τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 24. September 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge - Sonne VII

22. September 2021

 

Wenn Ponge die Sonne zum einen als Ding unter Dingen (eher wohl über den Dingen), zum anderen aber als Bedingung aller Dinge wie auch des beobachtenden Menschen bezeichnet, dann nähert er sich faktisch der kosmologischen Ursachen-Problematik an, die wir aus der aristotelischen Metaphysik 1071a 15 (von Ponge nie direkt erwähnt, seine philosophischen Autoritäten heißen eher Lukrez und Whitehead) kennen, wo die Sonne und ihre Ekliptik (genau der Gesichtspunkt des Zuganges von Ponge) als „zweite“ Bewegursache für solche wie wir sind genannt wird (der Vater rangiert dann als xte oder yte). Doch Aristoteles setzt über die Sonne noch eine „erste“ Ursache, die nicht physisch sondern eher psychisch und fast schon anthropomorph sein soll, ein aktives und geradezu aktivistisches Prinzip, dem er auch den Ehrentitel „Gott“ zuspricht. 

 

Bei Aristoteles also ungefähr zwei höchste Ursachen (tatsächlich ein bißchen mehr), von denen nur die allerhöchste unkörperlich und unwahrnehmbar ist. Bei Ponge – für die Weltraumgegend um die Erde herum - nur eine höchste und stärkste Ursache, nämlich die Sonne, die alle Zuständigkeiten und Titel auf sich vereinigt, welche Aristoteles auf mindestens zwei Prinzipien verteilt. Beide verstehen sich als empirische Kosmographen (auch abschreibende), wobei Aristoteles das Ganze der emotionalen und vitalen und physikalen Wucht, die von der Sonne ausgeht, auf zwei (und sogar mehr Objekte) verteilt, während Ponge nur diese eine sowohl überwältigende wie auch permanente und nicht ganz permanente, also gegenteilig wirksame Erscheinung vor Augen hat und in Begriffe ganz unterschiedlicher Herkunft fassen will, nicht nur in Begriffe fassen will sondern auch disparate Verhalten vorzuschlagen sich genötigt sieht. 

 

Gerade weil Ponge Aristoteles überhaupt nicht erwähnt (indirekt wird er es vielleicht doch noch tun), kann ich und will ich die Aussagen des einen und des anderen (trotz der riesigen Abstände zwischen ihnen) miteinander vergleichen, ohne so etwas wie „Sympathie“ oder „Antipathie“ in Rechnung zu stellen. Sympathie oder Antipathie beziehungsweise beide Passionen im Widerstreit sind zwischen Ponge und Sonne festzustellen – ausgesprochen von Ponge, einem Menschen des zweiten zweiten Jahrtausends überhaupt, das sich gegenüber Aristoteles‘ erstem Jahrtausend überhaupt durch Steigerung der Aufgeregtheit auszeichnet (wie ich in diesem zweiten dritten Jahrtausend festzustellen mir erlaube). Ponges Sonnen-Aufgeregtheit wiederum zeichnet sich vermutlich gegenüber der russisch-suprematistischen Oper "Sieg über die Sonne" vom Anfang seines Jahrhunderts durch ein deutliches Minus an Dummheit und Bösartigkeit aus (was näher aufzuweisen wäre). Allerdings geht es auch im aristotelischen Text nicht ganz apathisch zu. Immerhin setzt er zwischen der allerersten und unkörperlichen Bewegursache und „uns“ Bewegten eine erotische Motivik als Motorik an. Sie scheint die Bedingung dafür zu sein, daß wir oder Ponge oder die besagten Russen sich so oder so verhalten können (müssen). Und die Verhalten beschränken sich nicht auf wissenschaftliche oder literarische. 

 

Die Sonne „ist also das Gegenteil eines Objekts, weil sie nicht nur der Vater, sondern Schöpfer und Medium des Subjekts, das sie wahrnimmt, ist. Sie werden mir entgegnen, daß ich meinen Vater, obwohl er mich erschaffen hat, beschreiben kann, weil er für mich zum Gegenstand geworden ist. Doch die Sonne erschafft uns wieder jeden Augenblick. Es wäre, würde sie verschwinden oder auch nur schwächer scheinen, unser Untergang. Man wird einräumen: ein befremdliches Objekt.“ (714f.)

 

„Sie ist der Prinz, die petitio principii.“ (712)

 

Da Ponge französisch schreibt (und er tut es bewußt und stolz), steht er dem Latein noch näher als wir und dem Vokabular unserer Aristoteles-Übersetzungen viel näher als dessen griechischem Wortschatz. Und so schlüpft nun gerade auch der eben zitierte und ziemlich spröde Übersetzungs-Begriff „Prinzip“ in seine heliographische Titel- und Ursachen-Rhetorik herein - hat da aber einen extrem rhetorischen Auftritt, indem er sich in zwei sehr disparate Stil-Aphorismen kleidet:

       

der Prinz, hier nicht der Königssohn, sondern der Fürst selber, der Erste, der König (die französische Sonne ist ja ein Herr). Der Prinz ist die personale Ausgabe des Prinzips. Ponge führt die Personalisierung der Sonne viel expliziter, barocker, auch religiöser durch als Aristoteles diejenige seines „Prinzips“. Allerdings nimmt er sie auch wieder zurück, weil ihm das Religionsstifterische noch weniger liegt als Aristoteles. Hier also einfach: der Fürst. 

