τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 11. November 2019

Über Werden und Vergehen (Ontologie-Achsen II)

Ich schreibe hier noch einmal die vier bisher aufgefundenen
Ontologie-Polaritäten zusammen, aus denen  die ontologische Betrachtungsweise bei Aristoteles zusammengesetzt erscheint.

Kategoriale Polarität: Substanz -------- Akzidenzien

Modale Polarität:      Möglichkeit ----- Wirklichkeit

Epistemische Polarität:  wahr -------- falsch

Radikale Polarität: werden --------- vergehen

Diese Betrachtungsweise hat sich bei Aristoteles selber mit einer gewissen Langsamkeit zusammengefügt – und mit einer starken Nachträglichkeit gegenüber den regionalen Untersuchungen, die er im Laufe seines Schaffens vorgenommen hat.

In welcher Reihenfolge hat er die verschiedenen Realitätsbereiche zu seinen Themen gemacht? Die früheste Regionaluntersuchung, in der die Ontologie massiv und gleichzeitig implizit auftaucht, ist wohl die Kategorienschrift, in der zehn Kategorien und fünf Postprädikamente ziemlich detailliert vorgestellt werden. Diese Schrift wird der Logik zugerechnet, die man heute auch als Sprachanalytik bezeichnen könnte – oder als „Metawissenschaft“, insofern da die verschiedenen Weisen von Sprechen, Denken, Wissen thematisiert werden. Wobei die jeweiligen Sachbezüge nicht unterschlagen werden. Sosehr, dass etwa die Kategorie „Substanz“ mit dem Anwendungsfall „Mensch“ durch die geradezu politische Aussage spezifiziert wird, dass sie keine Steigerung zulässt: „Denn nicht ist einer mehr Mensch als ein anderer.“ (3b 38) Die Unzulässigkeit von Steigerung oder Minderung unterscheidet die Substanz von den Akzidenzien.

Die formelle Gründung der Ontologie setzte dort ein, wo die Kategorien als Ausdifferenzierungen des griechischen Grundwortes „seiend“ festgelegt worden sind. Ein Wort, das ungefähr so etwas wie „real“ oder „wirklich“ heißt, aber als aktives Präsenspartizip von „sein“ eine sehr spezielle Grammatik aufweist.
„to on legetai ... pollachos“ lautet die Formel, die in verschiedenen Schriften auftaucht; in der sogenannten Metaphysik, im Buch IV, wird sie als ein Grundsatz der später danach benannten Ontologie aufgestellt, wobei die Ontologie auch in dieser Textsammlung sich erst allmählich als eigene Betrachtungsweise herauskristallisiert – und zunächst keine eigene Disziplinbezeichnung bekommt. „Gesuchte Wissenschaft“ ist ja nun wahrlich keine ordentliche Disziplinbezeichnung und „Theologische Philosophie“ (VI, 1026a 20) ist gar keine zutreffende Bezeichnung dafür. In den Büchern VII und VIII wird dann die Kategorie „Wesen“ ausführlich abgehandelt, im Buch IX Möglichkeit und Wirklichkeit und in dessen 10. Abschnitt wird dann die Polarität wahr und falsch immerhin angeschnitten.

In De generatione et corruptione werden Werden und Vergehen als ontologische Modalitäten eingeführt, die allerdings schon früher angedeutet worden waren. Ich würde sagen, es sind aggressive Modalitäten, denn sie konfrontieren als Anfang bzw. als Ende das Seiende bzw. Sein mit dem Nicht-Seienden oder Nicht-Sein.

Insofern die moderne Kosmologie – im Unterschied zu Aristoteles – auch die Himmelskörper zu den vergänglichen Wesen rechnet, sie als entstandene und „sterbliche“ diagnostiziert und prognostiziert, weitet sie die Gültigkeit von De generatione et corruptione aus und verstärkt gewissermaßen den ontologischen Charakter dieser Schrift. Denn die ontologischen Bestimmungen sind durchgängige Seinsmodalitäten. Insofern hat die moderne Wissenschaft paradoxerweise dazu beigetragen, die aristotelische Ontologie „weiterzuentwickeln“. Schlechterdings alle sind sterblich ... und Unsterblichkeit wäre wenn überhaupt die Ausnahme.

Das würde heißen, die sehr langsame „Genese“(!) dieser Ontologie setzt sich bis heute fort. Die Unterscheidung von drei oder vier Ontologie-Achsen hat sich ja erst vor wenigen Wochen in dieser Klarheit und zwar hier herauskristallisiert.

Im Kapitel 3 dieses Buches wirft Aristoteles die Frage auf, ob es auch schlechthin Werdendes und Vergehendes gibt – oder nur Werden von einer Bestimmtheit zu einer anderen. Mit dieser Unterscheidung trifft man wieder auf den Unterschied zwischen Wesen und Akzidens.

Beim Wesen-Werden stellt sich die Frage, von wo es seinen Ausgang nimmt. Und Aristoteles gibt die Antwort, ein Werden gehe immer von einem „nicht-seiend“ aus. Das Weiß-Werden gehe von einem Nicht-Weißen aus, das Werden schlechthin von einem schlechthin Nicht-Seienden. Aber was bedeutet „schlechthin“? Entweder jede Kategorie des Seienden oder das Allgemeine und das Allumfassende.

Eine „erstaunliche Aporie“ sieht Aristoteles darin, wie schlechthinniges Werden ist – entweder ist es aus einem der Möglichkeit nach Seienden oder irgendwie anders. Mit dem „wie“ akzentuiert Aristoteles das Adverbiale und wiederholt dieses im „irgendwie“ und im „anderswie“.

Davon zu unterscheiden ist die Frage des Woraus des Werdens – und dieses Woraus ist ein partielles oder ein totales Nicht-Seiendes.

Das Woraus kann als eine Art Ursache begriffen werden. Eine andere Art Ursache ist das Woher der Bewegung. Da die Bewegung von außen kommt, ist sie von dem Wie des Werdens wohl zu unterscheiden.

All das steht unter der Drohung des Nichts, welches dem schlechthinnigen Werden zugrunde zu liegen scheint.


Walter Seitter
6. November 2019

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