τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 8. Dezember 2023

In der Metaphysik lesen (1092a 29 - 1092b 27)

8. Dezember 2023

 

In diesem Jahr ist ein Buch, das Michel Foucault im Jahr 1966 geschrieben hat, zum ersten Mal publiziert worden und seine Existenz ist überhaupt zum ersten Mal bekannt geworden: Le discours philosophique (Paris 2023).

 

Er hat im Jahr 1966 das fertige Manuskript schlicht und einfach in eine Schublade gesteckt und niemandem etwas davon verraten. Bis zu seinem Tod im Jahr 1984 dürfte nur er davon gewußt haben.

 

Erst mit der Bearbeitung des Nachlasses ist jetzt das Buch Der philosophische Diskurs ans Licht der Welt gekommen.

 

Inhaltlich gesehen ist es das erste der bisher bekannten Bücher Foucaults, das explizit die Philosophie - als Tätigkeitsform - artikuliert.

 

Nach dieser kleinen Sonderoperation ist er wieder zu seiner geläufigen Themenlinie zurückgekehrt: zu den Humanwissenschaften der europäischen Neuzeit mitsamt den zugrundeliegenden oder folgerichtigen Humantechniken der Moderne. Deren Problematik hat ihn Ende der Siebzigerjahre thematisch um zweitausend Jahre zurückgeworfen: in die klassische und späte und frühchristliche Antike, wo er ansatzweise Antworten auf seine ethischen Fragestellungen fand.

 

Eine gewisse und sehr weit entfernte Parallele zu unserer Metaphysik-Lektüre könnte man darin sehen, daß auch der aristotelischen Metaphysik eine lange Latenzperiode beschieden war, die vom Tod des Aristoteles bis zur zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor Christus gedauert hat - also drei Jahrhunderte. Wo und wie in dieser Zeit die aristotelischen Manuskripte oder dergleichen existiert haben, scheint unbekannt zu sein. Es scheint aber festzustehen, daß Andronikos von Rhodos, dessen Lebensdaten ungewiss sind, die Zusammenstellung und Edition der uns heute bekannten Schriften des Aristoteles besorgt hat.

 

Legenden wie diejenigen, daß da „die Araber“ schon tätig gewesen seien, sind auszuscheiden.

 

Zur Frage, was in der langen Zwischenzeit vom vierten bis zum ersten Jahrhundert ausschlaggebend dafür gewesen sein könnte, daß die Vorlesungen, die der ja bekannt gebliebene Aristoteles zu Lebzeiten gehalten hatte, so spät in Buchform gebracht worden sind, liefert Foucault ausgerechnet in besagtem „neuem“ Buch, einen Hinweis. 

 

Er spricht davon, daß es nach dem Aufbruch der griechischen Kultur seit dem 8. Jahrhundert eine „zweite Mutation“ in der Organisation des Wissens gegeben habe, die eng mit der Anfang des 3. Jahrhunderts errichteten Bibliothek von Alexandria zusammenhänge, wo „sich nicht die griechische Diskurs- und Archivmodalität“ behauptet habe, vielmehr sei mit der Konfrontation der griechischen, ägyptischen, hebräischen, bald auch römischen Kultur ein neuer Diskurs- und Archivtyp entstanden.“ (231). Das Neue liege darin, daß verschiedene Sprachen, Texte, Schriften, Manuskripte, Notierung- und Registrierungssysteme versammelt, verglichen, abgeschrieben und übersetzt worden seien; es wurden Massen von Diskursen wie globale Kulturtatsachen mobilisiert und reorganisiert; man könne das „Synkretismus“ nennen - es handelt sich um eine Organisationsform, die für das Abendland hinfort maßgeblich sein wird und - bekanntlich - auch ganz neue Techniken hervorrufen wird.

 

Sowohl die spätantike Aristoteles-Ausgabe wie auch die gesamte nachfolgende Lawine von Kommentaren, Übersetzungen und so weiter gehören dazu. Zum Beispiel der hauptsächlich kosmologische Synkretismus des Hermann von Kärnten, für den Aristoteles nur eine ferne Autorität gewesen ist, in Bezug auf die Grundbegriffe aber eine wichtige.

 

 

Unsere hiesige Aristoteles-Lektüre steht unvermeidlicherweise auch in dieser alexandrinischen Tradition. Da wir eine philosophische, das heißt auch sachbezogene Lektüre anstreben, wäre es sinnvoll gewesen, die Metaphysik-Lektüre durch eine partielle, darauf zugeschnittene Physik-Lektüre zu untermauern und zu ergänzen.

 

Mit der Vorschaltung der Poetik ist eine ganz anders ausgerichtete Wissenschaft und auch Artikulierungsweise dazugenommen worden.

 

Insgesamt eine andere Lesekonstellation, die ich damit ausgebaut habe, daß ich von 2021 bis 2023 zwei andere Parallellektüren vorgenommen und protokolliert habe.

 

 

Michel Serres: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce (Paris 1978)

 

Francis Ponge: Le soleil/Die Sonne (Berlin 2020)

 

 

Das erstgenannte Buch liefert eine philosophisch ambitionierte Physikgeschichte, welche eine in der Antike parallel zur aristotelischen Physik ausgearbeitete, nämlich die epikureisch-atomistische Physik in der Form des Poems De rerum natura, vorstellt. Die Konstellierung zweier unterschiedlicher Physiken wirft natürlich die Frage nach der Wahl, nach der Entscheidung zwischen wissenschaftlichen Paradigmen auf. Michel Serres überkreuzt diese Frage mit der andersgearteten Frage nach der Wahl zwischen ethischen, politischen Ausrichtungen innerhalb der Physik. Denn auch die theoretischen Wissenschaften sind Praktiken. 

 

Das zweitgenannte Buch stellt ein lang auseinander gezogenes Poem dar, dessen Hauptobjekt, die Sonne, sehr geeignet ist, uns einzuleuchten, aber auch Fragen zu stellen.

 

Dazu kam dann noch die Lektüre der mittelalterlichen Kosmologie De essentiis von Hermann von Kärnten.

 

Die Ordnung der Lektüren von 2007 bis 2024 kann also mit dieser winzigen, dennoch „alexandrinischen“ Autorenliste namhaft gemacht werden:

 

 

Aristoteles    Lukrez       Hermann    Ponge       Serres

 

Protokollschreiber:  

 

Seitter       Bruckschwaiger

 

 

*

 

 

In der Erörterung der Frage, welche Seinsweisen den Zahlen zugeschrieben werden könne und welche Entstehungen mit ihnen zu verbinden seien, setzt Aristoteles Begriffe wie „Prinzip“, „Element“, „Mischung“, „Zusammensetzung“, „Lage“ ein.

 

Und „aus etwas sein“. Dieser Begriff - er sieht nicht aus wie ein ordentlicher Begriff - ist schon im Buch V, dem sogenannten Begriffslexikon der Metaphysik, besprochen worden:

 

aus einem Material sein - zu allererst aus Schmelzbarem; von einem Vorgang angeregt worden sein; teilweise auch von Vater und Mutter abstammen; aus der Erde hervorgegangen sein; sagt man: die Nacht entsteht aus dem Tag, so bedeutet das nur: nach dem Tag.

 

Hier hingegen nur eine Distinktion: aus etwas sein, das in ihm enthalten ist - oder nicht.

 

Davon ausgehend die Frage, wie die Zahl aus etwas sein kann. Wie aus einem Samen, aus einem Unzerlegbaren, aus einem Element wie aus einem Gegenteil - einem erhalten bleibenden oder aus einem zugrundegehenden? Solche Fragen werden weitergespielt, ohne daß man zu einer Schlussfolgerung kommt.

 

Dann die umgekehrte Fragestellung: wie die Zahlen Ursachen der Wesen und des Seins sind - eher wie die Grenzen oder eher wie die von dem Pythagoreer Eurytos jedem Wesen zugeordneten Zahlen?

 

Und eingeschoben eine winzige Bemerkung in Frageform: „Wie aber sollen die Empfindungen Zahlen sein: das Weiße, das Süße und das Warme?“ (1092b 16)

 

Die drei Eigenschaften zeigen, was mit den Empfindungen gemeint ist: wahrnehmbare Eigenschaften von Körpern. Nur Akzidenzien. Akzidenzien von Wesen, die Körper sind, vergängliche, veränderbare und wahrnehmbare. Auch ihre Wahrnehmbarkeit ist vergänglich und veränderbar. Und die Wissenschaft von all dem ist die Physik. Die aristotelische und wohl nicht nur die aristotelische. Die Physik ist eine Naturwissenschaft, deren Reichweite auch ein bißchen über die Natur hinausgeht, weil die kulturellen Produktionen sich an die Natur anlehnen. Beispiele: ein weißes Blatt Papier, ein süßer Kaffee, eine warme Heizung. 

 

Dieser schlichte Fragesatz tut nichts Geringeres als den Duktus dieser beiden Bücher XIII und XIV, der ungeschickt, hin und her schwankend, langweilig und kaum lesbar ist, resümieren.

 

Diese beiden Bücher, über die man sich fragen kann, warum sie da nach der Theologie von Buch XII, angehängt sind - ich weiß auch nicht warum.

 

Aber als aktiver Aristoteles-Leser (den er einen denkenden) nennen würde, sage ich: hier liegt eine Apologie der Physik vor, eine Apologie, die die Wissenschaft von den Körpern, von den gewöhnlichen und den weniger gewöhnlichen, verteidigt. In diesem Fall gegen eine Art Metamathematik, die die Körper wegreden möchte und sie durch etwas angeblich Besseres, Reineres, Höheres erklären, ersetzen will.

 

So eine Apologie könnte auch unter das antike Motto sozein ta phainomena - die Erscheinungen retten! gestellt werden. Hier ist sie so ungeschickt formuliert, daß es einen aktiven Leser braucht, der sie ins Deutsche übersetzt.

 

Aristoteles weist jede enge Verbindung von bestimmten Zahlen mit Wesensbestimmungen zurück - sie verhalten sich zueinander wie Stoff und Form. In den Proportionen verlieren die Zahlen ihren bloßen Zahlencharakter - es gehe um Proportionen von Körpern oder dergleichen.

 

 

Aristoteles insistiert darauf, daß man die Physik nicht auf Mathematik reduzieren kann. Soweit die Hauptstoßrichtung seiner Zahlenerörterungen - mit der er auch in der von Michel Serres berührten Diskussion eine bestimmte Position einnimmt. 

 

Die Zahl kann keine der vier Ursachen sein: weder Wirkursache (hier genauer Urheber durch „gemacht haben“ - wie „derjenige, der es getan hat“ !) noch Stoff noch Begriff und Form der Dinge. Und auch nicht - oder erst recht nicht! - als Weswegen.

 

Mit dieser strikt negierten formalistisch-syntaktischen Ursachangabe leitet Aristoteles über zu einer Aporienvermutung - die ein „gut“ (ein adverbiales!) doch wieder ins Gestrüpp von Zahlenspekulationen wirft.

 

Man könnte allerdings unschlüssig sein, was das „gut“ eigentlich sei, das von den Zahlen dadurch herauskommen soll, daß die Mischung in einer Zahl stattfinde, entweder in einer gut proportionierten oder in einer ungeraden . . . 

 

 

Walter Seitter

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