wissenschaftlern) hat neuerdings Pascal Engel zum Thema gemacht: Les vices du savoir. Essai d’éthique intellectuelle (Paris 2019).