τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 21. Januar 2024

In der Metaphysik lesen (1092b 27 – 1093b 6)

17. Jänner 2024

 

 

Der letzte Satz des zuvor gelesenen Abschnitts umreißt eine Hauptrichtung der Bücher XIII und XIV:

 

„Die Zahl nun . . . . ist weder die bewirkende Ursache noch Stoff, noch Begriff und Form der Dinge. Die Zahl ist aber auch nicht Ursache im Sinne des Weswegen.“ 1092b 25f.

 

Das Weswegen ist etwas, wegen dessen man etwas tut: Ziel- oder Zweckursache. Also etwas, was „gut“ ist.

 

Heute früh beim Einkaufen belief sich meine Rechnung auf 7.77 € - und ich sagte: so viele Sieben! Die Kassierin zu mir: die Sieben bringen Glück! Sie meinte damit die Zahl selber und ich akzeptierte diese Aussage – mehr oder weniger im Sinn eines Aberglaubens.

 

Die konkrete Zahl war mir nicht unympathisch, weil sie einstellig war, meine Zahlschuld also relativ gering. Was wiederum voraussetzt, daß ein Euro für mich, wie wohl für jedermann, eine Art Gut ist - und die Zahl, die man sich dazu wünscht besser eine hohe ist, sofern sie auf der Habenseite verbucht wird.

 

Aristoteles verknüpft mit den Zahlen ein anderes konkretes Beispiel, eines aus dem Gebiet der Heilmittel oder Getränke, und ein komplizierteres, nämlich das Mischungsverhältnis zwischen Honig und Wasser. Ein zahlenmäßig definiertes Mischungsverhältnis kann nur dann als gut oder gesundheitsfördernd betrachtet werden, wenn die Mischungsstoffe Honig und Wasser berücksichtigt werden. Das Mischungsverhältnis drei zu eins an sich besagt nichts über die Qualität einer Mischung.

 

Aristoteles greift wieder auf die Lehre des pythagoreischen Philosophen Eurytos zurück, der bestimmte Wesen mit bestimmten Zahlen verknüpfte: Zahlen als Formursachen. Damit würden bestimmte Konstellationen, in denen die Siebenzahl eine Rolle spielt, ein und demselben Wesen angehören: etwa die sieben Vokale, die sieben Helden oder die sieben Tore von Theben, die sieben Sterne der Plejaden einem Wesen angehören. Obwohl doch offensichtlich ist, daß sie sehr unterschiedlichen Wesens sind. Die einzige Gattungsform, in die sie allesamt eingerückt werden könnten, wäre die Gattung der Körper – aber in die gehört ohnehin alles, was der physischen Welt angehört.

 

Wenn man das aristotelische Postulat, der Leser seiner Schrift sollte ein Aktiv-Denkender, ein Suchend-Denkender sein, einer, der den Mut hat, sich seines Verstandes zu bedienen, ernst nimmt, dann könnte man in diesem 21. Jahrhundert nach Christus auch daran denken, daß die moderne Naturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich sehr strikte Beziehungen zwischen bestimmten Körperwesen und bestimmten Zahlen festlegt.

 

Es ist das Periodensystem der chemischen Elemente, welche die Grundstoffe der chemischen Reaktionen sind. Alle Atome eines Elements (z.B. Wasserstoff, Titan, Selen, Blei, Sauerstoff, Radon und so weiter, bis jetzt sind 118 nachgewiesen) haben gleich viele Protonen (also kleinste Teilkörperchen) in ihrem Atomkern (einem schon etwas größeren Teilkörperchen). Diese „Ordnungszahl“ nimmt also die Stelle einer Formursache ein – aber auch nicht als Zahl an sich, sondern als Anzahl bestimmter Teilchen innerhalb eines größeren Teilchens. Diese Elemente sind natürlich etwas anderes als die vier oder fünf Elemente der antiken Physiker (die damit nicht abgeschafft sind, wie man etwa aus der Küche oder von Überschwemmungen weiß). Aber sie teilen einige Eigenschaften mit ihnen – es gibt darunter Feststoffe und Flüssigkeiten und Gase. Einige von ihnen sind künstlicher Natur.  

