Wir kommen noch einmal auf
den Anfang von Kapitel 10 zurück, wo Aristoteles drei verschiedene
Differenzierungen des „Seienden“ als solchen unterscheidet: diejenige gemäß den
Kategorien (zu denen man auch das Werden, Vergehen usw. zählen kann), diejenige
nach Möglichkeit und Wirklichkeit und diejenige nach wahr und falsch. Die
beiden ersten Differenzierungen ergeben Modalitäten aufseiten des Seins. Die
dritte Differenzierung hingegen scheint sich nur auf Aussagen beziehen zu
können, die zwar Entitäten sind, aber sehr spezielle: denn wahr und falsch sind
mögliche Eigenschaften von Aussagen und zwar von wahrheitsfähigen Aussagen.
Wieso kann Aristoteles die drei Achsen auf eine Ebene stellen?
Wolfgang Koch sagt,
Aristoteles habe Sein und Sagen prinzipiell gleichgesetzt bzw. das Sein dem
Sagen untergeordnet, von ihm abhängig gemacht, denn sobald man von einem Sein
spricht, spricht man von ihm. Doch eine schlichte Identifizierung mag es bei
Parmenides oder bei Hegel geben. Aristoteles hingegen weist einen solchen
„Idealismus“ gerade in unserem Kapitel ausdrücklich zurück – und zwar anhand
einer Redensart, mit der wir jemandem eine Hautfarbe zusprechen: „Denn du bist
nicht deshalb weiß, weil wir der Wahrheit gemäß meinen, du seist weiß, sondern
weil du weiß bist, deshalb sprechen wir mit unserer Behauptung die Wahrheit.“
(1051b 7) In der Kategorienschrift formuliert er abstrakter: "Die wahre
Aussage ist niemals Ursache dafür, dass der Sachverhalt ist, der Sachverhalt
allerdings scheint Ursache dafür, dass die Aussage wahr ist.“ (14b 19)
Aristoteles behauptet
also, dass zwischen Sagen und Sachverhalt (oder Gegenstand (der natürlich auch
selber ein Sagen sein kann – wie in diesem Falle, wie überhaupt in der Logik))
eine Unterscheidung vorausgesetzt werden muß, wobei für Wahrheit oder
Falschheit der Aussage der Sachverhalt maßgeblich ist; aber nur maßgeblich und
nicht zuständig; zuständig sind Erkenntnis- und Aussagefähigkeit und –wille der
Sagenden. Allerdings ist dieser Sachverhalt von Aristoteles gesagt worden und
er kann von jedem Menschen wiederum und auch ein bisschen anders gesagt werden.
Der Sachverhalt selber kann es nicht sagen – er kann sich zeigen, er kann
erkannt werden. Wenn jedoch die besprochene Sache ein Mensch ist, kann sie den
Sachverhalt auch selber aussprechen. Zum Beispiel könnte das oben angesprochene
Du eine Frau sein, die sagt: „Alle sagen, dass ich weiß bin und in dem Sinn, in
dem so eine Hautfarbe wie die meinige 'weiß' genannt wird, bin ich eine Weiße –
wie man sieht. Unsere übereinstimmenden Aussagen sind nicht deswegen wahr, weil
sie von uns allen gemacht werden, sondern weil meine Hautfarbe so aussieht,
dass sie weiß genannt wird. Der Gebrauch der Wörter ist allerdings Sache der
Konvention.“
Damit man eine wahre
Aussage über einen Gegenstand machen kann, muß der Gegenstand mitsamt den ihm
zugesprochenen Bestimmungen unabhängig von der Aussage gegeben sein – denn die
Aussage soll ihm mit ihrem Sprechen entsprechen. Wir haben auch davon
gesprochen, dass die Unabhängigkeit des Gegenstandes weit größere Dimensionen
annehmen kann als im aristotelischen Beispiel von „deinem Weißsein“.
Es wird heute gesagt, dass
die Erde lange vor den Menschen und vor irgendeinem menschlichen Sagen auch
schon mit bestimmten geologischen oder atmosphärischen oder biotischen
Eigenschaften existiert hat. Dies kann mit irgendwelchen wissenschaftlichen
Methoden heute von Menschen erkannt und gesagt werden – und zwar nur von ihnen.
Deswegen, weil solche geohistorischen Tatsachen gesagt werden, sind sie nicht
von irgendwelchen Menschen abhängig. Weder von den seinerzeitigen Menschen, die
es nicht gegeben hat, noch von den heutigen, die sie jetzt erforschen und
aussprechen.
Daß jetzt massive
geologische oder atmosphärische oder organismische Erdeigenschaften von den
Menschen miterzeugt werden, scheint eine Eigentümlichkeit des gegenwärtigen
Zeitalters zu sein, das deswegen auch „Anthropozän“ genannt wird. Die
zugrundeliegenden Tatsachen bestehen allerdings unabhängig von menschlichem
Sagen. Dieses menschliche Sagen könnte vielleicht aber nun vielleicht dazu
beitragen, dass die Menschen ihre Einflußnahme modifizieren.