 

Und in derselben Zeile einfach angehängt die theoretische Bedeutung des Wortes – aber dessen unseriöse, leicht kritisierbare und seit Jahrtausenden immer wieder höhnisch vorgebrachte Replik: dieses Prinzip, das die da eingeführt, nein aufgezeigt und bewiesen haben und als unerschütterlich und unwiderleglich verkünden, sei es in diesem oder in jenem Jahrhundert, sei es durch den Stagiriten, durch Descartes, Hegel oder Gabriel - alle diese Prinzipien sind nur scheinbar und schwindlerisch bewiesen, da sie vielleicht mit anderen Formulierungen von vornherein in die Beweisführungen eingeführt worden sind, man beweist, was man beweisen will. Das Prinzip wird gewollt, petiert – also herbeigewünscht und irgendwie geschickt oder weniger geschickt herbeigeschwindelt.

 

Auch so eine Spielart der aristotelischen Prinzipien-Erotik?

 

„Wir müssen noch einige Worte an den Leser richten und ihn bitten, die folgende Erklärung nicht zu vergessen. Die größte Schwierigkeit mag für ihn daher kommen, daß einige Passagen dieses Buches viel ausgefeilter, viel drängender sind als andere. Diese haben wir so zustandegebracht, wie wir den gesamten Text realisieren hätten wollen. Darin liegt die hauptsächliche Unvollkommenheit des Textes, die den Gesamteindruck unangenehm oder sogar unerträglich machen kann… 

 

Gelegentlich haben wir den traditionellen Standpunkt des Menschen unter Menschen eingenommen, für den die Wichtigkeit der Menschheit (über den anderen animalischen Spezies) sowie diejenige des menschlichen Individuum (über der Menschheit) keinen Zweifel zuläßt. Es geht darum, innerhalb der Gesellschaft der Menschen zu kommunizieren. Gewiß ein beschränkter Standpunkt – angesichts unseres Gegenstandes. 

 

Wir haben uns aber auch auf den Standpunkt der Erde gestellt (auf den Standpunkt des Kosmos, soweit er für uns zugänglich ist). Denn die Erde setzt die Grenzen unseres Universums. Und die Sonne erscheint da nur als eine Lampe oder eine Uhr, die sich um die Erde dreht. 

 

Auf den kosmischen Gesichtspunkt unseres Sonnensystems eingeschränkt erscheint unsere Sonne als der Gott oder das Zentrum des Universums. 

 

Unter einem weiteren Gesichtspunkt erscheint die Sonne nur als ein Stern unter anderen innerhalb unserer Galaxie. 

 

Unter einem letzten Gesichtspunkt wird unsere Galaxie nur als eine der vielen Sternnebel eines weit unermeßlicheren Universums….

 

Und noch eine andere Unvollkommenheit, eine ebenso wichtige. Die alten Mythologien haben wir nur selten einbezogen, aber der Versuchung zu reizvollen Vergleichen und Metaphern haben wir leider oft nachgegeben, was es den zeitgenössischen Kritikern leicht gemacht hat, uns eher zu den Dichtern als zu den Prosaautoren zu zählen (was uns dummerweise und blöderweise schmeicheln konnte). 

 

Dabei geht es um den Gesichtspunkt der Rhetorik. Wir wissen, daß diese nicht sehr angesehen ist, sie gilt als wenig vergnüglich, wenig charmant. Und wir müssen unsere Schuld eingestehen. Wäre uns die Sache so gelungen, wie wir gewünscht haben, dann wäre sie die reizendste überhaupt geworden: gleichzeitig erhaben und bescheiden. Astronomisch und geistvoll (im Sinn von witzig) und so weiter – in der Art von Rameau und Mozart. Aber leider leben wir nicht in einer Epoche, in der eine solche Vollkommenheit leicht zu erreichen ist. 

 

Leider? Aber nein. Eher glücklicherweise. Wir bereiten die Zukunft einer (schönen) neuen derartigen Epoche.

 

(Einer Epoche der Zivilisation)

 

Die wir gern die Epoche des Gegenspiels nennen würden.“  (726ff.)

 

„Wir sind eben in der Lage gewesen zu denken, in bezug auf die Sonne etwas zu sagen zu haben, und wir wußten von Anfang an, es nur sagen zu können, indem wir eine neue poetische Gattung erfinden. Aber wir konnten diese neue Gattung nicht a priori imaginieren – sie mußte sich selber im Laufe unserer Arbeit formieren. Wir glauben, in dieser Hinsicht zugleich Beharrlichkeit und Geduld bewiesen zu haben. Wir haben, so gut es ging, die Zeit ins Vertrauen gezogen, wir haben mit ihr gearbeitet ….

 

eine Schwierigkeit in bezug auf diesen Gegenstand kommt daher, daß er in keiner Weise die Sympathie, die (Bruder)Liebe, den Zwang oder das Mitleid befiehlt. Und daß wir nicht daran denken, ihr das Wort zu erteilen.

 

Sie befiehlt eher die (Bewunderung), die Anbetung oder die Antipathie. Sie mag, sie kann nicht beherrscht werden. Sie kann nur in die abgründige Mitte gesetzt werden.“ (734)

 

„Die Sonne ist wahrhaft ein besonderer Gegenstand,

 

Erstens ist sie ein Gegenstand (und muß also auch Gegenstand eines Buches sein können, denn sie zeigt sich sichtbar in der Natur. Aber die geringste Reflexion überzeugt uns davon, daß sie die conditio sine qua non aller übrigen Gegenstände und folglich auch des sie wahrnehmenden Subjekts ist. Und in diesem Sinn bedingt sie denjenigen, dem sie als Gegenstand erscheint. Sie ist also der metaphysische Gegenstand par excellence. Und damit könnte die Reflexion abgeschlossen werden.“ (762)

 

Das Attribut „metaphysisch“ wird von Ponge äußerst selten, um nicht zu sagen ungern, vergeben, denn er hält das Physische für realer als das Unkörperliche. An dieser Stelle setzt er das Attribut in einem durchaus positiven Sinn ein, nicht für eine Negation des Physischen, sondern für eine Bedingungs-, also Konditionierungs-, also Kausierungskompetenz, die nicht nur alle gewöhnlichen Objekte, sondern sogar das wahrnehmende Subjekt umfaßt. Es ist der Status der universellen Ursache, die allerdings im Physischen verbleibt, welcher dem Objekt namens „Sonne“ den sehr raren Titel und höchst ansehnlichen Titel des Metaphysischen verschafft.

