Ich schreibe hier noch
einmal die vier bisher aufgefundenen
Ontologie-Polaritäten
zusammen, aus denen die ontologische Betrachtungsweise bei Aristoteles
zusammengesetzt erscheint.
Kategoriale Polarität:
Substanz -------- Akzidenzien
Modale Polarität:
Möglichkeit ----- Wirklichkeit
Epistemische
Polarität: wahr -------- falsch
Radikale Polarität: werden
--------- vergehen
Diese Betrachtungsweise
hat sich bei Aristoteles selber mit einer gewissen Langsamkeit zusammengefügt –
und mit einer starken Nachträglichkeit gegenüber den regionalen Untersuchungen,
die er im Laufe seines Schaffens vorgenommen hat.
In welcher Reihenfolge hat
er die verschiedenen Realitätsbereiche zu seinen Themen gemacht? Die früheste
Regionaluntersuchung, in der die Ontologie massiv und gleichzeitig implizit
auftaucht, ist wohl die Kategorienschrift, in der zehn Kategorien und fünf
Postprädikamente ziemlich detailliert vorgestellt werden. Diese Schrift wird
der Logik zugerechnet, die man heute auch als Sprachanalytik bezeichnen könnte
– oder als „Metawissenschaft“, insofern da die verschiedenen Weisen von
Sprechen, Denken, Wissen thematisiert werden. Wobei die jeweiligen Sachbezüge
nicht unterschlagen werden. Sosehr, dass etwa die Kategorie „Substanz“ mit dem
Anwendungsfall „Mensch“ durch die geradezu politische Aussage spezifiziert
wird, dass sie keine Steigerung zulässt: „Denn nicht ist einer mehr Mensch als
ein anderer.“ (3b 38) Die Unzulässigkeit von Steigerung oder Minderung
unterscheidet die Substanz von den Akzidenzien.
Die formelle Gründung der
Ontologie setzte dort ein, wo die Kategorien als Ausdifferenzierungen des
griechischen Grundwortes „seiend“ festgelegt worden sind. Ein Wort, das
ungefähr so etwas wie „real“ oder „wirklich“ heißt, aber als aktives
Präsenspartizip von „sein“ eine sehr spezielle Grammatik aufweist.
„to on legetai ...
pollachos“ lautet die Formel, die in verschiedenen Schriften auftaucht; in der
sogenannten Metaphysik, im Buch IV, wird sie als ein Grundsatz der später
danach benannten Ontologie aufgestellt, wobei die Ontologie auch in dieser
Textsammlung sich erst allmählich als eigene Betrachtungsweise
herauskristallisiert – und zunächst keine eigene Disziplinbezeichnung bekommt.
„Gesuchte Wissenschaft“ ist ja nun wahrlich keine ordentliche
Disziplinbezeichnung und „Theologische Philosophie“ (VI, 1026a 20) ist gar
keine zutreffende Bezeichnung dafür. In den Büchern VII und VIII wird dann die
Kategorie „Wesen“ ausführlich abgehandelt, im Buch IX Möglichkeit und
Wirklichkeit und in dessen 10. Abschnitt wird dann die Polarität wahr und
falsch immerhin angeschnitten.
In De generatione et
corruptione werden Werden und Vergehen als ontologische
Modalitäten eingeführt, die allerdings schon früher angedeutet worden waren.
Ich würde sagen, es sind aggressive Modalitäten, denn sie konfrontieren als
Anfang bzw. als Ende das Seiende bzw. Sein mit dem Nicht-Seienden oder
Nicht-Sein.
Insofern die moderne
Kosmologie – im Unterschied zu Aristoteles – auch die Himmelskörper zu den
vergänglichen Wesen rechnet, sie als entstandene und „sterbliche“
diagnostiziert und prognostiziert, weitet sie die Gültigkeit von De generatione
et corruptione aus und verstärkt gewissermaßen den ontologischen Charakter
dieser Schrift. Denn die ontologischen Bestimmungen sind durchgängige
Seinsmodalitäten. Insofern hat die moderne Wissenschaft paradoxerweise dazu
beigetragen, die aristotelische Ontologie „weiterzuentwickeln“. Schlechterdings
alle sind sterblich ... und Unsterblichkeit wäre wenn überhaupt die Ausnahme.
Das würde heißen, die sehr
langsame „Genese“(!) dieser Ontologie setzt sich bis heute fort. Die
Unterscheidung von drei oder vier Ontologie-Achsen hat sich ja erst vor wenigen
Wochen in dieser Klarheit und zwar hier herauskristallisiert.
Im Kapitel 3 dieses Buches
wirft Aristoteles die Frage auf, ob es auch schlechthin Werdendes und
Vergehendes gibt – oder nur Werden von einer Bestimmtheit zu einer anderen. Mit
dieser Unterscheidung trifft man wieder auf den Unterschied zwischen Wesen und
Akzidens.
Beim Wesen-Werden stellt
sich die Frage, von wo es seinen Ausgang nimmt. Und Aristoteles gibt die
Antwort, ein Werden gehe immer von einem „nicht-seiend“ aus. Das Weiß-Werden
gehe von einem Nicht-Weißen aus, das Werden schlechthin von einem schlechthin
Nicht-Seienden. Aber was bedeutet „schlechthin“? Entweder jede Kategorie des
Seienden oder das Allgemeine und das Allumfassende.
Eine „erstaunliche Aporie“
sieht Aristoteles darin, wie schlechthinniges Werden ist – entweder ist es aus
einem der Möglichkeit nach Seienden oder irgendwie anders. Mit dem „wie“
akzentuiert Aristoteles das Adverbiale und wiederholt dieses im „irgendwie“ und
im „anderswie“.
Davon zu unterscheiden ist
die Frage des Woraus des Werdens – und dieses Woraus ist ein partielles oder
ein totales Nicht-Seiendes.
Das Woraus kann als eine
Art Ursache begriffen werden. Eine andere Art Ursache ist das Woher der
Bewegung. Da die Bewegung von außen kommt, ist sie von dem Wie des Werdens wohl
zu unterscheiden.
All das steht unter der
Drohung des Nichts, welches dem schlechthinnigen Werden zugrunde zu liegen
scheint.
Walter Seitter
6. November 2019
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