τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 8. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen (1092a 29 - 1092b 27)

8. Dezember 2023

 

In diesem Jahr ist ein Buch, das Michel Foucault im Jahr 1966 geschrieben hat, zum ersten Mal publiziert worden und seine Existenz ist überhaupt zum ersten Mal bekannt geworden: Le discours philosophique (Paris 2023).

 

Er hat im Jahr 1966 das fertige Manuskript schlicht und einfach in eine Schublade gesteckt und niemandem etwas davon verraten. Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 dürfte nur er davon gewußt haben.

 

Erst mit der Bearbeitung des Nachlasses ist jetzt das Buch Der philosophische Diskurs ans Licht der Welt gekommen.

 

Inhaltlich gesehen ist es das erste der bisher bekannten Bücher Foucaults, das explizit die Philosophie - als Tätigkeitsform - artikuliert.

 

Nach dieser kleinen Sonderoperation ist er wieder zu seiner geläufigen Themenlinie zurückgekehrt: zu den Humanwissenschaften der europäischen Neuzeit mitsamt den zugrundeliegenden oder folgerichtigen Humantechniken der Moderne. Deren Problematik hat ihn Ende der Siebzigerjahre thematisch um zweitausend Jahre zurückgeworfen: in die klassische und späte und frühchristliche Antike, wo er ansatzweise Antworten auf seine ethischen Fragestellungen fand.

 

Eine gewisse und sehr weit entfernte Parallele zu unserer Metaphysik-Lektüre könnte man darin sehen, daß auch der aristotelischen Metaphysik eine lange Latenzperiode beschieden war, die vom Tod des Aristoteles bis zur zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor Christus gedauert hat - also drei Jahrhunderte. Wo und wie in dieser Zeit die aristotelischen Manuskripte oder dergleichen existiert haben, scheint unbekannt zu sein. Es scheint aber festzustehen, daß Andronikos von Rhodos, dessen Lebensdaten ungewiss sind, die Zusammenstellung und Edition der uns heute bekannten Schriften des Aristoteles besorgt hat.

 

Legenden wie diejenigen, daß da „die Araber“ schon tätig gewesen seien, sind auszuscheiden.

 

Zur Frage, was in der langen Zwischenzeit vom vierten bis zum ersten Jahrhundert ausschlaggebend dafür gewesen sein könnte, daß die Vorlesungen, die der ja bekannt gebliebene Aristoteles zu Lebzeiten gehalten hatte, so spät in Buchform gebracht worden sind, liefert Foucault ausgerechnet in besagtem „neuem“ Buch, einen Hinweis. 

 

Er spricht davon, daß es nach dem Aufbruch der griechischen Kultur seit dem 8. Jahrhundert eine „zweite Mutation“ in der Organisation des Wissens gegeben habe, die eng mit der Anfang des 3. Jahrhunderts errichteten Bibliothek von Alexandria zusammenhänge, wo „sich nicht die griechische Diskurs- und Archivmodalität“ behauptet habe, vielmehr sei mit der Konfrontation der griechischen, ägyptischen, hebräischen, bald auch römischen Kultur ein neuer Diskurs- und Archivtyp entstanden.“ (231). Das Neue liege darin, daß verschiedene Sprachen, Texte, Schriften, Manuskripte, Notierung- und Registrierungssysteme versammelt, verglichen, abgeschrieben und übersetzt worden seien; es wurden Massen von Diskursen wie globale Kulturtatsachen mobilisiert und reorganisiert; man könne das „Synkretismus“ nennen - es handelt sich um eine Organisationsform, die für das Abendland hinfort maßgeblich sein wird und - bekanntlich - auch ganz neue Techniken hervorrufen wird.

 

Sowohl die spätantike Aristoteles-Ausgabe wie auch die gesamte nachfolgende Lawine von Kommentaren, Übersetzungen und so weiter gehören dazu. Zum Beispiel der hauptsächlich kosmologische Synkretismus des Hermann von Kärnten, für den Aristoteles nur eine ferne Autorität gewesen ist, in Bezug auf die Grundbegriffe aber eine wichtige.

 

 

Unsere hiesige Aristoteles-Lektüre steht unvermeidlicherweise auch in dieser alexandrinischen Tradition. Da wir eine philosophische, das heißt auch sachbezogene Lektüre anstreben, wäre es sinnvoll gewesen, die Metaphysik-Lektüre durch eine partielle, darauf zugeschnittene Physik-Lektüre zu untermauern und zu ergänzen.

