Den Unterschied zwischen
Wahrnehmbarem und Unwahrnehmbarem hat Aristoteles deswegen eingeführt, weil
diese Eigenschaften von den „meisten“ mit Seiend bzw. Nicht-Seiend
gleichgesetzt werden. Der gewöhnliche Hausverstand hält eben nur etwas
Wahrnehmbares für wirklich. (318b 17ff., 319b 13ff.)
Das Beispiel, das er für
Unwahrnehmbares einführt, ist nun nicht etwas Unkörperliches sondern die Luft,
von der er zunächst sagt, sie sei für die Wahrnehmung „weniger“ als die Erde,
welche viel besser wahrnehmbar sei. Allerdings sei Luft mehr ein „Das-da und
Spezies“, also eine höhere Substanz als die Erde – hierbei handelt es sich um
eine kosmologische Einschätzung der verschiedenen Elemente, welche die
Materialien für die uns bekannten Körper liefern.
Jedenfalls ist die Luft
ziemlich unwahrnehmbar. (319b 20)
Nach Aristoteles sind
Werden und Vergehen eng verschränkt. Aber wie ist diese enge Verschränkung
bestimmt? Beruht sie darauf, dass jedem Werden ein gegenläufiges Vergehen folgt
und dann wiederum ein Werden in der ersten Richtung? So ein sukzessives Hin und
Her scheint mir im Text nicht angezeigt und es ist auch nicht einsichtig,
welche Phänomene gewöhnlicher also regelmäßiger Art so einer Auffassung
entsprechen würden. Die Verschränkung zwischen Werden und Vergehen ist noch
enger und zwar ist jedes Werden, also ein Werden von A, selber (und natürlich
simultan!) ein Vergehen von Non-A. Also gehen dieses Werden und dieses Vergehen
in dieselbe Richtung, sie sind nur zwei Seiten eines einzigen Vorgangs, sie
bewirken den Anfang eines Zustandes und das Ende der gegenteiligen
Situation.
Sie führen zusammen einen
„neuen“ Zustand herbei, über dessen Dauer damit noch nicht entschieden ist.
Metaphorisch spricht Aristoteles von einem „Weg“ bzw. von zwei Wegen (318b 9f.)
– und das hat er auch im Buch IV der Metaphysik getan, wo die
Ontologie hauptsächlich als Kategorienlehre entfaltet wird.
Geradezu dramatisch
historisierend formuliert Aristoteles so einen doppelseitigen Vorgang. „Der
gebildete Mensch ist vergangen, der ungebildete Mensch ist entstanden.“ (319b
25). Man könnte den ersten Satzteil auch so wiedergeben: „Der gebildete Mensch
ist kaputt gegangen, untergegangen ...“ Daß uns diese Aussage aufgrund ihrer
„Bedeutung“ ziemlich negativ vorkommt, das mag schon sein. In der
doppelseitigen Formulierung des Aristoteles ist nun gerade nicht nur von
Untergang die Rede sondern auch von einem Werden, einem Aufgang. Allerdings
Aufgang des ungebildeten Menschen.
Besagter Nensch hat dieses
Vergehen-Werden überlebt – er hat nur eine Eigenschaft verloren und eine
andere, nämlich die entgegengesetzte angenommen. Die beiden Eigenschaften
werden mit relativ starken Substantiven beinahe als selbständige Entitäten
genannt: mousike und amousia – und daher muß
Aristoteles die Vorstellung, die beiden seien selber vergangen bzw. entstanden,
extra abwehren und den Vorgang als bloße Veränderung am Menschen klarstellen.
Aber als eine Veränderung, die den Menschen tiefgreifend affiziert: er ist als
gebildeter untergegangen und als ungebildeter entstanden.
Man wird die Richtung
dieser Veränderung als unerfreulich empfinden und wir haben sie als senile
Demenz gedeutet. Umso mehr muß man dieser drastischen Textstelle zugutehalten,
dass sie Vorstellungen von einem pauschalen aristotelischen Optimismus
zuwiderläuft. Sie hat etwas Tragisches – Ödipus auf Kolonos ist
nicht weit.
Ich glaube, dieses
Beispiel zeigt, dass Aristoteles jedenfalls hier die Ontologie als Mikroanalyse
ansetzt und große kosmologische Zusammenhänge nicht unbedingt aufruft. Solche
Zusammenhänge werden allerdings auch in diesem Buch gelegentlich und im Buch II
dann stärker thematisiert. Die Ontologie als solche setzt zunächst an kleinen
und feinen Phänomenen und Unterschieden an.
Die exemplarische
Kurzerzählung dieses Beispiels erinnert an die Struktur der Tragödie, wie sie
Aristoteles in seiner Poetik postuliert hat: deren Handlung setzt sich zusammen
aus kleinen Vorgängen, unter denen die Wiedererkennung und die Peripetie die
bekanntesten sind. Im jetzt gelesenen Text fasst Aristoteles das
Werden-Vergehen öfter auch als metabole, also „Umschlag“ zusammen.
Die andere Fragestellung
dreht sich darum, welche Arten von Werden-Vergehen es gibt bzw. wie sich
Werden-Vergehen von anderen Umschwüngen, Veränderungen, Wandlungen unterscheidet.
Beim Werden des
ungebildeten Menschen und Vergehen des gebildeten Menschen wird Bildung durch
Unbildung ersetzt – aber nicht Bildung und Unbildung global oder gar an sich –
sondern als Eigenschaften eines Menschen, der als solcher, als Mensch, weiterbesteht.
Daher ist dieses Werden-Vergehen insgesamt als partielles oder akzidenzielles
zu bezeichnen. Damit ist ein Begriff aus der Kategorienlehre eingeführt und
Aristoteles differenziert hier weiter, indem er drei Akzidenzien nennt, deren
Wandel drei verschiedene Arten von akzidenziellen Werden-Vergehen definiert:
Wachsen-Schwinden, Fortbewegung, Veränderung. (319b 31ff.)
Wo aber das
Zugrundeliegende selber, die Substanz, entsteht oder untergeht, liegt Werden
und Vergehen im eigentlichen Sinn, im substanziellen Sinn, vor. Für so ein
Entstehen macht Aristoteles ganz kursorisch das Aufgehen der Pflanze
namhaft: phyomenon (319a 11).
Was aber vergeht, was geht
unter beim Aufgehen einer Salatpflanze und in der Folge dann bei ihrem Wachsen?
Die Pflanze holt aus ihrer Umgebung, der unterirdischen und der oberirdischen,
die Stoffe, die sie in sich selber umwandelt – und damit zerstört sie,
jedenfalls mindert sie diese Stoffe in ihrem bisherigen Bestand.
So bindet Aristoteles die
Problematisierung von Werden, Vergehen et ceteris an die Lehre von den
Kategorien zurück, die in der gleichnamigen und vermutlich sehr frühen Schrift
entfaltet worden war und die als frühestes Stück der aristotelischen Ontologie
gelten kann. Es sind – neben oder zwischen den eigentlich objektbezogenen
Abhandlungen – Stücke, die sich zu einer ganz und gar von ihm erfundenen
Problematik zusammenfügen.
In der sogenannten Metaphysik ist
die Kategorienlehre explizit auf das „Seiende“ bezogen worden und außerdem ist
in diesem Buch die Polarität von Möglichkeit und Wirklichkein dargestellt
worden. Lauter Stücke, die erst 2000 Jahre nach Aristoteles den Titel
„Ontologie“ bekommen haben – die allerdings noch mehr Stücke umfaßt.
Walter Seitter
20. November 2019
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