 

Obwohl in den Büchern XIII und XIV der kritische, ja polemische Ton vorherrscht, würde ich meinen, daß der Hauptduktus ein positiver, ein affirmativer ist: es geht um eine "Apologie der Physik“ - für ihn die erste Wissenschaft (in der kurzen Reihe der theoretischen Wissenschaften): nämlich die Wissenschaft von den wahrnehmbaren, veränderlichen und vergänglichen Körpern (und deren Akzidenzien).

 

Positiv nenne ich diese Ausführungen auch deswegen, weil sie mehr zufällig als systematisch, eher überraschend, bestimmte Gegenstände der Physik begrifflich umreißen: "zweierlei Weiß" (was er genau damit meint, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich daran, daß der weiße Stoff par excellence, der Schnee in einer sonnigen Winterlandschaft zwei Weiß-Nuancen annimmt: das sonnige und das bläuliche Weiß), „oder viele Farben, Flüssigkeiten und Figuren“ (wenn man Aristoteles-Leser ist, muß man nicht Aristoteliker sein; daher kann Sophia Panteliadou sagen, sie halte die Flüssigkeiten nicht für Körper) (1089b 1); „die Seele und die wahrnehmbaren Körper . . . . die Erscheinungen“ (1090b 19) - wieso die Seele, über die es ja ein eigenes Buch gibt? Weil die Seelen nur in Körpern vorkommen, für die sie die Rolle der Formursachen übernehmen, so daß diese Körper beseelt sind und bessere Körper. Dann „das Weiße, das Süße und das Warme“ (1092b 16).

 

Dann muß noch erwähnt werden, daß Aristoteles sowohl seine theoretischen Widersacher wie auch die gemeinsamen „Gegenstände“ quasi linguistisch charakterisiert: seine Widersacher durch ihren „großen Logos“, ihre großen Worte, ihre Großsprecherei, ja ihre starken Sprüche. Was er damit meint, sagt er äußerst erfinderisch: die Gegenstände, nämlich die Elemente, und da unterscheidet er "das große und das kleine“, „schreien“ (im Englischen heißt cry sowohl schreien wie auch weinen), weil sie von der Großsprecherei der Zahlenfetischisten zwischen den Zahlen hin her gezerrt und gerissen werden. Vergewaltigung der Natur durch Theorie.

 

Die pythagoreisch-platonische Großsprecherei der Schulkollegen des Aristoteles und seine Polemik gegen sie - das ist ein aus nächster Nähe geschilderter erkenntnispolitischer Streit innerhalb einer Gruppe von Kollegen und womöglich von Freunden, wo sich Weichenstellungen abzeichnen, die in späteren Zeiten durchschlagend werden.  

 

Für den Moment würde ich hier davon sprechen, daß solche, die sich für Philosophen halten, sich über solche, die nur Phänomene benennen und beschreiben, erheben und damit auch über die Phänomene. Und als deren Anwalt erfindet Aristoteles den Anschein, als würden jene, auch die kleinen, schreien und weinen.  

 

 

Da wird er plötzlich zum Dichter in Sachen der Erkenntnispolitik - einer heute sehr aktuellen Angelegenheit.

 

 

 

 

Aristoteles ergänzt seine gelegentlich abstrusen Exemplifikationen mit sehr naheliegenden Hinweisen auf das Feld, in dem er sich gerade aktuell und aktiv aufhält: als Schreibender, der mit Buchstaben Laute aufs Papier oder Pergament hinsetzt und zwar Laute, die von den Menschen im Mund, und zwar an drei Stellen erzeugt werden.

 

Dabei interessiert er sich jetzt nur für die Konsonanten, die sich auch miteinander verbinden können, wobei manche dieser Verbindungen mit einer Konsonanz geschrieben werden, etwa mit X, andere mit zwei Konsonanten, etwa GR.

 

Aristoteles warnt davor, diese halb natürlichen, halb künstlichen Tatbestände mit allzuviel Spekulation aufzuladen. Aber er weist auf sie hin: sie gehören zu den intimsten physischen Tatsachen. Eher Mikrophysik als Metaphysik.

 

Walter Seitter

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