Auch gibt es Sprechformen,
die nicht oder nicht nur Wahrheiten oder Unwahrheiten über unabhängige
Tatsachen aussprechen, sondern außer der Tatsache ihres Sprechens auch noch
andere Tatsachen etwa sozialer Art, also Taten oder Handlungen, hervorbringen:
performative Sprechakte.
Wieso können wahr und
falsch auf die Seite von Seinsmodalitäten geraten? Im Buch V gibt es einen
Abschnitt über das Falsche und dort bemüht sich Aristoteles, aus dem
Aussagenfalschen – denn dieses ist das eigentliche – ein Sachverhaltsfalsches
zu konstruieren: die kommensurable Diagonale ist falsch, weil es sie nicht
gibt; andere Dinge sind zwar wirklich aber falsch, weil sie als etwas
erscheinen, was sie nicht sind – so etwa „täuschend echte“ Malereien wie die
von Parrhasios. (1024b 19ff.) Hier erwähnt Aristoteles die wichtige
epistemische Leistung, die unbelebte Dinge erbringen können – die liegt nicht
im Sagen sondern im Erscheinen.
Menschen könne man
„falsch“ nennen, wenn sie dazu neigen, andere zu täuschen. In allen diesen
Fällen wird von der Aussagenebene auf die Sachebene
hinübermetaphorisiert.
In unserem jetzt gelesenen
Text heißt es: „Denn eine Täuschung über das Was ist nicht möglich ...“ (1051b
26).
Aristoteles meint
wohl, dass man sich unter normalen Umständen nicht darüber täuschen kann, ob
„etwas“, also eine bestimmte physische Erscheinung ein Mensch ist
oder ein Sessel. Mensch und Sessel sind zwei „Was“, zwei Wesenheiten, zwei
Spezies, von denen eine der Gattung der Lebewesen angehört, die andere der Gattung
der Geräte (es sind genau diese zwei Gattungen, die Aristotele anderswo
einander annähert, weil ein Haus dazu da sei, Lebewesen und Geräte zu
bedecken).
Man kann sich aber sehr
wohl darüber täuschen, ob dieser Mensch da so gesund ist, wie er ausschaut
(oder wie er sagt), oder ob dieser Sessel da so stabil ist, wie er erscheint.
Im übrigen sind beide Dinge entstanden und vergänglich, also gehören sie nicht
zu den Sachen, die Aristoteles im Hauptteil des Kapitels bespricht: zu den
unentstandenen und unvergänglichen Sachen wie „das Seiende selbst“, das Dreieck
mit seiner bestimmten Winkelsumme, die gerade Zahl, die keine Primzahl ist.
Sind diese drei typische „wahre Sachen“ und insofern Seinsmodalitäten?
Wenn wahr oder falsch
ontologische also durchgängige Ausdifferenzierungen des Seienden als solchen
sein sollen, müssen sie auf Schritt und Tritt anzutreffen sein: als positive
oder negative Erkenntnisbezüge, als aktive oder passive oder privative
Erkenntnisdispositionen, wie sie Aristoteles in 1051b 24ff. mit
einer verblüffenden Kumulierung von Tätigkeitswörtern andeutet: Erfassen und
Nicht-Erfassen, Aussagen und Benennen, Wissen und Nicht-Wissen,
Denken oder Nicht-Denken, Täuschung und Nicht-Täuschung ... und dann auch noch
Forschen.
Diese
Erkenntnismöglichkeiten oder –blockierungen beziehen sich gleichermaßen auf
stabile Gesetzmäßigkeiten wie auf zufällige Chancen von Entstehung und
Untergang, Änderung und Ortswechsel. Folglich haben sie mit der Dramatik
menschlichen und vielleicht auch nichtmenschlichen Lebens zu tun. Doch dazu
macht Aristoteles hier keinerlei Ausführungen – vielleicht tut er dies in
anderen Schriften wie der Politik oder Ethik oder Poetik. Immerhin haben wir im
kleinen Buch vom Werden und Vergehen den Satz gelesen, der
sich auch auf die Erkennntisfähigkeit eines Menschen beziehen lässt. Die
entsprechende Fähigkeit wird da „Musik“ genannt, die Unfähigkeit „Amusie“. Da
geht es um die Verbindung des Menschen zu Künsten und Wissenschaften, deren
Mutter die Erinnerung ist.
Hier im Abschnitt 10 von
Buch IX kombiniert Aristoteles die Begriffspolarität wahr und falsch mit der
anderen von zusammengesetzt und unzusammengesetzt – welche Kombinierung sich
meinem Verständnis entzieht, und daher gehe ich in meinem Resümée nicht auf sie
ein.
Walter Seitter
4. Dezember 2017