τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Mittwoch, 25. August 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne III

Um 2010 herum machte in der Philosophie eine neue Richtung von sich reden, der es irgendwie nicht gelang, sich auf einen einheitlichen Namen zu einigen, was die Wucht ihres Durchbruchs eher minderte. Dabei hatten es ihre Protagonisten sehr wohl darauf abgesehen, mit großspurigen Namen das Interesse des Publikums zu erwecken. Das Ergebnis ist, daß sie nun mehrere Benennungen vorweisen kann, welche ihren Anspruch mit einer gewissen Breite und Unschärfe plakatieren – nämlich: Spekulativer Realismus, Objekt-Orientierte Ontologie, Dark Ecology, Transzendentaler Materialismus …

Die Richtung, die damit angegeben werden soll, ist tatsächlich eine sehr pauschale – nämlich eine Abwendung von der großen erkenntnistheoretischen Kehre der Moderne, die man die kantische oder die quasi-kopernikanische genannt hat. Eine Umkehrung zur Anerkennung von Phänomenen und Objekten, die unabhängig von einem Beobachter existieren und wirken. Also eine Umkehrung in einem objektivistischen, realistischen Sinn. Beinahe könnte man auch sagen in einem „altruistischen“ Sinn.

 

 

Dieser Neue Realismus hat sich in gleichmäßiger Distanz sowohl zur kontinentalen wie zur analytischen Philosophie profiliert; er kann sich aber kaum der Diagnose entziehen, daß er mit seiner Korrespondenz-Auffassung der Wahrheit der überwältigenden Mehrheit der vorkantischen Philosophen nahesteht – auch Aristoteles, für den diese objektivistische Position sozusagen selbstverständlich ist, auch wenn er sie gelegentlich gegen sophistische Behauptungen verteidigen muß.

 

 

Der Berliner Philosoph Samir Sellami hat in dem im Internet zugänglichen Aufsatz „Literatur als Kosmogonie. Francis Ponge und das zeitgenössische Interesse an der Ontologie“ die These vertreten, daß Francis Ponge, obgleich Dichter und nicht Philosoph, sich ziemlich genau in der Bahn dieser philosophischen Mode, die erst Jahre nach seinem Tod überhaupt aufgetreten ist, bewegt. Da Ponge zunächst als „Dichter der Dinge“ bekannt geworden ist, verwundert diese Zuschreibung kaum - aber die von Sellami durchgeführte Analyse ist geeignet, auf das Schaffen von Ponge einige Lichter zu werfen, die auch sein Sonnenwerk betreffen (obwohl ihm dieses in seiner Vollständigkeit nicht bekannt war).

 

Sellami analysiert einige Texte von Ponge, darunter auch solche, die keineswegs dingartige Phänomene zum Gegenstand haben, wie etwa den Regen, dessen räumlich-filigrane-kinetische Struktur eher mit dem Textgeschehen korreliert. Er suggeriert ein neomaterialistisches „Auch der Text ist Objekt, Materie, Ding.“ Bei der Besprechung der Auster geht der Dichter davon aus, daß man sie öffnen kann, wogegen sie sich allerdings zunächst hartnäckig wehrt – noch hartnäckiger hat sich meine Computer-Maus dagegen gewehrt, so wie ihre Vorfahren, etwa noch im Juni, von mir geöffnet zu werden. (Und diese Abwehr führte mich dann auch zur „Lösung“ meines Computerproblems. Gott sei Dank – denn wäre ich noch hartnäckiger gewesen, hätte ich diese neuartige Maus irreparabel zerstört.) Meine kleine Maus-Geschichte ist mit dem Austern-Gedicht von Ponge vergleichbar, obwohl sie nur Protokollliteratur darstellt. Ponges Dichten hat sich auf weite Strecken dem Protokollieren angenähert.

 

Durch die Konfrontation von Textwelt und Sprachwelt entsteht bei Ponge etwas Drittes, nämlich ein literarisches Werk, das zwar zu festen „Formeln“ gerinnt, welche jedoch ständig ersetzt oder vermehrt werden können, wie das vor allem beim Tisch und bei der Sonne exzessiv durchgeführt worden ist.

