τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 18. August 2021

In der Metaphysik lesen * Ponge – Sonne II

Da es bei diesen heliographischen Exkursen zu Ponge und Sonne um Poesie geht, füge ich nun sozusagen in Klammern einen Extrabericht von einer Erfahrung ein, die sich wie ein sprunghaftes Ansteigen von Können ausnahm.

 

Nach einer einwöchigen Abwesenheit fand ich meinen - nur wenige Wochen alten – Computer gänzlich unbeweglich und unbrauchbar vor. Mehrere angerufene Computer- und Apple-Kenner konnten meine Blockade weder erklären noch irgendwie mir heraushelfen. Ich beschloss, am nächsten Montag zur Apple-Zentrale in der Kärntnerstraße zu gehen, wo ich dieses allzu avantgardistische Gerät gekauft hatte, um dort eine Lösung zu finden.

 

Den ganzen Sonntag ging ich immer wieder zum Computer, versuchte einzuschalten und auszuschalten, versuchte, die anscheinend irgendwie neuartige Maus zu öffnen und an ihr herumzudrücken - wie man es wohl mit einem unentbehrlichen aber widerspenstigen Haustier oder dergleichen macht. Kein Ergebnis. 

 

Damit war mir natürlich auch die Möglichkeit genommen, dieses Protokoll zu schreiben, in dem ich die Aristotelographie mit einer bestimmten Heliographie, einem Nachschreiben der Heliopoesie von Ponge unterbrechen, aufschieben, vielleicht ergänzen will. 

 

Das Aristoteles-Lesen ist zwar nur ein Lesen, aber damit auch eine Aktivität, zu deren Zustandekommen eine Reihe von diversen Möglichkeiten, Vermögen, Fähigkeiten, Kräften, womöglich auch außerordentlichen Kräften oder unwahrscheinlichen Zufällen notwendig sind. 

 

Anstatt mich allzu selbstquälerisch in meine unbotmäßigen Haustiere zu verbeißen, griff ich zu einem sehr kleinen und unscheinbaren Ausstellungskatalog des MAK, den mir Sebastian Hackenschmidt kürzlich geschenkt hatte und der Fotografien – auch sie sind Graphien! – von Evi Quaid enthält, der amerikanischen Foto-, Film- und Aktionskünstlerin, die ebenfalls zu dem gehört, was ich in Analogie zum Ernst Kantorowicz Kreis als Helmut Newton Kreis bezeichne.[1]   

 

Den Fotografien ist ein Gespräch beigegeben, das Evi Quaid mit Weston Naef, Kurator am Getty Museum in Kalifornien, geführt hat. 

 

Weston Naef meint zur Zusammenarbeit zwischen Helmut Newton und Eva Quaid, daß sie als Modell ein bestimmmender Faktor gewesen sei. Und er zitiert Kant: eine Genie sei im Wesentlichen ein Mensch, der imstande ist, vollkommen zu verstehen, wie die Natur der Kunst die Regel gibt. Er fragt Evi Quaid, ob sie ihre eigene Weiblichkeit als Natur in so einem Sinn verstehe, als machtvolle Naturkraft. Evi Quaid hat bestätigt, daß sie dabei den Teil ihres Körpers im Auge hat, durch den das Leben aus- und eingeht. Auf den komme es an und den hat sie auch in ihrer bildnerischen Produktion aktiv vorgestreckt, vorgerückt . . .

 

Diese Sätze und die dazugehörigen autofotografischen Aktionen, die mit meinem Computer-Problem nur anscheinend nichts zu tun haben, gaben mir plötzlich die Fähigkeit, die drei Körperteile des Computers neu zu sehen und neu anzugreifen. Ich trennte sie voneinander und steckte sie neu zusammen und das Problem war gelöst und ich auf einmal ein Technik-Genie! Denn mein Computer und vor allem die extrem futurische, weithin unbekannte Maus, weisen mit der „Natur“, wie sie von Evi Quaid präsentiert und auch hartnäckig um nicht zu sagen penetrant definiert worden ist, strukturelle Homologien auf, die offensichtlich sind – aber erst wenn sie aktiv „vollzogen“ werden.

 

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„Die Nacht ist nicht nur ein optisches Abenteuer“ – unter diesem Titel reflektiert Ponge auf die Tatsache, daß die Betrachtung der Sterne, gewissermaßen die Urszene menschlicher Kontemplation, eine Verhaltensmodifikation der irdischen Wesen, eine bestimmte „Aktionseinheit“ zur Voraussetzung hat: daß sie nämlich darauf verzichten, sich laut und deutlich auszusprechen, sich mit ihren Umrissen und Farben zu profilieren und so ihre Existenz auf Distanz kundzutun. Das heißt aber nicht, daß sie aufhören zu sein und dazusein. Sie modifizieren ihr Verhalten und machen so die Wahrnehmung der „großen Zeichen am Himmel“ möglich. Die allerdings sind nicht nur unbeweglich sondern bieten auch ein „Schauspiel unerhörter, unverschämter Unordnung.“(78ff.)

 

„Meer … stürmische See, von der dunklen Kammer aus gehört“ scheint aus dem Rahmen zu fallen, verzeichnet jedoch eine besonders banale Erfahrung der Nacht, die nur aus Geräuschen, regelmäßig anrollendem Gedonner besteht, zu dem der Schlafende oder Schlafenmöchtende visuelle Vorstellungen hinzufügen muß, egal ob er sich je dem „Anblick“ des nächtlichen Meeres ausgesetzt hat. (93ff.)

