In Abschnitt 7 (1049a 1 – 1049b 3) hatte
Aristoteles die Frage aufgeworfen, was mit dem Ausdruck „dem Vermögen nach
seiend“ gemeint ist. Ist etwa die Erde dem Vermögen nach ein Mensch? Nein. Ist
sie das, wenn sie ein Same geworden ist? Auch dann nicht so ohne weiteres, der
Same muss in ein anderes eingehen und sich umwandeln. Auch ist die
Erde nicht als solche schon dem Vermögen nach eine Statue – sie muss erst zu
Erz werden. Ein Vermögen ist eine Tendenz zu einem Werden, das stattfindet,
wenn ihr keine Hindernisse entgegenstehen. Diese Tendenz liegt auch im
Material, und zwar im nächstliegenden Material – nicht im sogenannten „ersten
Stoff“, der ein Fernmaterial ist. So hat ein menschlicher Körper das
Vermögen, die Tendenz zum Gesundsein.
Besteht ein Ding aus einem Material wie
etwa ein Kasten aus Holz, so wird der Kasten nicht Holz genannt sondern hölzern
– das heißt es wird die Wortart Adjektiv vorgezogen. Das Holz heißt nicht
Erde, sondern irden, und die Erde heißt nicht Feuer sondern feurig. Das Feuer
ist ein erster Stoff – wird aber von keinem späteren Stoff oder Ding ausgesagt.
Das Feuer ist ein erstes Substrat. Der Mensch (mit Körper und Seele) ist das
Substrat für Affektionen wie musisch und weiß. Der Mensch heißt nicht die
Weißheit oder das Musische. Das Musische ist seinerseits das Substrat für die
Musik. Der Mensch heißt auch nicht Gang oder Bewegung sondern gehend oder
bewegt. Dem Vermögen nach ist er gehend – sofern er augenblicklich sitzt.
Insofern ist jetzt das Vermögen zum Gehen früher als die entsprechende
Verwirklichung.
Wir haben begonnen, Abschnitt 8 zu
lesen, und da stellt Aristoteles die Frage, welche der beiden Modalitäten -
Vermögen oder Verwirklichung -„früher“ oder „primär“ ist – wobei zwischen
zeitlicher und begrifflicher Priorität zu unterscheiden ist. Aristoteles sagt,
begrifflich oder erkenntnismäßig ist die Verwirklichung primär, denn ein
Vermögen definiert sich von der Verwirklichung her: sehfähig ist, was wirklich
sehen kann.
Zeitlich aber geht das dem Vermögen
nach Existierende häufig dem der Verwirklichung nach Existierenden voraus, wie
wir bereits an Beispielen gesehen haben. Etwa der Same dem voll ausgebildeten
Menschen. Aber der Same stammt seinerseits von einem noch früheren Menschen.
Und Aristoteles weitet dieses Schema auch auf die anders gelagerten Fälle des
Flötenspielers und des Baumeisters aus. Den Vermögen gehen immer bestimmte noch
frühere Verwirklichungen voraus. Was entsteht, entsteht aus bestimmten
Möglichkeiten und aus früheren Wirklichkeiten sowie durch bestimmte bewegende
Wirklichkeiten. In Gemengelagen aus prioritären Möglichkeiten und
Wirklichkeiten
– Gerhard Weinberger erwähnt François
Jullien, der explizit von „neuen Möglichkeiten“ spricht, um eine bestimmte
ethische Lebensqualität zu kennzeichnen. Er meint damit wohl Möglichkeiten,
die nicht durch vorgängige Wirklichkeiten bestimmt sind. Liegt da ein
Widerspruch zur aristotelischen Auffassung vor? Was ließe sich dazu sagen? Dass
es in der Geschichte kulturelle Neuerungen gibt, die zunächst als Möglichkeiten
auftauchen, das musste Aristoteles sehr wohl bekannt sein. Er skizziert ja
selber solche Entstehungsgeschichten wie die der Tragödie oder der Philosophie,
die sich nur wenige Jahrhunderte vor seinem Leben zugetragen haben. Er
erlebte selber, wie Platon eine neue Möglichkeit des Philosophierens erfunden
hat. Und seine eigenen Erfindungen von Disziplinen wie der Zoologie und der
Logik und der Ethik muss er als Auftauchen von neuen Möglichkeiten erlebt
haben – ganz gewiss. Aber eben erlebt haben und damit schon verbunden mit
irgendwelchen Verwirklichungen welcher Art auch immer. Mit irgendwelchen
Formulierungen, vielleicht auch schon mit neuen Wortbildungen, mit disparaten Entwürfen
– wie sie ja dann gerade auch in seine sogenannte „gesuchte Wissenschaft“
eingegangen sind.
Die beiden Seinsmodalitäten Wirklichkeit
und Möglichkeit existieren gar nicht getrennt voneinander. Auch wenn laut
Jullien ganz neue Möglichkeiten zu den Ingredienzien einer bestimmten
Lebensqualität gehören oder wenn laut Heidegger die Möglichkeit höher steht als
die Wirklichkeit, so ist doch das Sich-auftun von originären Möglichkeiten
bereits eine bestimmte, einerseits eine schwächere Wirklichkeit, andererseits der
Anfang einer erweiterten Wirklichkeit.
Der Primat der Verwirklichung wird von
Aristoteles auch in Richtung Ziel, also Zukunft, behauptet. Und zwar auch für
die Betrachtung, die ja als ein Handeln angesehen wird, für welches die
Selbstzweckhaftigkeit kennzeichnend ist. Man betrachtet indessen nicht, so
Aristoteles, um über die Fähigkeit zur Betrachtung zu verfügen, sondern – um zu
betrachten. Hier bringt Aristoteles einen Vergleich mit einem bekannten
athenischen Maler, der dermaßen auf Können und Virtuosentum aus war, dass
unklar war, ob seine Malereien zur Außenwelt gehörten und da Bestand hatten,
oder ob sie nur seine Eitelkeit stützten. Für das Malen gilt ja auch, was hier
vom Bauen gesagt wird, dass es nämlich ein eigenständiges Werk in die Welt
hinaus setzt, welches das Ziel ist. Das Haus ist ein Ziel, bei dem besonders
deutlich ist, dass noch ein weitergehendes Ziel verfolgt wird: sein
Gebrauch durch Bewohner oder andere Nutzer. Mit dieser erweiterten Zwecksetzung
gewinnt das poietische Tun insgesamt auch einen praktischen nämlich politischen
Charakter.
Den praktischen Charakter haben
Betrachten und Sehen schon von sich aus: sie haben kein Werk außerhalb der
Verwirklichung: da ist die Verwirklichung selber das Werk. Und hier bindet
Aristoteles die ungefähr fünf Versionen des selbstzweckhaften Handelns,
die in Abschnitt 6 genannt worden waren, zu einem Komplex von Handlung
zusammen: das Sehen ist im Sehenden enthalten wie das Betrachten im
Betrachtenden und das Leben in der Seele und deshalb auch die Glückseligkeit –
denn diese ist ein bestimmt geartetes Leben. Ich nannte das oben Lebensqualiität.
Walter Seitter
Seminarsitzung von 8. Mai 2019
Nächste Sitzung am 15. Mai 2019