 

Da die Übersetzung des Tisches von mir angefertigt worden ist und ich damit halb gescheitert bin bzw. halb kapituliert habe, weiß ich, wovon ich spreche. Ich meine nicht nur – das ist unvermeidlich, daß man etwas meint. Ich mache etwas, folglich kann ich etwas – und ich mache vieles nicht, nicht-wollend oder nicht-könnend. Die Aufforderung, die Tisch-Sache zu vollenden, bedrängt mich immer noch – obwohl sie mir unmöglich scheint.

 

Mit der Sonne steht es anders, da ist die vollständige Sammlung der Notizen erst im Vorjahr, also ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Ponge, erschienen und da haben der Verlag und der Übersetzer in einem Kraftakt sondergleichen den Exzess des Werks, der jedem Ponge-Text innewohnt, durch die Sprachen-Verdoppelung noch gesteigert und so ein gelbes Ungetüm fabriziert, das über Ponge noch hinausgeht – typisch Sonne.

 

Einen ausführlichen Essay hat Ponge einem ganz anderen Ding oder vielmehr Unding gewidmet, das seit über hundert Jahren die energetische Allzuständigkeit der Sonne zu ersetzen, jedenfalls zu verdrängen scheint und sich eine andere Art von Allgegenwärtigkeit erobert hat und damit unseren gesamten Lebensstil umgewälzt hat: der Elektrizität. Den Einbruch dieses Leitungs-, Schalt- und Effizienzdispositivs habe ich selber analysieren können, weil es in meinem Leben von 1945 bis 1950 gefehlt hat. Solange es gefehlt hat, wurde es von denen, denen es gefehlt hat, „das Licht“ genannt.

 

„Licht“ nennt man immer noch das, was den Tag von der Nacht unterscheidet. Als sich die Nacht noch stärker vom Tag unterschieden hat (als heute), hat man der Nacht den Plural von Licht, nämlich die Lichter, zugeordnet. Inzwischen bevölkern die Lichter den 24-Stunden-Tag - man sehe nein man sieht sie ununterbrochen an Geräten aller Art, z. B. auf meiner Maus und auf meiner Tastatur links auf der Umschalttaste zum Dauergroßschreiben – etwa UBE (Unbewegtes Bewegendes).

 

Die verschiedenen Namen für den neuen Philosophischen Realismus könnten auch den Charakter der Ponge-Unternehmung bezeichnen. Ich selber habe im Nachwort zum Tisch von Poetischer Physik gesprochen, die ich von der Wissenschaftlichen und von der Philosophischen Physik unterscheide. Natürlich ist es auch interessant, zu erfahren, wie Ponge selber sein Unternehmen charakterisiert. Er tut es mehrfach.

 

 

*

 

 

In dieser deutsch-französischen Ausgabe sind die beiden Sprachen keineswegs gleich stark vertreten. Sofern das französischsprachige Werk von Ponge präsentiert und in Facsimilia und Transkriptionen dokumentiert wird, überwiegt das Französische bei weitem. Längst nicht alle Texte sind auch übersetzt – und zwar keineswegs aufgrund augenscheinlicher Unübersetzbarkeit (insofern muß mich die Unvollständigkeit meiner Tisch-Übersetzung nicht allzu sehr grämen). Der Kommentar ist in deutscher Sprache verfaßt und er schlägt viele Brücken zwischen den beiden Sprachen, aber manche Ponge-Perlen bleiben nur-französisch – man kann sie oft und oft anschauen.

 

Die Gesamtedition hat also zwei Autoren. Gegenüber den vielen Fragmenten, die von Ponge stammen, stellt sie ein „zweites“, ein anderes Buch dar, eigentlich das erste und einzige Buch. 

 

Das Wirken und die Wirksamkeit der Sonne wird als ein zweiseitiges Ja verstanden – das exklamatorische Ja der Sonne selbst und das akklamierende Ja ihrer Geschöpfe oder Untertanen. Allerdings ist diese Akklamation, die in Tempeln und Kulten stattgefunden hat, in unserer Kultur nicht mehr an der Tagesordnung.

 

„Was ist die Sonne als Objekt? Sie ist das glänzendste der Objekte der Welt. Ja! Dermaßen glänzend, wir haben es gesehen … Es braucht ein ganzes Orchester: die Trommeln, die Hörner, die Pfeifen, die Tuben. Und die Tamburine und das Schlagzeug. Und all das nur um eine einzige Silbe, einen einzigen Einsilber zu orchestrieren. Die Sonne kann durch keine logische Formel ersetzt werden - denn sie ist kein Objekt. Sie ist das Gegenteil von einem Objekt. Sie ist das Loch. Der metaphysische Abgrund.