 

Mit der Vorschaltung der Poetik ist eine ganz anders ausgerichtete Wissenschaft und auch Artikulierungsweise dazugenommen worden.

 

Insgesamt eine andere Lesekonstellation, die ich damit ausgebaut habe, daß ich von 2021 bis 2023 zwei andere Parallellektüren vorgenommen und protokolliert habe.

 

 

Michel Serres: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce (Paris 1978)

 

Francis Ponge: Le soleil/Die Sonne (Berlin 2020)

 

 

Das erstgenannte Buch liefert eine philosophisch ambitionierte Physikgeschichte, welche eine in der Antike parallel zur aristotelischen Physik ausgearbeitete, nämlich die epikureisch-atomistische Physik in der Form des Poems De rerum natura, vorstellt. Die Konstellierung zweier unterschiedlicher Physiken wirft natürlich die Frage nach der Wahl, nach der Entscheidung zwischen wissenschaftlichen Paradigmen auf. Michel Serres überkreuzt diese Frage mit der andersgearteten Frage nach der Wahl zwischen ethischen, politischen Ausrichtungen innerhalb der Physik. Denn auch die theoretischen Wissenschaften sind Praktiken. 

 

Das zweitgenannte Buch stellt ein lang auseinander gezogenes Poem dar, dessen Hauptobjekt, die Sonne, sehr geeignet ist, uns einzuleuchten, aber auch Fragen zu stellen.

 

Dazu kam dann noch die Lektüre der mittelalterlichen Kosmologie De essentiis von Hermann von Kärnten.

 

Die Ordnung der Lektüren von 2007 bis 2024 kann also mit dieser winzigen, dennoch „alexandrinischen“ Autorenliste namhaft gemacht werden:

 

 

Aristoteles    Lukrez       Hermann    Ponge       Serres

 

Protokollschreiber:  

 

Seitter       Bruckschwaiger

 

 

*

 

 

In der Erörterung der Frage, welche Seinsweisen den Zahlen zugeschrieben werden könne und welche Entstehungen mit ihnen zu verbinden seien, setzt Aristoteles Begriffe wie „Prinzip“, „Element“, „Mischung“, „Zusammensetzung“, „Lage“ ein.

 

Und „aus etwas sein“. Dieser Begriff - er sieht nicht aus wie ein ordentlicher Begriff - ist schon im Buch V, dem sogenannten Begriffslexikon der Metaphysik, besprochen worden:

 

aus einem Material sein - zu allererst aus Schmelzbarem; von einem Vorgang angeregt worden sein; teilweise auch von Vater und Mutter abstammen; aus der Erde hervorgegangen sein; sagt man: die Nacht entsteht aus dem Tag, so bedeutet das nur: nach dem Tag.

 

Hier hingegen nur eine Distinktion: aus etwas sein, das in ihm enthalten ist - oder nicht.

 

Davon ausgehend die Frage, wie die Zahl aus etwas sein kann. Wie aus einem Samen, aus einem Unzerlegbaren, aus einem Element wie aus einem Gegenteil - einem erhalten bleibenden oder aus einem zugrundegehenden? Solche Fragen werden weitergespielt, ohne daß man zu einer Schlussfolgerung kommt.

 

Dann die umgekehrte Fragestellung: wie die Zahlen Ursachen der Wesen und des Seins sind - eher wie die Grenzen oder eher wie die von dem Pythagoreer Eurytos jedem Wesen zugeordneten Zahlen?

 

Und eingeschoben eine winzige Bemerkung in Frageform: „Wie aber sollen die Empfindungen Zahlen sein: das Weiße, das Süße und das Warme?“ (1092b 16)

 

Die drei Eigenschaften zeigen, was mit den Empfindungen gemeint ist: wahrnehmbare Eigenschaften von Körpern. Nur Akzidenzien. Akzidenzien von Wesen, die Körper sind, vergängliche, veränderbare und wahrnehmbare. Auch ihre Wahrnehmbarkeit ist vergänglich und veränderbar. Und die Wissenschaft von all dem ist die Physik. Die aristotelische und wohl nicht nur die aristotelische. Die Physik ist eine Naturwissenschaft, deren Reichweite auch ein bißchen über die Natur hinausgeht, weil die kulturellen Produktionen sich an die Natur anlehnen. Beispiele: ein weißes Blatt Papier, ein süßer Kaffee, eine warme Heizung. 