 

Es bestätigt sich also recht klar die weiter oben schon angedeutete begriffliche Nähe zum Ursachenkomplex in der aristotelischen Metaphysik (welche von Ponge aber nicht namentlich gekennzeichnet wird (und von Aristoteles auch nicht)).

 

„Eine weitere bereits erwähnte Besonderheit dieses Gegenstands liegt darin, daß er der einzige Gegenstand ist, der eher die Anbetung oder die Verabscheuung und daher die Antipathie erheischt als die Sympathie.“ (762)

 

Und zur neuen Gattung, die mit diesem Text entstehen soll, wird noch gesagt, sie sollte „eine Art Lob, Eloge oder Hymne sein; aber ohne allzuviel Wärme, ohne übertriebene Ehrerbietung oder Unterwerfung, ohne Devotheit; einfach die Feststellung einer (relativen) Oberhoheit.“  (764)

 

„Wir denken nicht, daß man die Sonne anders definieren kann denn als den sichtbaren Gott und die Reflexion hat ihm für etwas zu danken, nämlich dafür, daß sie sich derart sichtbar gemacht hat, daß es uns unmöglich ist, sie anzubeten. Oder vielmehr dafür, daß sie es uns möglich gemacht hat, etwas anderes zu tun, als sie anzubeten. Aber was?

 

Wir sind anscheinend für sie ebenso notwendig, wie sie für uns sein kann. Da sie uns geschaffen hat, damit wir um sie herum kreisen und sie betrachten, sind wir für sie zweifellos ebenso notwendig, wie sie für uns zu sein scheint. 

 

Die Sonne ist gewissermaßen das ontologische Gestirn.“ (766)

 

Auch ohne diesen letzten Satz, der ja nur terminologisch interessant scheint, stehen die hier zitierten Aussagen dem, was wir im Buch XII der Metaphysik gelesen haben, sinngemäß verblüffend nahe. Verblüffend, weil sie keinerlei direkten Textbezug andeuten, welcher nach allem, was über Ponge bekannt ist, ohnehin kaum vermutet werden kann.

 

Terminologisch ist das „ontologische Gestirn“ viel erstaunlicher als das „metaphysische Objekt“, weil dieses unweigerlich in der Spannung zwischen physisch und nicht-physisch angesiedelt ist – selbst wenn unklar ist, wo. 

 

Das Attribut „ontologisch“, das historisch von Aristoteles noch weiter entfernt ist als „metaphysisch“, da es erst um 1600 von einigen deutschen Gelehrten erfunden worden ist, allerdings mit eindeutigem Bezug zum Aristoteles-Verständnis, scheint hier aber doch kaum in der Bedeutung gebraucht zu werden, die für das Verständnis des Gesamtwerkes der Metaphysik entscheidend ist, aber Ponge eher unbekannt gewesen sein dürfte. Im Buch XI, das allerdings das Pech hat, selbst von Koryphäen der Aristoteles-Deutung gering geschätzt zu werden, entschließt sich der Text endlich, das Eigenständige der Ontologie von der Physik wie auch von der Theologie zu unterscheiden (1064b 6ff.)

 

Das Wort kursiert allerdings in philosophisch gebildeten Kreisen mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen. Man kann zunächst vermuten, daß Ponge es irgendwie so ähnlich versteht wie das geläufigere „metaphysisch“. Aber warum dann in diesem Satz, der immerhin wie ein feierlicher Schlußakkord klingt – das „Gestirn“ als Subjekt des „Ontologischen“? 

 

Ohne auf die Aristoteliker des 17. Jahrhunderts zurückzukommen, versuche ich mich jetzt einmal mit einer gewaltsamen aber wortwörtlichen Übersetzung von „ontologisch“ ins Deutsche – „wirklich-wörtlich“. 

 

Die darin anklingende Polarität verweist auf den Impetus, der Ponge in seinen Texten, zu seinen Texten antreibt, und der richtet sich zunächst auf die Dinge, gegen die Dinge, geht aber über sie hinaus und wirft sich auf die Wörter, mit denen er Dinge beschreibt und anspricht und ihrerseits zum Reden überreden will. 

 

 

Walter Seitter

Freitag, 17. September 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne VI

15. September 2021

 

 

„In unseren Breiten“ bewegt sich die Sonne - geozentrisch gesehen - von links nach rechts und ebenda verläuft unser Schreiben wie unser Lesen von links nach rechts. Ponge bezieht diese beiden Bewegungsverläufe aufeinander und gelangt auf diese Weise zu einer erweiterten Physik, die er dann auch noch in eine Physio- und Psychologie umschlagen läßt. 