 

Das glänzendste aller Objekt der Welt ist die notwendige Bedingung aller anderen Objekte. Die formelle und unverzichtbare Bedingung der ganzen Welt. Sogar die Bedingung für den Blick.

 

Und das ist ihre Grausamkeit, ja ihre Geschmacklosigkeit. Was uns sogar daran hindert, sie anzubeten.

 

Diese Bedingung für alle Objekte zeigt sich in der Welt. Sie hat die Stirn, sich darin zu zeigen, sie besteht darauf, sie erscheint da.

 

Und sie zeigt sich so, daß sie es untersagt, daß man sie anblickt, daß sie den Blick zurückstößt …

 

wahrhaft welcher Tyrann!

 

Nicht nur zwingt er uns zu existieren, zwingt er uns, ihn zu betrachten,

 

gleichzeitig hindert er uns daran , untersagt uns, ihn zu fixieren.

 

Er ist ein Tyrann und ein Künstler. Ein Feuerwerker, ein Schauspieler. Nero. Ahenobarbus.

 

Das ist, kurz gesagt, passiert.

 

Die Sonne, die nicht das Leben ist, die viel mehr ist als das Leben ,

 

die vielleicht der Tod ist, die zweifellos jenseits von Leben und Tod ist,

 

sie hat einige ihrer Teile von sich weggestoßen, hat sie verbannt und

 

auf eine gewisse Distanz weggeschickt, um sich von ihnen betrachten zu lassen.

 

Auf eine gewisse Distanz geschickt. Eine genau kalkulierte Distanz. Ausreichend, damit sie abkühlen. Ausreichend, damit sie genügend Abstand haben, um sie zu betrachten. Ungenügend um nicht ihrer Anziehung unterworfen zu sein und nicht aufhören dürfen, um sie herum ihren Betrachterdienst zu leisten.

 

So kühlen sie ab, denn sie hat sie dem Tod ausgeliefert, indem sie sie von sich abgesondert hat und zum Dienst ihrer Betrachtung ins Exil geschickt hat.

 

 

 

Aber bevor sie sie dem Tod ausgeliefert hat, hat sie sie, weit schlimmer noch, dieser Krankheit ausgeliefert, dieser lauen Wärme, die man das Leben nennt. So den Menschen seinen 37 Grad Celsius. Ach wieviel näher ist das Leben, diese laue Wärme, dem Tod als der Sonne mit ihren Milliarden Grad Celsius.

 

Dasselbe gilt für die Formen und Farben,

 

welche die jeweilige Verdammung eines jedes Wesens,

 

eines jeden von der Sonne exilierten Betrachters ausdrücken.

 

So sind die Körper und das Leben selber nichts anderes als eine Degradierung der Sonnenenergie mit dem Ziel ihrer Betrachtung und Vermissung und schließlich des Todes.

 

 

So ist die Sonne eine Geißel

 

- nicht wie die Dreschflegel,

 

die die Schalen zersprengen -

 

eine Geißel, eine sadistische Geißel

 

Eine Geißel und ein Arzt. Eine

 

Geißel, die ihre Opfer am Leben hält

 

und sich von ihnen begehren läßt.

 

 

So glänzend dieses Objekt auch ist – die geringste Wolke, die sie hervorbringt, verbirgt sie und weckt das Verlangen nach ihr. Und daran fehlt es nicht. Und so vollzieht sich die Hälfte des Lebens im Schatten und im Wunsch nach der Wärme und dem Licht, also nach der Zwangsarbeit des Blau.

 

Indessen birgt auch diese Geschichte eine Lehre für uns. Durch den Eigensinn und die sadistische Koketterie der Sonne in die Nacht getaucht sehen die dafür bestimmten Objekte plötzlich den Himmel. Die Sonne mußte sie von sich entfernen, damit sie sie betrachten können. Auf einmal sehen sie jedoch Myriaden von Sternen, von anderen Sonnen.

 

Und es hat nicht lang gedauert, bis sie sie zählen und bis sie ihre eigene Sonne nur mehr unter den anderen zählen und nicht mehr als die wichtigste von ihnen. Die nächste und die tyrannischste gewiß. Aber doch nur mehr als eine der Sonnen.