 

Dieser schlichte Fragesatz tut nichts Geringeres als den Duktus dieser beiden Bücher XIII und XIV, der ungeschickt, hin und her schwankend, langweilig und kaum lesbar ist, resümieren.

 

Diese beiden Bücher, über die man sich fragen kann, warum sie da nach der Theologie von Buch XII, angehängt sind - ich weiß auch nicht warum.

 

Aber als aktiver Aristoteles-Leser (den er einen denkenden) nennen würde, sage ich: hier liegt eine Apologie der Physik vor, eine Apologie, die die Wissenschaft von den Körpern, von den gewöhnlichen und den weniger gewöhnlichen, verteidigt. In diesem Fall gegen eine Art Metamathematik, die die Körper wegreden möchte und sie durch etwas angeblich Besseres, Reineres, Höheres erklären, ersetzen will.

 

So eine Apologie könnte auch unter das antike Motto sozein ta phainomena - die Erscheinungen retten! gestellt werden. Hier ist sie so ungeschickt formuliert, daß es einen aktiven Leser braucht, der sie ins Deutsche übersetzt.

 

Aristoteles weist jede enge Verbindung von bestimmten Zahlen mit Wesensbestimmungen zurück - sie verhalten sich zueinander wie Stoff und Form. In den Proportionen verlieren die Zahlen ihren bloßen Zahlencharakter - es gehe um Proportionen von Körpern oder dergleichen.

 

 

Aristoteles insistiert darauf, daß man die Physik nicht auf Mathematik reduzieren kann. Soweit die Hauptstoßrichtung seiner Zahlenerörterungen - mit der er auch in der von Michel Serres berührten Diskussion eine bestimmte Position einnimmt. 

 

Die Zahl kann keine der vier Ursachen sein: weder Wirkursache (hier genauer Urheber durch „gemacht haben“ - wie „derjenige, der es getan hat“ !) noch Stoff noch Begriff und Form der Dinge. Und auch nicht - oder erst recht nicht! - als Weswegen.

 

Mit dieser strikt negierten formalistisch-syntaktischen Ursachangabe leitet Aristoteles über zu einer Aporienvermutung - die ein „gut“ (ein adverbiales!) doch wieder ins Gestrüpp von Zahlenspekulationen wirft.

 

Man könnte allerdings unschlüssig sein, was das „gut“ eigentlich sei, das von den Zahlen dadurch herauskommen soll, daß die Mischung in einer Zahl stattfinde, entweder in einer gut proportionierten oder in einer ungeraden . . . 

 

 

Walter Seitter

Montag, 4. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen * Hermann – Lektüre 35 (79vF - 80rC) Seite 232, Z 20 bis Seite 234, Z 18 bei Burnett.

Mittwoch, den 22. November 2023

Hermann setzt als Schlusspunkt die Erschaffung der Fortpflanzung, die den Schöpfer vor einem unendlichen Schöpfungsprozess bewahren soll. Damit nicht jedes Individuum wegen seiner Vergänglichkeit jedes mal neu geschaffen werden muss, fügt der Schöpfer ein zweites Geschlecht hinzu, das sich in Materie und Form nicht von einander unterscheidet, sondern nur nach Aktivität und Passivität, damit das Ziel der Fortpflanzung und Selbsterhaltung als zweite Ursache der Zeugung erreicht werden kann. Damit ist mit der Unterscheidung der Handlungsmuster schon ausreichend Notwendigkeit für ein zweites Geschlecht gegeben. Um das Ergebnis der Fortpflanzung zu erreichen, werden die Geschlechter durch das Gefühl der Zuneigung und ein gemeinsames Ziel vom Schöpfer unterstützt. Aber warum tatsächlich ein zweites Geschlecht erforderlich ist, dazu sagt Hermann nur, dass aus einem Elternteil nichts gezeugt werden kann.
Hermann zieht es vor die wundervolle Ordnung der Natur zu beschreiben, die die Bewegung der sekundären Ursache, die zur Verpaarung dieser beiden Geschlechter führt, hervorbringt. Diese Ordnung der Natur beginnt bereits am Zeitpunkt der Paarung und ist stark mit den Wirkungen der Planeten verwoben. Die Planeten wirken beim Ungeborenen in der umgekehrten Reihe wie nach der Geburt.
Erst legt Saturn den Samen fest und Jupiter ernährt ihn mit guter Verdauung, Mars festigt ihn und die Sonne bringt die Form hinein, die Venus entfernt die unnötigen Überbleibsel am Embryo, Merkur hält die Austreibung des Embryo solange zurück, bis Lucina eintrifft, die die Geburt vollendet. Etwas erstaunlich, dass hier eine altrömische Göttin der Geburtshilfe auftaucht, die das Neugeborene aufnimmt und beschützt, solange der Einfluss des Mondes auf die Ernährung anhält. Die Materie des Mondes fließt solange durch das Kind, bis die Sinne erwachen und die Wege der Seele eröffnet werden. Dann tritt wieder Merkur auf mit der ersten Erziehung zur Vernunft (rationabilem institutionem) und bringt das Kind zur Adoleszenz der Venus. Wenn sich die ersten Stürme der leichtfertigen Wollust gelegt haben, vollendet Apollon die Jugend, bei Hermann wird er Phöbus genannt und tritt als griechischer Gott zwischen den Planeten auf. Phöbus führt den Jugendlichen bis er in das Stadium der Tugenden des Mars eintritt. Wenn der männliche Geist gestärkt ist, übernimmt Jupiter mit seiner Autorität. Das Alter steht wieder im Zeichen des Saturn, der den Kreislauf der Natur vollendet.
Nachdem die Materie zu dem zurückgekehrt ist, woher sie stammt, bleibt das darüber hinaus (ultra) übrig, das diesen Gesetzen des Kreislaufes nicht unterliegt, sondern sich auf einem pythagoräischen Scheideweg (Pitagorici bivii) entlang bewegt. Burnett übersetzt hier mit Pythagorean Y. Also das „Darüber hinaus“, wenn es verloren und abirrend ist, steigt ab zum endgültigen Nichts, es fällt nicht das Wort Seele oder Hölle. Oder es verbleibt im Kreislauf der Natur und steigt auf zur höchsten Krone des Triumphs (ad summam triumphi coronam), das ist die Festung des Ursprungs, der Sitz des Vaters. Dort erfreuen sich die Seligen eines ewigen Lebens in der Glorie des höchsten Königs und dessen Ehre, Macht und Herrlichkeit.

Mit dieser Lobpreisung beendet Hermann das Buch über die Essenzen im Jahre des Herrn 1243 in Beziers (Biternis).

Karl Bruckschwaiger

Nächster Termin: 6. Dezember 2023
Aristoteles lesen, Buch XIV

Samstag, 2. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen (1092a 18 - 1092b 29)

30. November 2023

 

Im letzten Protokoll habe ich die Vermutung geäußert, daß die zuletzt gelesenen Aussagen in 1091b 15ff. sich auf dasselbe „Prinzip“ beziehen wie die Aussagen in Buch XII (1072b 14ff.). Wenn das stimmt, würden diese Passagen zusammengenommen nicht nur eine recht klare Definition des „ersten Prinzips“ liefern sondern sogar eine reiche und dichte Beschreibung desselben - eine „Theographie“. 

 

Damit, daß Aristoteles dieses Prinzip auch mit dem religiösen Wort „Gott“ benennt, muß man sich abfinden, auch wenn man mit dem Wort Schwierigkeiten hat.

 

Dazu kommt die überraschende Tatsache, daß auf dem Handy das von mir eingefügte Foto (zur eigentlich unmöglichen Illustrierung des Prinzips) nicht erschienen ist sondern nur durch eine Leerstelle anstelle des Fotos nicht-markiert ist. Sophia Panteliadou vermutet dazu, die Computertechnik - KI ? - habe da als Zensurinstanz eingegriffen. Eine Vermutung, die dem Sujet des Fotos recht nahekommt, denn es zeigt ein Schattenbild einer fragmentarischen Körperkontur und es stammt aus der selben Motivreihe wie schon einige früher eingeschaltete Fotografien.

