τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 22. November 2019

Über Werden und Vergehen (Mikroanalysen)

Den Unterschied zwischen Wahrnehmbarem und Unwahrnehmbarem hat Aristoteles deswegen eingeführt, weil diese Eigenschaften von den „meisten“ mit Seiend bzw. Nicht-Seiend gleichgesetzt werden. Der gewöhnliche Hausverstand hält eben nur etwas Wahrnehmbares für wirklich. (318b 17ff., 319b 13ff.)

Das Beispiel, das er für Unwahrnehmbares einführt, ist nun nicht etwas Unkörperliches sondern die Luft, von der er zunächst sagt, sie sei für die Wahrnehmung „weniger“ als die Erde, welche viel besser wahrnehmbar sei. Allerdings sei Luft mehr ein „Das-da und Spezies“, also eine höhere Substanz als die Erde – hierbei handelt es sich um eine kosmologische Einschätzung der verschiedenen Elemente, welche die Materialien für die uns bekannten Körper liefern.

Jedenfalls ist die Luft ziemlich unwahrnehmbar. (319b 20)

Nach Aristoteles sind Werden und Vergehen eng verschränkt. Aber wie ist diese enge Verschränkung bestimmt? Beruht sie darauf, dass jedem Werden ein gegenläufiges Vergehen folgt und dann wiederum ein Werden in der ersten Richtung? So ein sukzessives Hin und Her scheint mir im Text nicht angezeigt und es ist auch nicht einsichtig, welche Phänomene gewöhnlicher also regelmäßiger Art so einer Auffassung entsprechen würden. Die Verschränkung zwischen Werden und Vergehen ist noch enger und zwar ist jedes Werden, also ein Werden von A, selber (und natürlich simultan!) ein Vergehen von Non-A. Also gehen dieses Werden und dieses Vergehen in dieselbe Richtung, sie sind nur zwei Seiten eines einzigen Vorgangs, sie bewirken den Anfang eines Zustandes und das Ende der gegenteiligen Situation.            

Sie führen zusammen einen „neuen“ Zustand herbei, über dessen Dauer damit noch nicht entschieden ist. Metaphorisch spricht Aristoteles von einem „Weg“ bzw. von zwei Wegen (318b 9f.) – und das hat er auch im Buch IV der Metaphysik getan, wo die Ontologie hauptsächlich als Kategorienlehre entfaltet wird.

Geradezu dramatisch historisierend formuliert Aristoteles so einen doppelseitigen Vorgang. „Der gebildete Mensch ist vergangen, der ungebildete Mensch ist entstanden.“ (319b 25). Man könnte den ersten Satzteil auch so wiedergeben: „Der gebildete Mensch ist kaputt gegangen, untergegangen ...“ Daß uns diese Aussage aufgrund ihrer „Bedeutung“ ziemlich negativ vorkommt, das mag schon sein. In der doppelseitigen Formulierung des Aristoteles ist nun gerade nicht nur von Untergang die Rede sondern auch von einem Werden, einem Aufgang. Allerdings Aufgang des ungebildeten Menschen.

Besagter Nensch hat dieses Vergehen-Werden überlebt – er hat nur eine Eigenschaft verloren und eine andere, nämlich die entgegengesetzte angenommen. Die beiden Eigenschaften werden mit relativ starken Substantiven beinahe als selbständige Entitäten genannt: mousike und amousia – und daher muß Aristoteles die Vorstellung, die beiden seien selber vergangen bzw. entstanden, extra abwehren und den Vorgang als bloße Veränderung am Menschen klarstellen. Aber als eine Veränderung, die den Menschen tiefgreifend affiziert: er ist als gebildeter untergegangen und als ungebildeter entstanden.

Man wird die Richtung dieser Veränderung als unerfreulich empfinden und wir haben sie als senile Demenz gedeutet. Umso mehr muß man dieser drastischen Textstelle zugutehalten, dass sie Vorstellungen von einem pauschalen aristotelischen Optimismus zuwiderläuft. Sie hat etwas Tragisches – Ödipus auf Kolonos ist nicht weit.

Ich glaube, dieses Beispiel zeigt, dass Aristoteles jedenfalls hier die Ontologie als Mikroanalyse ansetzt und große kosmologische Zusammenhänge nicht unbedingt aufruft. Solche Zusammenhänge werden allerdings auch in diesem Buch gelegentlich und im Buch II dann stärker thematisiert. Die Ontologie als solche setzt zunächst an kleinen und feinen Phänomenen und Unterschieden an.

Die exemplarische Kurzerzählung dieses Beispiels erinnert an die Struktur der Tragödie, wie sie Aristoteles in seiner Poetik postuliert hat: deren Handlung setzt sich zusammen aus kleinen Vorgängen, unter denen die Wiedererkennung und die Peripetie die bekanntesten sind. Im jetzt gelesenen Text fasst Aristoteles das Werden-Vergehen öfter auch als metabole, also „Umschlag“ zusammen.

Die andere Fragestellung dreht sich darum, welche Arten von Werden-Vergehen es gibt bzw. wie sich Werden-Vergehen von anderen Umschwüngen, Veränderungen, Wandlungen unterscheidet.

Beim Werden des ungebildeten Menschen und Vergehen des gebildeten Menschen wird Bildung durch Unbildung ersetzt – aber nicht Bildung und Unbildung global oder gar an sich – sondern als Eigenschaften eines Menschen, der als solcher, als Mensch, weiterbesteht. Daher ist dieses Werden-Vergehen insgesamt als partielles oder akzidenzielles zu bezeichnen. Damit ist ein Begriff aus der Kategorienlehre eingeführt und Aristoteles differenziert hier weiter, indem er drei Akzidenzien nennt, deren Wandel drei verschiedene Arten von akzidenziellen Werden-Vergehen definiert: Wachsen-Schwinden, Fortbewegung, Veränderung. (319b 31ff.)

Wo aber das Zugrundeliegende selber, die Substanz, entsteht oder untergeht, liegt Werden und Vergehen im eigentlichen Sinn, im substanziellen Sinn, vor. Für so ein Entstehen macht Aristoteles ganz kursorisch das Aufgehen der Pflanze namhaft: phyomenon (319a 11).

Was aber vergeht, was geht unter beim Aufgehen einer Salatpflanze und in der Folge dann bei ihrem Wachsen? Die Pflanze holt aus ihrer Umgebung, der unterirdischen und der oberirdischen, die Stoffe, die sie in sich selber umwandelt – und damit zerstört sie, jedenfalls mindert sie diese Stoffe in ihrem bisherigen Bestand.

So bindet Aristoteles die Problematisierung von Werden, Vergehen et ceteris an die Lehre von den Kategorien zurück, die in der gleichnamigen und vermutlich sehr frühen Schrift entfaltet worden war und die als frühestes Stück der aristotelischen Ontologie gelten kann. Es sind – neben oder zwischen den eigentlich objektbezogenen Abhandlungen – Stücke, die sich zu einer ganz und gar von ihm erfundenen Problematik zusammenfügen.

In der sogenannten Metaphysik ist die Kategorienlehre explizit auf das „Seiende“ bezogen worden und außerdem ist in diesem Buch die Polarität von Möglichkeit und Wirklichkein dargestellt worden. Lauter Stücke, die erst 2000 Jahre nach Aristoteles den Titel „Ontologie“ bekommen haben – die allerdings noch mehr Stücke umfaßt.

Walter Seitter 
20. November 2019

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