 

 

„Der Prozess der Morgenröten

 

Während der Tag sich rottet an den grauen Ufern der Levante, ergreift die schwarze Bache mit ihren Frischlingen die Flucht. Die Sternbilder erblassen und zerstreuen sich. Die Diener des Tages rücken geordnet vor, rollen mit dem Fuß über Ebenen und Berge einen Teppich aus, in den Farben der Gegenden und Jahreszeit. Zwischen den Rängen der Zuschauer, Lebewesen und Dinge, hin- und hergehend, nehmen sie ihnen die dunklen Mäntel ab, entfernen die Schoner und machen, eines nach dem andern, alle Zimmer der Natur.

 

Das ist die kurze und gute Zwischenzeit – Epoche -, um zu sprechen. Zugleich mit den Dingen vor Augen kommt das Wort in den Sinn, und nichts erscheint noch anders als im Vergleich mit dem grenzenlosen Universum, das die Kontemplation der Nacht darbot.

 

usw.“ (140)

 

Diese Eintragung stammt aus dem Jahr 1953, also aus der Nachkriegszeit, die ich bereits als Schüler, Latein- und Griechischschüler, erlebt habe. Ponge scheint die damalige Zeit ebenfalls als die „alte“ Zeit erlebt zu haben, in der die Nacht vom Tag noch streng geschieden war, der 24-Stunden-Tag für die meisten Leute noch keine gelebte Realität war und die nächtliche Nacht noch nicht unter Natur- (oder Denkmal- ?)schutz gestellt werden mußte.[2]

 

Auf den Seiten 148ff. zwei Seiten Text, die von Armand Ponge, dem Vater des Dichters (1870- 1923), im Jahr 1922 über dessen erste Gedichte Der Tag und die Nacht verfaßt worden sind. Er sieht in jenen eine neue Kunstform, welche von der neuen Wissenschaft, der Semantik, angeregt worden sein soll. Dabei hat er wohl die Wissenschaftsbewegung im Auge, die seit der vorletzten Jahrhundertwende im Gang ist und um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Bezeichnung linguistic turn bekam. Die neue Poesie verbinde die präzise Sprache der Wissenschaft mit den emotionalen Ausdrucksformen, welche die Menschen von ihren animalischen Vorläufern übernommen haben. Das künstlerische Denken bringe separate Wesen, die zu natürlicher Vereinigung unfähig sind, zusammen und erzeuge so mit unbelebten Stoffen die Illusion des Lebens. Die Dichtung nähere sich der Prosa an. Die alten Werke würden wieder verständlich, indem man den Worten ihre Bedeutungsvielfalt zurückgebe – auch indem man mit ihnen ernst spielt (wie oben mit der Tyrannei der Sonne). 

 

 

 

Das Schlagen der Sonne, wie Münzen geschlagen werden – ihnen ein Gesicht, eine Sonne, eine Ziffer einzuprägen-, wird als Aufgabe und Forderung entworfen. Doch durch den Vergleich von Sonne und Münze gehen Risse. Die Sonne ist nicht nur, wie Münzen, einer unter anderen glänzenden Gegenständen, sondern sie ist (vor allem) keiner: unumgängliche Bedingung für das Glänzen, Zum-Vorschein-kommen aller Gegenstände, ja Bedingung der Existenz aller belebten; und nicht nur Licht, auch Wärme geht von ihr aus: mit einem Wort das Leben. (202)

 

Die Sonne will, daß ihre Schöpfung die Sonne will. Die Selbstzufriedenheit der Sonne ist, sosehr sie legitim und rechtens heißt, kein Faktum, sondern Ziel eines Begehrens, das die Sonne in jedem ihrer Geschöpfe zu wecken begehrt: das Überleben der Sonne (im Glanz des Widerscheins ihrer Bewunderer) hängt nicht nur von der Wiederbelebung dessen, was von ihr abhängt, ab, sondern davon, in jedem der belebten Dinge das Begehren ihrer Wiederbelebung, Tag für Tag, durch die Sonne zu wecken. Die Sonne, unter diesem Winkel wahrgenommen, kämpft gegen das Erlöschen des Begehrens, die Sonne selbst wiederkehren und am und als Ursprung aller Dinge wiederbelebt zu sehen. (206)

 

Die Sonne heißt Tyrann und Künstler: Sie ist Nero. Geißel und Arzt. Ihr Untergang eine Inszenierung, ihr Tod Theatertod, der die Sehnsucht nach ihrer Wiederauferstehung wecken soll, um ihren Untergang sowohl zu fürchten wie herbeizusehnen. (206)

 

Die Ablösung der Überschrift DAS SONNENRÄTSEL durch eine andre: DAS SONNENSIMULAKRUM. Die eine Sonne sieht andern Sonnen - und also auch sich selbst – nur ähnlich. Die eine Sonne – alles andere als eine, ein und dieselbe, geht aus der Fassung zum Zentralgestirn. (207) 

 

Walter Seitter

 

 

 




[1] EVI UNTITLED. Photographs by Evi. With contributions by Helmut Newton, Peter Noever, Ed Ruscha and an interview by Weston Naef (Wien 2004). Eine ausführliche Eviographie soll andernorts erscheinen.

[2] Siehe Thomas Posch und Walter Seitter: Nacht und Kampf gegen die Nacht aus kulturhistorischer Perspektive, in Th. Posch u. a. (Hg.): Das Ende der Nacht. Lichtsmog: Gefahren – Perspektiven – Lösungen (2. erweiterte Auflage, Weinheim 2013)

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