 

Zur Sonne: „Doch ihre Kraft, ach, wächst immer mehr, blendet meinen Verstand, und mir bleibt bald nur mehr die Versuchung, sie als die intensive Lichter- und Ideenquelle zu definieren, die vormittags im vorderen linken Lobus meines Kopfes funktioniert. Und jetzt der Taumel. O SONNE, monströse Freundin, rothaarige Hure, indem ich deinen haarsträubenden Kopf in meinem linken Arm halte, will ich meine Füllfeder in dich tauchen und mit meiner Tinte, unter dem langen Schenkel dieses Nachmittags, dich überschwemmen, aufspürend, von der rechten Seite kommend, die Mitte deines Geschlechts.“ (658)

 

Die Sonne rückt, unter dem Blick auf die elliptische Umlaufbahn der Erde, aus der heliozentrischen Perspektive ins Exzentrische. Das (entstehende) Buch kreist um die Sonne, nicht nur wie die Erde, sondern auf dem Erdball….  Das Geheimnis liegt in der Beschreibung der Sonne, im Sonnenwort, im Buch (verkapselt) … Bleibt noch zu sagen, daß die besten Messungen im Hinblick auf die Sonne der kleine Planet EROS geliefert hat, der zu gewissen Zeiten der ERDE ziemlich nahe kommt: bis auf ungefähr 17 Millionen Kilometer.“ (671)

 

„Daß die Sonne unter der Gestalt ihres Namens, der dieser Studie von der ersten Zeile an einverleibt ist, von selber sich am Horizont des Textes zeigt, sodann allmählich aufzusteigen scheint, wie man es hier zum ersten Mal in der Literatur sieht, um alsbald links oben zu erstrahlen.“ (672)

 

Am 4. Januar 1954 bemüht Ponge das Wort für Titel, das im Französischen den Buchstaben l gegen den Buchstaben r ausgetauscht hat und daher Titer lautet, wobei auch das Verb titulieren die Form titrieren angenommen hat, welches wiederum die zusätzliche Bedeutung kontrollieren (nämlich das Titulierte auf seine Berechtigung zur Führung des Titels hin untersuchen – etwa eine Münze auf ihren Feingehalt hin) derart, daß er auch das Papier zweimal schräg in die Schreibmaschine eingespannt hat, um drei Zeilen aus der Horizontalen in Aufstieg und Abstieg aufzubrechen oder aufzuwölben, nämlich die Zeilen, die ich in der Horizontalen hinschreibe:

 

„Die Sonne tituliert (titriert) – den Lauf der Natur

 Sonne als durchlaufender Titel (Titer) der Natur

wie sie sich am Horizont der Natur erhebt und dann niedersinkt zur Signatur …“ (674)

 

 

„im Verhältnis zur Natur 

verfügt die Sonne über alle Qualitäten eines Titels.

Sie ist (in jedem Sinn) ihr Chef und ihr Schlüssel. 

Sie resümiert sie. Sie ist das Wort, das sie verblüfft.

Sie erschafft sie. Sie klärt sie auf.

Sie ist ihr Erinnerungsstichwort. Ihr einsilbiger

Slogan. Sie betäubt sie.“ (676)

 

„Sonne, Radnabe, Kaskade:

                 Kettenpumpe oder Noria.“ (678)

 

„Die Sonne

 

wir anerkennen … 

       vernünftigerweise

 

Da wir keine Chance haben

logisch (oder analogisch) unsere Sonne zu gestalten

da sie in Wahrheit erstens  

eine unmögliche Sache ist, zugleich unförmig und

blendend; zweitens eine  Sache von allerhöchster, 

von exzessiver Wichtigkeit; drittens ist sie das metaphysische Objekt

schlechthin: unser Schöpfer und unsere Bedingung … Man weiß nicht, wo man sie fassen könnte,

                                                      womit man sie vergleichen könnte

 

Mit welchen Bezeichnungen kann man ihr gerecht werden?

Auf welche Temperatur müssten die Wörter gebracht werden, das Wort, das man für sie einsetzt? Welche Blitzgewalt müßte man ihnen geben und im Vergleich womit? (mit welchen anderen weniger blitzenden oder vielmehr überhaupt nicht blitzenden und nur von ihr erhellten). In Wahrheit kann nur ein einziges Wort sie ersetzen - vielleicht: Der Ausruf, die einsilbige Affirmation: ja!

 

Also da wir von vornherein der Chimäre entsagen müssen, von ihr zu sprechen aber uns dennoch nicht versagen, werden wir von ihr unserer zweiten Vorgehensweise nach reden, durch Nachstellung, durch hartnäckiges Weitermachen, durch schräge Teil-Definitionen oder -Deskriptionen vom Scheitern, durch Offenlegung unseres Unvermögens  und unserer Unnachgiebigkeit.

 

Wir können die Sonne nur in die abgründige Mitte setzen - 

 

Die Sonne ist nicht zu gestalten,

sondern aufzuschlitzen.                       Ausgeweidete Poesie, ausgeweidete Formulierung.“ (680)  

 

 

Diese Andeutungen zu seiner Methode klingen nicht sehr vielversprechend, sie laufen wohl darauf hinaus, daß die Annäherung an einen „unmöglichen“ Gegenstand nur chaotisch, turbulent, widersprüchlich sein kann. Als methodische Hauptwidersprüchlichkeit wird die Hartnäckigkeit des Weitermachens beschworen – in eklatantem Gegensatz zur Aussichtslosigkeit, zum unvermeidlichen Scheitern des Unternehmens. 

