τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 1. September 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne IV

„Daß die Sonne zunächst links oben auf dem Blatt erscheint und strahlt, das ist normal.

‚Strahlende Sonne!‘ Freudenruf! Der Zuruf einer ganzen Welt (oder des Ganzen der Welt) antwortet ihr unmittelbar.

... Selbst durch Tränen hindurch (wenns sein muß), denn es ist ihr zu danken, daß die Tränen glänzen.

Es ist durchaus glaubhaft (merkwürdiger Ausdruck), daß wir im Inneren der Sonne, daß wir in der Sonne sind.

Als ihre Unvollkommenheiten, ihre Flecken, ihre Geschwulste.

Wir alle, Gegenstände der Welt ...

Ziemlich nahe ihrer Mitte, ihrem Kern. Aber dieser Kern ist lichter, heller als das Fruchtfleisch: 

als ob der Kern des Pfirsichs oder der Aprikose (oder Marille) geradezu blenden würde ...“ (388)

 

„Das Rätsel der Sonne

Das Erstaunlichste an der Sonne und was sie beinahe unsagbar macht:

sie ist zugleich die conditio sine qua non, also die formelle und unersetzliche Bedingung

der Existenz aller Gegenstände der Welt

und unter diesen Gegenständen zugleich ein deutlich unterschiedener Gegenstand.

 

Aber gehen wir weiter. Was für ein Gegenstand ist sie? Welcher Gegenstand? 

Der strahlendste aller Gegenstände ... 

Dermaßen strahlend ...

Achtung!

Deutlich unterschieden? Nein, gerade nicht deutlich unterschieden. Vielmehr ununterschieden. Blendend. Sodaß sie sich nicht ins Gesicht schauen läßt. Sodaß sie es untersagt, sie zu betrachten. Sie stellt sich so an, daß man seinen Blick nicht auf ihr liegen lassen kann ...

Sodaß man sie nicht beobachten kann.

Aber was die Sache noch verwirrender macht, noch beunruhigender: blendend?

Dieser blendende Gegenstand, notwendige Bedingung aller Gegenstände der Welt. Nun, der geringste dieser Gegenstände – ein Fensterladen, ein Blatt oder ein Lid reicht aus, um ihn zu verdecken. Fast alle Gegenstände, die er geschaffen hat, sind opak, verhöhnen ihn, beschämen ihn, verdunkeln ihn ...

Der Schatten (und selbst die Nacht) sind Schöpfungen der Sonne (das ist nur allzu offensichtlich).

Also kann man sagen, daß sich jeder Gegenstand der Welt innerhalb der Welt, ja innerhalb der Sonne befindet – als eine Unvollkommenheit, ein Fleck, ein Geschwulst.

Die Sonne belebt also die Welt, aber zuerst hat sie sie dem Tod geweiht (die Welt ist krank); dann erschafft sie sie neu, belebt sie mit einer neuen Existenz, welche der Rekonvaleszenz und der Gesundheit ähnelt...

Der Gipfel der Selbstzufriedenheit, des berechtigten Stolzes, gleichzeitig gibt es da einen Minderwertigkeitskomplex, der sie dazu bringt zu kokettieren, sich begehren zu lassen (von ihrer Schöpfung), die Gegenstände nach ihrer Wiedererschaffung durch sie verlangen zu lassen. 

Wir drehen uns um einen Stern. Bei weitem nicht den größten, um einen kleinen Stern, dem wir ziemlich nahe sind.

Die Sonne belebt, was sie betrachtet, spielt mit ihm ein Psycho-Spiel, kokettiert mit ihm ...“ (398ff.)

 

„Meinung des Herrn X. über die Sonne ...

Daß man in der Natur die Sonne sehe, daß sie sich zeige, beweist schon ihren schlechten, ihren beleidigenden Geschmack.

Trotz meinem guten Willen ist es allzu offensichtlich, daß man die Sonne nicht beschreiben kann, auch nicht eigentlich definieren, außer mit einer Tautologie.

Kann man sie durch eine logische Formel ersetzen?

Hat die Sprache diese Macht?

Schauen wir!“ (412)

 

„Die Sonne, mit offener Hand, ist ein verschwenderischer, großzügiger Ahnherr.

Ein Sämann. Sämann? Ich würde eher etwas anderes sagen ...

Seine Handauflegung bewirkt überall ein Spannen: wölbt die Oberflächen, läßt die Schoten aufspringen, die Blütenblätter sich aufrichten, die Früchte anschwellen.

Sein bloßes Erscheinen, sein Anblick macht dunkel, führt zum Erröten. Oder macht blaß, schwach, ohnmächtig.

Mit seiner warmen Zärtlichkeit mißbraucht dieser Alte alle seine Nachkommen, beschleunigt er den Lauf ihres Lebens, exaltiert er und konsumiert und zerstört er physisch ihre Körper.

 

Er penetriert sie, entkleidet sie, treibt sie an sich zu entblößen, er bringt sie dazu, sich zu spannen, sich zu schwellen, aufzuspringen, sich zu ergießen, zu genießen, zu welken, zu vergehen und zu sterben.  

Die Gegenstände, sobald sie auftauchen, werfen aufeinander ihre Schatten. Sie werfen ihre Schatten die einen auf die andern. 

Ein jeder ist exaltiert, bestätigt, voller Stolz. Und fühlt eine Rechtfertigung. Mehr noch: er ist penetriert: er empfindet seine kalte Seite nicht mehr. 

Damit erfüllt er seine Pflicht: spannt und genießt, gießt. 

Dann spürt ein jeder, daß er Schatten wirft – und sein Zartgefühl beunruhigt sich darüber. Er merkt, daß er gewisse Dinge hinter sich verdunkelt, daß er sie in Verlegenheit bringt. Er möchte das vermeiden, kann es aber nicht. Seine Existenz verdammt andere Existenzen, sobald die Freude auf der Welt auftaucht und er daran teilhat. 

In der Freude: Hierarchie. 

Ein jedes Ding trägt ein Wappen von Weiß und Schwarz.

In der Traurigkeit, im Trüben (graues, bewölktes sonnenloses Wetter) bringt das Leben mehr Gleichheit mit sich.“ (438ff.)

 

„Was ist der Schatten?

Der Schatten hat immer eine Form, diejenige des Körpers, der ihn trägt.

Er ist der Ort der Traurigkeit, die von der einem Körper zusetzenden Freude ausgelöst wird. 

Er ist das (bewegliche) Gefängnis, der geoemetrische Ort der Bestrafung einer Raumzone durch eine andere (in Freude oder in Glorie).

Und er ist umso dunkler, je stärker (blendender) die Freude ist.  

Man kann ihn als Loch, als Abgrund (Repoussoir) betrachten, tatsächlich sieht man darin nichts.

Man kann ihn als Form (allerdings eine deformierte) des von der Freude getroffenen Gegenstands betrachten.

Man kann ihn als Bestrafungsort für gewisse andere Gegenstände betrachten ...“ (442)

 

„Die Sonne (zu beklagen).

Die Erfolge der Sonne sind konstant. Sie lassen sich gar nicht mehr zählen. Was mich reizt, von ihr zu sprechen oder ihr das Wort zu geben, ist gewiß nicht Mitleid (oder Sympathie) mit ihr.

Sie ist der unbestrittene Stern unserer Welt.

Der Star. Die Attraktion. Ihr Glorienschein kennt praktisch keine Verfinsterung.

Unnachgiebig ihre Selbstsucht, unnachgiebig eins mit sich selbst: sie stellt sich Tag für Tag von neuem aus. 

Niemand entgeht ihr auch nur für eine Minute. Wir sind in ihren Händen. 

Vater, Kuppler und Voyeur ... Geburtshelfer, Arzt und Mörder. Der seine Kinder schändet.

Du bist die einzige Person (oder Sache) auf der Welt, die nie das Wort ergreifen (oder haben) kann. Außer Frage, es dir zu gewähren. (Sonne, erlaube also meiner Feder, dir davon zu klagen.)“ (446ff.)

  

„ein

 

einziger 

 

Gott

 

Schrecken

 

eines 

 

einzigen  

 

Gottes                        

 

gegen 

 

jedwede

 

Religion

 

des

 

Einen             Gemeinsames Leben mit einem Stern ... Wir wachen jeden Morgen 

                  mit demselben Stern in unserm Bett auf. Im Sommer

gegen             geht sie vor unserem Erwachen im Haus umher. Das ist

                  unser Abenteuer, unser langweiliges.“ (462)

den


Monotheismus

 

Der Sonne, der nichts fehlt, fehlt eben deswegen die Sprache. 

  

„Die Struktur des Menschen ist spiralig.“ (498)

 

„Hier tritt eine zusätzliche Idee in Erscheinung, diese: daß nämlich die Sonne die obere linke Seite meiner Stirn trifft, folglich, da der Mensch spiralig strukturiert ist, die Bewegung meiner rechten Hand (die schreibt) auf diese Weise ausgelöst wird. Die Schrift wäre demnach nur die von der rechten Hand, angetrieben vom Gehirn (dem vordern linken Lobus), seinerseits durch schlagende Einwirkung der Sonnenstrahlen in Gang gesetzt, gelassene Spur. Der Körper (und Geist) würde also nur (diagonal) durchquert. Als wäre die Bewegung mechanisch. Auf gewisse Weise wäre dadurch die Graphologie gerechtfertigt (die Schreibweise als das Eigentümliche jeder Maschine). Der Mensch schriebe sich so der universellen Mechanik, dem Universaldeterminismus ein.“ (530)

  

„Ich werde hier eine Beschreibung der Sonne versuchen. Aber vor allem muß ich zuerst bemerken, daß dieser Gegenstand (er erscheint uns tatsächlich unter den anderen Gegenständen als ein deutlich unterschiedener Gegenstand) eine besondere Eigenschaft hat, nämlich daß er auf alle anderen Gegenstände einen beträchtlichen Einfluß hat - mehr als irgendein anderer. Das ist uns unmittelbar evident und scheint es immer gewesen zu sein und so viele Beobachtungen sind dazu gemacht worden, daß die Sonne nunmehr auf jeden Fall als Zentrum der Welt betrachtet wird und als Vater und Mutter all der anderen Gegenstände, die um sie kreisen, als die unumgängliche Bedingung aller übrigen Gegenstände. Ist dies gesetzt, versuchen wir sie zu beschreiben.“ (546)

 

Walter Seitter

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