 

Der Ausfall des eigentlich ohnehin unmöglichen Bildes bestätigt die Eigenart dieses Bildes und rückt es in die Nähe des sogenannten „Realen“ im Sinne von Jacques Lacan, welches wiederum am vorletzten Montag im Vortrag von Claude Duprat (Paris) thematisiert worden ist, der es in einen Zusammenhang mit „einem Neuen Signifikanten“ gerückt hat, das heißt mit diversen konkreten Zeichen, denen allerdings kein Sinn entspricht. Zu diesen konkreten Zeichen werden auch die Kalligramme der chinesischen Poesie gezählt, die immer visuell sind. Insofern könnte da auch „mein“ Foto so ein Signifikant sein - ein unmöglicher aber wirklicher.

 

Jacques Lacan hat übrigens den gesamten Roman Ulysses von James Joyce einem solchen „neuen Signifikanten“ angenähert . Und seine Äußerungen zur aristotelischen Metaphysik, wohlgemerkt zu dem Buch Metaphysik, das ich jetzt seit dem Jänner 2011 hartnäckig lese, und die ich in meinem Aristoteles-Buch zitiere, sie stammen vom 15. Dezember 1971, gehen in eine ähnliche Richtung. Er empfiehlt die Lektüre der Metaphysik, betont aber, daß sie - die Lektüre - nicht leicht ist, weil sie - die Metaphysik - ziemlich verrückt ist.[1]

 

 

Ich aber empfehle die Lektüre meines Aristoteles-Buches, das aus den Mittwoch-Protokollen der Jahre 2011 bis 2018 zusammengesetzt ist und somit eine Aristotelographie neuer Machart darstellt.

 

Was nun meine konkrete Frage betrifft, ob die beiden genannten Passagen in Buch XII und in Buch XIV sich auf dasselbe Objekt, nämlich Prinzip beziehen, so setzt sie voraus, daß es einen Fragesteller bzw. Leser gibt, der beim Lesen im Buch XIV sein eigenes Lesen im Buch XII noch nicht vergessen hat sondern sich zurückerinnert - also die beiden Stellen zusammenliest, zusammenschaut, zusammenversteht. Dieses Zusammenlesen unterstütze ich durch die Anfertigung der Protokolle und bis zum Buch VI sind die Protokolle schon im Buch erschienen, im eben genannten.

Warum hat Aristoteles die beiden Stellen nicht selber aufeinander bezogen und gesagt - "wie ich neulich schon ausgeführt habe" oder so ähnlich? 

Vielleicht weil er den Text nicht wirklich zu Ende redigiert hat, weshalb wir ihn - vermutend, fragend - zu Ende lesen sollten, ich meine: müssen. Natürlich nur, wenn wir wollen und können. Wenn nicht, dann eben nicht.

 

Ein Buch zu Ende lesen - das nicht oder nicht sicher zu Ende geschrieben worden ist. Ist das möglich und wenn ja - wie?

 

Wir könnten die obige Frage auch negativ beantworten - weil die beiden Stellen eben unterschiedlichen Kontexten angehören oder dergleichen.

 

Einen Text zu Ende lesen, der nicht zu Ende geschrieben worden ist - im 4. Jahrhundert, nachdem er im selben 4. Jahrhundert wohl doch irgendwie zu Ende gesprochen worden sein dürfte. Einen Text, der im 1. Jahrhundert redigiert worden ist, aber offensichtlich so unvollendet.

 

Der Text hat irgendwie drei Jahrhunderte zu seiner „Entstehung“ gebraucht. Dazu sind dann noch ungefähr zweiundzwanzig Jahrhunderte mit Lesen,Kommentieren, Übersetzen, Bewundern, Vergessen, Verabscheuen und und und dazugekommen.

 

In seinem Text äußert sich Aristoteles nur selten zu den Umständen oder Modalitäten seiner Textproduktion, die zunächst wohl als mündlicher Vortrag vor Zuhörern stattgefunden hat. Im Buch II erklärt er dazu, der Vortragende sollte sich überlegen, ob er seinen Stoff so oder so darbieten soll. Er deutet an, daß der Vortrag besser oder schlechter ausfallen kann - womit er seine eigene Kritisierbarkeit in den Raum stellt. 

 

Nach der erwähnten Passage im Buch XIV geht er zur Diskussion seiner These und zur Kritik gegenteiliger Ansichten über - die hauptsächlich pythagoreischer und platonischer Herkunft zu sein scheinen und die, wie er behauptet, zu so absurden Folgerungen führen, daß das Schlechte mit dem Guten letzten Endes in eins fallen muß.

Der theoretische Faden seiner Polemik besteht - wie schon seit dem Beginn des Buch XIII! - in der Frage nach dem ontologischen Status der mathematischen Gegenstände - Zahlen und geometrische Größen. 

 

Zuletzt die Frage, wie die Zahl „aus“ den Prinzipien hervorgehe. Etwa durch Mischung?

 

Nein, nicht durch Mischung. Es gibt auch andere Weisen der Zusammensetzung. Das Wort „ja“ ist aus den beiden Buchstaben

 

 

          J               A

 

zusammengesetzt. Wäre es eine Mischung aus den beiden Buchstaben, dann wäre es egal, welcher Buchstabe am Anfang steht oder ob die beiden über- und untereinander stehen oder liegen oder schräg lehnen oder ineinander verkrallt sind. Das Wort „ja“, so klein es ist und anscheinend fast bedeutungslos, so muß es doch seine beiden Elemente als unterschiedene bewahren und richtig positionieren.

   

Auf die richtige thesis, Position der beiden kommt es an.

 

Das ist jetzt nur eine Analogie, aber eine gute, weil anschauliche, für das Zustandekommen der Zahl aus dem Einen und der Menge, die als unterschiedene Größen gedacht werden - von dem „Denkenden“.

 

Damit benennt Aristoteles nicht nur sich selber, sondern jedwede(n), der oder die wirklich denkt (nicht unbedingt wahrsprechend aber immerhin ernsthaft) - im Unterschied zu denjenigen, die leichtfertig oder hartnäckig unsinnige Behauptungen aufstellen oder absurde Schlussfolgerungen nahelegen, die sie dann nicht einmal auszusprechen wagen. Die erwähnt oder referiert oder beschimpft er öfter mit oder ohne deutliche Zuordnungen.

 

Mit „dem Denkenden“ meint er auch den Hörer (oder Leser), den er sich wünscht, nämlich denjenigen, der mitdenkt. Das heißt auch: Aristoteles „wertet“!  

 

Der Leser, den Aristoteles sich wünscht, ist nicht derjenige, der, wenn er im Buch XIV liest, schon wieder alles vergessen hat, was er im Buch XII - womöglich auch im Buch IV - gelesen hat.

 

Alles sorgfältig vergessen - das mag irgendeiner Weisheitslehre entsprechen. Ich weiß nicht genau, welcher.

 

Der Ausdruck „der Denkende“ ist mir hier aufgefallen, weil er ungefähr zum ersten Mal hier vorkommt. Aber eigentlich jederzeit vorausgesetzt, aufgerufen, eingeladen, angefragt ist. 

 

Zum denkenden Lesen gehört, daß man aufmerksamer wird, wenn im Text etwas auffällt.

Und weil mir das aufgefallen ist, rede ich davon. Wovon soll ich sonst reden - als Aristoteles-Leser?

 

Als Leser sollte man zum Gelesenen auch etwas sagen können, vielleicht schreiben können. Und zwar in der eigenen Muttersprache - und nicht etwa bloß die griechischen Wörter griechisch nachsprechen.

Der „Denkende", der noon (mit weichem Akzent auf dem zweiten, dem langen o), ist mit einigen Wörtern, die wir hoffentlich noch nicht vergessen haben, etymologisch und semantisch ganz eng verwandt: mit dem nous, das ist der spezifisch menschliche Seelenteil, und mit der noesis noeseos, das ist ein Attribut des „Prinzips“, desselben (Buch XII).

 

Denkend wird der Mensch genannt, der den noetischen Seelenteil nicht vergißt und vernachlässigt, sondern aktiviert.

 

Weil wir uns dem Ende des Buches Metaphysik nähern, müssen wir auf den letzten Leseseiten die Aufmerksamkeit erhöhen, die Erinnerungen wachrufen, das Wissen aktivieren – jetzt fällt die Entscheidung, ob die dreizehn oder wieviele Lesejahre nur ein komischer Zeitvertreib gewesen sind oder eine langwierige philosophische Tätigkeit, eine Leistung.

 

Wer jetzt diese Anspannung verweigert, der bekommt von Aristoteles den Titel νοων nicht zugesprochen. Ein schöner kleiner Titel, wenn man ihn mit griechischen Buchstaben schreibt- womöglich auch mit Zirkumflex auf dem Omega. 

 

 

Walter Seitter



[1] Siehe Walter Seitter: Aristoteles betrachten und besprechen (Metaphysik I-VI) (Freiburg-München 2018): 43.