 

Die Offenlegung des Scheiterns verzichtet jedoch auf eine theoretische Rationalisierung, welche eine sogenannte Dialektik erfindet, die vom Automatismus einer triumphierenden Negativität angetrieben wird. Sofern sich der „Gegenstand“ auf Sprachliches reduziert, tut er es zum Ausruf Ja!. Sofern der Begriff „Gegenstand“ durch andere Begriffe ergänzt oder erweitert werden kann, schlägt Ponge die Neologismen „Gegenspiel“ und „Gegenfreude“ vor – wobei das Präfix „gegen“ genauer als „gegenüber“ zu verstehen ist.

                                                                   

 

Doch werden mit diesen Begriffsspielen auch wohlbekannte Vorstellungsgewohnheiten aufgerufen, die dann abgewiesen werden müssen.

 

„Die Sonne

 

Als Beispiel für den unentbehrlichen Charakter der Sonne genüge die Bemerkung, daß ohne sie (sagt man) keine Chlorophyll-Funktion statthaben könnte, die ihr im übrigen als Nabe (Hebel, Achse, Baum, wie man von einem Baum in der Mechanik spricht) dient, um ihre Energie in verschiedene Aktivitäten (Variationen) zu fächern (ihre Energie in wirksame Variationen zu teilen, zu gliedern, umzusetzen). 

 

Wir könnten sagen, daß sie der eigentliche MATERIELLE GOTT unserer Welt ist. Alles was wir in unseren Anrufungen und Gebeten vom einzigen GOTT sagen, kann von ihr gesagt werden.

 

SCHÖPFER DES HIMMELS UND DER ERDE

VATER UNSER IM HIMMEL

 

Warum wollen unsere Gebete nicht, daß wir die Sonne verehren? Weil sie zu sichtbar ist. Sie ist dermaßen sichtbar, daß sie - die Götter – uns in ihrer Hinsicht nichts Wichtiges beibringen oder sich für uns bei ihr verwenden können.

Wir sollten ihr also, anstatt uns zu beklagen, dankbar sein dafür, daß sie uns erscheint, weil sie dadurch verhindert, daß wir sie verehren. 

 

Im übrigen genügt ein Handrücken, um sie uns zu verbergen.“ (695f.) 

 

Ponge setzt die Niederschrift von gegensätzlichen Empfindungen und Überlegungen, welche die Sonne in Richtung Religion oder aber in Richtung Wissenschaft rücken, hartnäckig und ungerührt fort. Er protokolliert sich und ich protokolliere ihn. Deutero(proto)koll.

 

„Sagen wir, sie rührt uns nicht. Wir sollten davon Abstand nehmen, sie anzurufen, aber auch sie zu beleidigen.

 

Dennoch rührt das intensivste, unleugbarste Gefühl des Wohlseins von ihr. Das körperliche Wohlbefinden und Entzücken. Auch das soll nicht verschwiegen, nicht unterschlagen werden. Es wäre unverzeihlich. Was wir bisher geschrieben haben, hatte einen viel zu leidenschaftlichen Anstrich. Vom Verstand her verabscheuen wir sie, vom Gefühl her verehren wir sie. Das alles macht viel zu viel Aufhebens von ihr (ein gelber Stern der Größe 5). Das alles ist (für meinen Geschmack) etwas übertrieben….  Ist der Begriff der Sonne in die abgründige Mitte (des Wappens) gesetzt, werden wir unaufgeregt Gefallen an den Verwandlungen ihrer einzelnen Eigenschaften finden.“ (696)[1]

 

 

„Die SONNE VORWORT

 

Wir schreiben der Sonne, aus praktischen Gründen, ihrem exzessivem Glanz und dem Irrsinn, den sie provoziert, unsere Abschweifungen, Niederlagen oder Überschwänglichkeiten zu, kurz, jeden einzelnen unserer phantastischen und lächerlichen Irrtümer…  Gleichwohl werden wir versuchen, ein gewisses Verhältnis aufrechtzuerhalten, eine gewisse Proportion, die das Verhältnis zwischen den Protuberanzen oder sichtbaren Flecken an der Peripherie des Gestirns und seiner grandiosen (und dauerhaften) Kugelform … erinnern soll.“ (697)

 

„Die ERDE

 

beschreibt, indem sie um die SONNE kreist, eine elliptische Bahn, von der die Sonne nur den einen Brennpunkt okkupiert. Welcher ist der andere? unsichtbar zwar, doch zumindest gleich gewichtig? Um welchen anderen Brennpunkt also dreht sich die ERDE auch? den Brennpunkt des Begehrens, ihr zu entkommen.

 

Wenn man das verstanden haben wird, wird man zugleich dieses Buch, oder zumindest die ihm waltende ars poetica verstanden haben.“ (698)

 

Ponge schreibt die Schreibtätigkeit nicht nur der Sonne sondern auch der Erde zu, sich selber schreibt er sie performativ zu, wobei sein Schreiben die Form der Handschrift, der Maschineschrift (Typographie) und der Handzeichnung annimmt, während ich in diesem neuen Jahrtausend längst zu einer neuartigen Typographie übergegangen bin, die ich neulich anhand meines Maus-Problems auch eigens erwähnt habe. Wir dürfen also vorläufig resümieren, daß wir mitten in einem polygraphischen Universum agieren – daher wir. Es sieht weniger als nach einer Heliologie nach einer (?) Heliographie aus und nicht nur Helio-.

 

Am 27. Februar 1954 hört Francis Ponge im Palais de le Découverte in Paris einen Vortrag von Félix Trombe, einem der Pioniere für die Nutzung der Sonnenenergie in Frankreich – über „Sonne, Leben und Energie“. Ponge mischt seine Vortragsnotizen mit älteren Aufzeichnungen zur Photosynthese. Und äußert sich skeptisch zur Domestikation der Sonnenenergie. (700ff.)

 

So kommt Ponge im Verlauf seines jahrzehntelangen heliographischen Unternehmens bereits mit der heliotechnischen Problematik in Berührung - keineswegs nur anekdotisch sondern intensiv und professionell, da er genau in jenem Jahr auch seinen Text über die Elektrizität verfaßt hat und zwar für andere Professionisten nämlich die Architekten.  

 

 

Einige seiner neulich formulierten Überlegungen wiederholend meint Ponge nun, daß sein Buch auf eine „Rhetorik“ in Sachen Sonne hinauslaufe. Damit modifiziert er seine Äußerung, die von ars poetica gesprochen hatte. (708) Auch die Rhetorik gehört zum Kanon des antiken und mittelalterlichen Bildungssystems, zielt aber mehr auf pragmatische Lebensbewältigung: eine Redeweise finden, die den Dingen gerecht wird und damit die Verständigung zwischen den Menschen fördert. 

 

Ponge bleibt keineswegs in irgendeinem Eck für Lyrik stecken. 

 

 

Walter Seitter




[1] Die „mise en abîmeist eine heraldische Figuration, in der ein „Herzschild“ über die gespaltene Mitte eines Wappens gelegt wird, womit dessen gegenstrebige Fügung überdeckt und nicht aufgehoben wird. Zum heraldischen Zeichensystem siehe Walter Seitter: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft (Weilerswist 2012): 13-33.

Mittwoch, 8. September 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne V


Im Nachwort zum Tischbuch von Francis Ponge[1] habe ich zwischen Wissenschaftlicher und Philosophischer und Poetischer Physik unterschieden und dazu bemerkt, daß zwischen den dreien keine hohen Mauern aufgerichtet sind, sondern daß gegenseitiges Wahrnehmen und sogar Abschreiben nicht ausgeschlossen sind.

 

Am 13. Juni 1953 fertigte Ponge auf sechs Blättern Auszüge aus einem Handbuch physikalischer Astronomie, Le Soleil von Georges Bruhat und Lucien d‘_Azambuja, an. Die Auszüge beschränken sich im Wesentlichen auf das erste Kapitel über Geometrische und physikalische Gegebenheiten. Einen Tag später fügte er noch ein Schema zur Auswirkung der Sonnenenergie auf autotrophe Lebewesen (Pflanzen), Mineralien und heterotrophe Lebewesen (Tiere, Menschen) hinzu; außerdem noch eine Formel für (oxygene) Photosynthese: Umwandlung, durch (Sonnen)Lichteinwirkung, von Kohlenstoffdioxid und Wasser zu Glucose (Traubenzucker) und Wasser. Dazu sein Kommentar: „Das ist die dem Leben wesentliche Reaktion. Nicht wir bringen sie hervor. Die Natur bringt sie hervor. Diese Reaktion ist endothermisch: sie bedarf der Energie. Die Sonnenstrahlung stellt sie zur Verfügung. Sie bringt Chlorophyll hervor, eine hochkomplexe Verbindung …  Durch diese Reaktion also kommt es zur Bildung von Kohlehydraten (Glucosen). Doch die Pflanzen können sie nicht nach Belieben erwirken, denn sie akzeptieren nicht unbeschränkte Zufuhr von Wasser und Kohlenstoffdioxid….“ (566f.)

 

Ponge macht dazu folgende Bemerkungen: „Die Sonne ist nur ein gelber, schwach leuchtender Stern, der Größe 5. ungefähr, verloren unter Milliarden anderer im Innern einer Galaxie, die vielleicht selber nur Teil eines Moleküls ist, dessen Zusammensetzung und Nutzung uns entgeht. Manchmal finden erst durch Deflation, im Verlauf einer insgeheim rückwendigen Operation, die Proportionen ins entsprechende Verhältnis, wodurch alles wieder in Funktion gesetzt wird. Eine Art Abmagerungskur … Die Schwierigkeit im Vorgang der Zurücknahme … des großartigen Eindrucks, den die Sonne, am und als Ursprung alles Lebens (auf der Erde) auf alles Lebendige macht, liegt darin, daß der Rahmen, in dem die Sonne … funktioniert, fehlt. Mit der Abkühlung des Verhältnisses zur Sonne setzt für den (irdischen) Beobachter nicht weniger als das Leben als Anhaltspunkt im Hinblick auf die Funktion der Sonne, der Rahmen aus Leben-und-Tod, in den er sich (wie die Sonne) gespannt fand, aus.“ (567).

 

„Hier wird die tyrannische Ausstrahlung benutzt, um jene diversen Aktivitäten einzuräumen, deren eine, durch gebundenen Kohlenstoff, in der Schaffung eines Licht- und Energieersatzes liegt. Die es insbesondere erlaubt (wo nicht auf Sonne zu verzichten), zumindest sie zu untersuchen und in Gedanken an den ihr zukommenden Platz zurückzustellen …. Eine andere unter den diversen Aktivitäten ist das Feuer. (Prometheus).  Durch gebundenen Kohlenstoff schafft sie ein Licht, das (gewissermaßen) das Sonnenlicht ersetzen, und also (zusätzlich) dessen Beobachtung erleichtern kann….“ (567f.) 

 

Die Chlorophyll-Notiz zur Photosynthese setzt die Tyrannei der Sonne, zusätzlich zur Minimierung ihres Status in galaktischen und intergalaktischen Dimensionen unterm Gesichtspunkt physikalischer Astronomie, der ihre Verkleinerung ins Mikroskopische provoziert, auch im und als Ursprung des Lebens (auf der Erde), der ihr zugeschrieben wird, unter Druck: die abgestorbenen Pflanzen bilden (organisch) gebundenen Kohlenstoff, der als Licht- und Energieersatz der Sonne ironisch  … Paroli bietet. 

 

 

„Um alles zu sagen. Doch in eben diesem Augenblick empfinde ich die Versuchung, die Sonne zu definieren. So sucht mich die Versuchung heim.“ (584)              

 

Walter Seitter


[1] Francis Ponge: Der Tisch (Klagenfurt 2011, 2019)

 

Mittwoch, 1. September 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne IV

„Daß die Sonne zunächst links oben auf dem Blatt erscheint und strahlt, das ist normal.

‚Strahlende Sonne!‘ Freudenruf! Der Zuruf einer ganzen Welt (oder des Ganzen der Welt) antwortet ihr unmittelbar.

... Selbst durch Tränen hindurch (wenns sein muß), denn es ist ihr zu danken, daß die Tränen glänzen.

Es ist durchaus glaubhaft (merkwürdiger Ausdruck), daß wir im Inneren der Sonne, daß wir in der Sonne sind.

Als ihre Unvollkommenheiten, ihre Flecken, ihre Geschwulste.

Wir alle, Gegenstände der Welt ...

Ziemlich nahe ihrer Mitte, ihrem Kern. Aber dieser Kern ist lichter, heller als das Fruchtfleisch: 

als ob der Kern des Pfirsichs oder der Aprikose (oder Marille) geradezu blenden würde ...“ (388)

 

„Das Rätsel der Sonne

Das Erstaunlichste an der Sonne und was sie beinahe unsagbar macht:

sie ist zugleich die conditio sine qua non, also die formelle und unersetzliche Bedingung

der Existenz aller Gegenstände der Welt

und unter diesen Gegenständen zugleich ein deutlich unterschiedener Gegenstand.

 

Aber gehen wir weiter. Was für ein Gegenstand ist sie? Welcher Gegenstand? 

Der strahlendste aller Gegenstände ... 

Dermaßen strahlend ...

Achtung!

Deutlich unterschieden? Nein, gerade nicht deutlich unterschieden. Vielmehr ununterschieden. Blendend. Sodaß sie sich nicht ins Gesicht schauen läßt. Sodaß sie es untersagt, sie zu betrachten. Sie stellt sich so an, daß man seinen Blick nicht auf ihr liegen lassen kann ...

Sodaß man sie nicht beobachten kann.

Aber was die Sache noch verwirrender macht, noch beunruhigender: blendend?

Dieser blendende Gegenstand, notwendige Bedingung aller Gegenstände der Welt. Nun, der geringste dieser Gegenstände – ein Fensterladen, ein Blatt oder ein Lid reicht aus, um ihn zu verdecken. Fast alle Gegenstände, die er geschaffen hat, sind opak, verhöhnen ihn, beschämen ihn, verdunkeln ihn ...

Der Schatten (und selbst die Nacht) sind Schöpfungen der Sonne (das ist nur allzu offensichtlich).

Also kann man sagen, daß sich jeder Gegenstand der Welt innerhalb der Welt, ja innerhalb der Sonne befindet – als eine Unvollkommenheit, ein Fleck, ein Geschwulst.

Die Sonne belebt also die Welt, aber zuerst hat sie sie dem Tod geweiht (die Welt ist krank); dann erschafft sie sie neu, belebt sie mit einer neuen Existenz, welche der Rekonvaleszenz und der Gesundheit ähnelt...

Der Gipfel der Selbstzufriedenheit, des berechtigten Stolzes, gleichzeitig gibt es da einen Minderwertigkeitskomplex, der sie dazu bringt zu kokettieren, sich begehren zu lassen (von ihrer Schöpfung), die Gegenstände nach ihrer Wiedererschaffung durch sie verlangen zu lassen. 

Wir drehen uns um einen Stern. Bei weitem nicht den größten, um einen kleinen Stern, dem wir ziemlich nahe sind.

Die Sonne belebt, was sie betrachtet, spielt mit ihm ein Psycho-Spiel, kokettiert mit ihm ...“ (398ff.)

 

„Meinung des Herrn X. über die Sonne ...

Daß man in der Natur die Sonne sehe, daß sie sich zeige, beweist schon ihren schlechten, ihren beleidigenden Geschmack.

Trotz meinem guten Willen ist es allzu offensichtlich, daß man die Sonne nicht beschreiben kann, auch nicht eigentlich definieren, außer mit einer Tautologie.

Kann man sie durch eine logische Formel ersetzen?

Hat die Sprache diese Macht?

Schauen wir!“ (412)

 

„Die Sonne, mit offener Hand, ist ein verschwenderischer, großzügiger Ahnherr.

Ein Sämann. Sämann? Ich würde eher etwas anderes sagen ...

Seine Handauflegung bewirkt überall ein Spannen: wölbt die Oberflächen, läßt die Schoten aufspringen, die Blütenblätter sich aufrichten, die Früchte anschwellen.

Sein bloßes Erscheinen, sein Anblick macht dunkel, führt zum Erröten. Oder macht blaß, schwach, ohnmächtig.

Mit seiner warmen Zärtlichkeit mißbraucht dieser Alte alle seine Nachkommen, beschleunigt er den Lauf ihres Lebens, exaltiert er und konsumiert und zerstört er physisch ihre Körper.

 

Er penetriert sie, entkleidet sie, treibt sie an sich zu entblößen, er bringt sie dazu, sich zu spannen, sich zu schwellen, aufzuspringen, sich zu ergießen, zu genießen, zu welken, zu vergehen und zu sterben.  

Die Gegenstände, sobald sie auftauchen, werfen aufeinander ihre Schatten. Sie werfen ihre Schatten die einen auf die andern. 

Ein jeder ist exaltiert, bestätigt, voller Stolz. Und fühlt eine Rechtfertigung. Mehr noch: er ist penetriert: er empfindet seine kalte Seite nicht mehr. 

Damit erfüllt er seine Pflicht: spannt und genießt, gießt. 

Dann spürt ein jeder, daß er Schatten wirft – und sein Zartgefühl beunruhigt sich darüber. Er merkt, daß er gewisse Dinge hinter sich verdunkelt, daß er sie in Verlegenheit bringt. Er möchte das vermeiden, kann es aber nicht. Seine Existenz verdammt andere Existenzen, sobald die Freude auf der Welt auftaucht und er daran teilhat. 

In der Freude: Hierarchie. 

Ein jedes Ding trägt ein Wappen von Weiß und Schwarz.

In der Traurigkeit, im Trüben (graues, bewölktes sonnenloses Wetter) bringt das Leben mehr Gleichheit mit sich.“ (438ff.)

 

„Was ist der Schatten?

Der Schatten hat immer eine Form, diejenige des Körpers, der ihn trägt.

Er ist der Ort der Traurigkeit, die von der einem Körper zusetzenden Freude ausgelöst wird. 

Er ist das (bewegliche) Gefängnis, der geoemetrische Ort der Bestrafung einer Raumzone durch eine andere (in Freude oder in Glorie).

Und er ist umso dunkler, je stärker (blendender) die Freude ist.  

Man kann ihn als Loch, als Abgrund (Repoussoir) betrachten, tatsächlich sieht man darin nichts.

Man kann ihn als Form (allerdings eine deformierte) des von der Freude getroffenen Gegenstands betrachten.

Man kann ihn als Bestrafungsort für gewisse andere Gegenstände betrachten ...“ (442)

 

„Die Sonne (zu beklagen).

Die Erfolge der Sonne sind konstant. Sie lassen sich gar nicht mehr zählen. Was mich reizt, von ihr zu sprechen oder ihr das Wort zu geben, ist gewiß nicht Mitleid (oder Sympathie) mit ihr.

Sie ist der unbestrittene Stern unserer Welt.

Der Star. Die Attraktion. Ihr Glorienschein kennt praktisch keine Verfinsterung.

Unnachgiebig ihre Selbstsucht, unnachgiebig eins mit sich selbst: sie stellt sich Tag für Tag von neuem aus. 

Niemand entgeht ihr auch nur für eine Minute. Wir sind in ihren Händen. 

Vater, Kuppler und Voyeur ... Geburtshelfer, Arzt und Mörder. Der seine Kinder schändet.

Du bist die einzige Person (oder Sache) auf der Welt, die nie das Wort ergreifen (oder haben) kann. Außer Frage, es dir zu gewähren. (Sonne, erlaube also meiner Feder, dir davon zu klagen.)“ (446ff.)

  

„ein

 

einziger 

 

Gott

 

Schrecken

 

eines 

 

einzigen  

 

Gottes                        

 

gegen 

 

jedwede

 

Religion

 

des

 

Einen             Gemeinsames Leben mit einem Stern ... Wir wachen jeden Morgen 

                  mit demselben Stern in unserm Bett auf. Im Sommer

gegen             geht sie vor unserem Erwachen im Haus umher. Das ist

                  unser Abenteuer, unser langweiliges.“ (462)

den


Monotheismus

 

Der Sonne, der nichts fehlt, fehlt eben deswegen die Sprache. 

  

„Die Struktur des Menschen ist spiralig.“ (498)

 

„Hier tritt eine zusätzliche Idee in Erscheinung, diese: daß nämlich die Sonne die obere linke Seite meiner Stirn trifft, folglich, da der Mensch spiralig strukturiert ist, die Bewegung meiner rechten Hand (die schreibt) auf diese Weise ausgelöst wird. Die Schrift wäre demnach nur die von der rechten Hand, angetrieben vom Gehirn (dem vordern linken Lobus), seinerseits durch schlagende Einwirkung der Sonnenstrahlen in Gang gesetzt, gelassene Spur. Der Körper (und Geist) würde also nur (diagonal) durchquert. Als wäre die Bewegung mechanisch. Auf gewisse Weise wäre dadurch die Graphologie gerechtfertigt (die Schreibweise als das Eigentümliche jeder Maschine). Der Mensch schriebe sich so der universellen Mechanik, dem Universaldeterminismus ein.“ (530)

  

„Ich werde hier eine Beschreibung der Sonne versuchen. Aber vor allem muß ich zuerst bemerken, daß dieser Gegenstand (er erscheint uns tatsächlich unter den anderen Gegenständen als ein deutlich unterschiedener Gegenstand) eine besondere Eigenschaft hat, nämlich daß er auf alle anderen Gegenstände einen beträchtlichen Einfluß hat - mehr als irgendein anderer. Das ist uns unmittelbar evident und scheint es immer gewesen zu sein und so viele Beobachtungen sind dazu gemacht worden, daß die Sonne nunmehr auf jeden Fall als Zentrum der Welt betrachtet wird und als Vater und Mutter all der anderen Gegenstände, die um sie kreisen, als die unumgängliche Bedingung aller übrigen Gegenstände. Ist dies gesetzt, versuchen wir sie zu beschreiben.“ (546)

 

Walter Seitter