 

Und ich sage nicht, daß eine solche Betrachtungsweise sie beruhigt – aber sie rächt sie.

 

Solchermaßen ins Unerhörte der Nächte gestoßen, in die Unordnung, in die absurde Unordnung und in den schlechten Geschmack der Welt

 

zählt der Mensch immerhin die Sonnen.

 

Schließlich behauptet sich sein Überdruß und er hört sogar auf zu zählen.“ (242ff.)

 

 

In diesem Text geht Ponge von der Bewunderung der Sonne zu einer anderen Einstellung über: aus der Konstellation Erde-Sonne erschließt er ein Abhängigkeitsverhältnis, in dem der Sonne quasi-menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Sie habe die Erde und ihre Bewohner einerseits ausgestoßen und zu ihren Betrachtern herabgewürdigt, auf lange Sicht sie aber dem Kältetod ausgeliefert – woran auch die lächerlichen 37 Grad Celsius Lebenstemperatur nichts ändern würden. Immerhin wird damit der schmale Temperaturkorridor angedeutet, in den wir eingesperrt sind.

 

Der Text nimmt zwar eine Wendung ins Pessimistische, trotzdem erinnert er an die erotisch-kinetische Fassung des Verhältnisses zwischen Unbewegt-Bewegendem und Beweglich-Bewegten in der aristotelischen Metaphysik – obwohl Ponge bekanntermaßen weder mit Aristoteles noch mit Metaphysik etwas zu tun haben wollte. Aber diese antikische Denkweise setzt sich auch bei ihm durch.

 

Die folgenden Notizen kehren allmählich zum Sonnenlob zurück, nennen die Sonne einen freigebigen Greis, ja einen geilen Greis, dessen Hände alles, was sie betasten, zum Leben erwecken, in sexuelle Erregung versetzen, zur Fortpflanzung antreiben, dann aber verkommmen, verwelken und sterben lassen. Die perversen Zärtlichkeiten – denn der allmächtige Greis macht sich an seinen Nachkommen zu schaffen – treiben Mißbrauch mit allem, was am Leben ist. Alle Lebenden treiben, weil die Sonne scheint, Mißbrauch an- und miteinander, Mißbrauch (in der Lust) zum Tode. Das Erscheinen der Sonne legt Schatten über die Dinge. Ein jedes Ding trägt am Schatten, den es wirft und über andere legt. Die Wahrnehmung des Schattens an ihm zeichnet jedes Ding zum zweiseitigen, zwiespältigen aus. (286)

 

Ponge bemüht die Heraldik, um dieses Zwie- zu bemühen: Jedes Ding ist halb weiß, silberfarben, und halb schwarz, zobelfarben. Was diesen Zwiespalt zwischen Licht und Schatten halbwegs erträglich macht, ist seine Wandelbarkeit. Was Schatten wirft, ist gegen Schatten, den andere werfen, nicht gefeit. (287)

 

 

„Die Sonne

 

 

 

Tag für Tag, über alle Gipfel der Welt,

 

steigt eine hoch aufgerichtete Blume

 

deren Glanz

 

ihre Pracht tilgt ihren Stiel,

 

der kletternd zwischen den beiden Augen

 

der zu engen Natur,

 

um ihre Stirn auseinander zu reißen,

 

in unsere Herzen eingewurzelt ist.“ (290)


 

Was Ponges Zeichnung (291) vor Augen legt, ist eine X-Strahlen-Skizze oder Röntgenaufnahme: Radiographie. Denn vom Stiel der Sonnen-Blume heißt es, daß deren Überhelle seinen Anblick verwehrt. Erst ein vom Glanz der Sonne ungetrübter Blick nähme die Sonne als Blume, die in unseren Herzen wurzelt, wahr und nähme wahr, daß der erigierte eklipsierte Stiel einen Riß durchs Antlitz der Natur legt. Die Zeichnung legt ein Weltbild vor Augen, das sowohl vom heliozentrischen wie vom kopernikanischen abweicht. (357)

 

Durch dieses korrespondierende Gefüge aus Naturanschauung und sprachlicher Natur im Zeichen der Sonne - heliozentrischer Phänomenologie – legt das Radiogramm mit der emporgereckten Blüte seinen Riss.

 

Walter Seitter

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen